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[Bd. 5 S. 489]
Carl Weyprecht und Julius Payer, 1838-1881 bzw. 1842-1915, von Johannes Georgi

Carl Weyprecht.
[472b]      Carl Weyprecht.
Photo, um 1872.

[Bildquelle: Österreichische Lichtbildstelle, Wien.]
Wenn Lebensbeschreibungen nicht nur "interessant", sondern für die Nachwelt fruchtbar sein sollen, müssen sie neben den einmaligen und vergänglichen Einzelzügen die allgemeinen Kräfte aufzeigen, die sich in den dargestellten Menschen zu weithin sichtbarer Höhe entfaltet haben, die aber in Herkunft und Auswirkung dem ganzen Volk oder Stamm angehören und in dessen Erbgut weiter überliefert werden. Diese Aufgabe mag in vollem Umfange lösbar sein für Gestalten, die im öffentlichen Leben Entscheidendes geleistet haben, deren Lebenswerk und ‑äußerungen in der Überlieferung festliegen. Sie ist aber sehr schwer bei Männern, die – gerade in der Polarforschung – sich in wenigen Jahren aus dem Unbekannten zu Weltberühmtheit erheben, um nach Durchführung ihrer Aufgabe wieder in den Schatten des Privatlebens zurückzutreten. Die beiden Fragen "Wie ist dieser Mann zur Polarforschung gekommen?" und "Wie hat er seine arktischen Erfahrungen, ja sein Leben weiterhin in den Dienst dieser Idee gestellt?" eröffnen uns tiefere seelische und zeitgeschichtliche Einblicke als die noch so liebevolle Ausmalung der Expeditionserlebnisse selbst.

Wir haben wenige deutsche Polarforscher ganz großen Formates gehabt, und in Wechselwirkung damit ist auch Deutschland seltener als die nordisch-angelsächsische Welt durch den Ruf des Nordens erregt und zur Mitwirkung weiter Volkskreise begeistert worden. Es ist ein besonderes Glück, daß gleichzeitig zwei deutsche Polarforscher von Rang, Weyprecht und Payer, Mitglieder der Österreichisch-Ungarischen Polarexpedition auf "Tegetthoff" 1872 bis 1874, bei gleicher Tüchtigkeit die möglichst verschiedenen Erscheinungen des Polarforschers darstellen: die heutige, geophysikalisch eingestellte und die ältere, vorwiegend geographisch entdeckende Richtung.


Als Landsmann von Liebig und Gervinus wurde Carl Weyprecht in Darmstadt am 8. September 1838 geboren, wuchs aber in dem Städtchen König im Odenwald auf, wohin sein Vater, vormals großherzoglicher Hofgerichtsadvokat, als Erbach-Schönberger Güterdirektor übersiedelt war. Im Elternhaus herrschte reges geistiges Leben. Der Knabe, dritter Sohn, wird als lebhaft, freundlich und aufgeweckt geschildert. Sein späterer Freund, k. k. Seeinspektor in Fiume Heinrich von Littrow, Bruder des bekannten Wiener Astronomen, berichtet: "Bei seiner lebhaften Phantasie und seiner Kaltblütigkeit, die vor nichts zurück- [490] schreckte, erwachte sehr bald die Neigung für das Seewesen, das sich durch entsprechende Lektüre immer mehr entwickelte." So ernst nahm er es mit diesem Beruf, daß er um des besseren Mathematikunterrichtes willen 1853 vom Gymnasium auf die Höhere Gewerbeschule (spätere Oberrealschule) in Darmstadt überging. Um Seeoffizier zu werden, trat er 1856 als Seekadett in die österreichische Kriegsmarine ein; er wurde 1861 Schiffsfähnrich, während er auf die Fregatte "Radetzky" kommandiert war. Ihr Befehlshaber, der spätere Sieger von Lissa, Tegetthoff, wurde auf die besondere wissenschaftliche Begabung und den Charakter Weyprechts aufmerksam, und seinem Eintreten verdankt es Weyprecht wohl, daß er schon seit der ersten Erörterung einer österreichischen Polarexpedition als deren Führer ausersehen wurde. 1863–1865 war er Instruktionsoffizier, später Leiter des ganzen Unterrichts auf dem Schulschiff "Huszar". In der Seeschlacht bei Lissa 1866 zeichnete er sich in einem kritischen Zeitpunkt durch Kaltblütigkeit und Umsicht besonders aus, wofür ihm der Orden der Eisernen Krone mit der Kriegsdekoration verliehen wurde; das damit verbundene Recht auf Erhebung in den erblichen Ritterstand schlug er aus. Astronomie, Meteorologie und Physik beschäftigten ihn in seinen Mußestunden. 1868 wurde er Linienschiffsleutnant (Hauptmann), nachdem er 1867/1868 auf den zur Verfügung des Kaisers Maximilian in Mexiko stationierten Dampfer "Elisabeth" kommandiert war. Nach der Rückkehr wurde er in die Kommission für die adriatische Küstenaufnahme entsandt und 1870 zur Mitwirkung an einer österreichischen Sonnenfinsternis-Expedition nach Tunis.

Will man die Hinneigung Weyprechts und Payers zur Polarforschung verstehen, so wird man fragen, welche Eindrücke dieser Art in ihrer Jugend auf sie eingewirkt haben. Nun war freilich die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die stolzeste Zeit der arktischen Forschung. Parry drang 1819, 1820 und 1824 weit in die geheimnisvollen Meeresstraßen der kanadischen Inselwelt ein und erreichte 1827 mit Schlitten nördlich von Spitzbergen die für die nächsten fünfzig Jahre höchste Nordbreite 82,7°. James Clark Roß fand 1831 den magnetischen Nordpol, 1838–1843 erforschte er mit den Schiffen "Erebus" und "Terror" beträchtliche Teile der Antarktis. Schließlich ging 1845 (im siebenten Lebensjahr Weyprechts) Sir John Franklin mit den gleichen Schiffen auf die Suche nach der nordwestlichen Durchfahrt. Franklin mit seinen hundertsiebenunddreißig Mann wurde ein Opfer von Hunger und Kälte. Aber die jahrelange Ungewißheit über sein Schicksal veranlaßte eine große Zahl von Suchexpeditionen, die trotz der traurigen Veranlassung die Kenntnis der Polarländer außerordentlich bereicherten und zur glanzvollsten Epoche der englischen Polarforschung wurden. Diese Berichte mögen auch ihren Weg in Weyprechts Elternhaus gefunden haben. Man kann verstehen, daß ein Knabe, der ohnehin von Seefahrt und Heldentaten träumte, die Berichte eines McClintock, Dr. John Rae, McClure, Inglefield, Belcher, Bellot verschlungen haben wird.

[491] Aber mag auch auf diese Weise eine vorhandene Veranlagung geweckt sein – es bedarf zu ihrer Auslösung meist auch einer persönlichen starken Einwirkung, die die Hemmungen von Erziehung und Berufsleben überwinden läßt. Der Mann, der den beiden jungen Männern Weyprecht und Payer diesen letzten Anstoß gab und ohne den es damals kaum eine deutsche Polarforschung gegeben hätte, war der berühmte deutsche Kartograph und Geograph August Petermann. Er lebte seit 1845 in England, trug den Ehrentitel eines Geographen der englischen Krone und wurde bei der Planung der Suchexpeditionen nach Franklin beratend hinzugezogen. Schon damals wies er als günstige Eingangspforte in das Polargebiet auf die Gegend zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja hin, wo später 1871 und 1872–1874 Weyprecht die Durchfahrt zu erzwingen versuchte, im Gegensatz zu der damaligen englischen Polarforschung, die den Zugang zu dem allgemein als schiffbar angenommenen Polarmeer durch den Smith-Sund im Westen Grönlands suchte.

Die Geburtsstunde einer deutschen Polarforschung war der 23. Juli 1865, als Petermann, nun Leiter der weltberühmten Geographischen Anstalt von Perthes in Gotha, vor dem Deutschen Geographentag in Frankfurt am Main die Ergebnisse seiner Forschungen vortrug, wonach der Golfstrom weit in das Barentsmeer, ja wahrscheinlich in das eigentliche Polarmeer eindringt. Deshalb hielt er die Annahme einer leichteren Zugänglichkeit der inneren Arktis zu Schiff in der Gegend von Nowaja Semlja für berechtigt.

Weyprecht kam gelegentlich dieses Vortrages mit Petermann in Frankfurt zusammen. Im März 1866 bot Weyprecht Petermann an, auf eigene Kosten mit dreitausend Gulden eine Expedition auszurüsten für eine fünfmonatige Forschungsreise nach Spitzbergen und in das Meer zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja auf einem nur mit vier Matrosen bemannten kleinen Fahrzeug von Hammerfest aus. Dieses Unternehmen wurde zunächst durch den Deutsch-Österreichischen Krieg vereitelt, dann durch die schwere Malaria, die sich Weyprecht 1868 in Mexiko geholt hatte. Ohne Kenntnis dieser Erkrankung war er von Petermann bereits als Leiter der Ersten Deutschen Nordpolarexpedition 1868 ins Auge gefaßt worden. Dieser Plan wurde erst 1871 in der Vorexpedition mit "Isbjörn" zur Ausführung gebracht. Trotzdem bleibt Weyprechts erster, früher Plan ein Ruhmesblatt für den jungen Forscher wie ein Beweis für die mitreißende Kraft Petermanns, der mit Recht den Namen "Vater der deutschen Polarforschung" trägt.

Daß die Hinwendung zur Polarforschung bei Weyprecht keine Laune, sondern eine für sein ganzes Leben mit allen Folgen getroffene Entscheidung war, zeigt der, wenn auch vergebliche Versuch im Jahre 1870, seinen früheren Plan gemeinsam mit Dr. E. Bessels aus Heidelberg zu verwirklichen. In diesem Jahre wurde Weyprecht mit dem k. k. Oberleutnant Julius Payer bekannt, der soeben von der Zweiten Deutschen Nordpolarexpedition 1869/1870 nach [492] Nordostgrönland unter Koldewey zurückgekehrt war und der ebenfalls bereits mit Petermann in Verbindung stand und weitere Polarreisen plante. Der mit Weyprecht befreundete Graf Wilczek stellte als Grundstock einer österreichischen Nordpol-Expedition vierzigtausend Gulden zur Verfügung. Petermann veröffentlichte einen begeisternden Aufruf, und mit Hilfe anderer österreichischer Mäzene sowie durch Sammlungen in Österreich und Deutschland wurde die benötigte Summe von zweihunderttausend Gulden zusammengebracht.

Ein starker Beweis für die Gewissenhaftigkeit und den sittlichen Ernst, womit Weyprecht seine Aufgabe als Leiter einer großen Arktis-Expedition auffaßte, war, daß er es für nötig hielt, mit einem kleinen Teile der von Wilczek und Petermann beschafften Gelder zusammen mit Payer 1871 eine Vorexpedition in den als Einbruchstelle vorgesehenen Teil des Polarmeeres zu unternehmen. Auf einem norwegischen, mit Norwegern bemannten Kutter "Isbjörn" wurde, durch ungünstige Eisverhältnisse sehr behindert, in der Umgegend von Spitzbergen und weiter östlich erkundet und auf 42° Ost erstmalig in diesem Meeresteil die hohe nördliche Breite von 78,7° erreicht. Hier beobachtete man mancherlei Anzeichen von Land, die vielleicht schon auf das bei der Hauptexpedition entdeckte Franz-Josephs-Land hindeuteten. Das bis 78° Nord hier durchweg eisfreie Meer schien die Wahl dieser Gegend zum Eindringen in die Arktis durch die Hauptexpedition zu rechtfertigen.

Das volkstümliche Ziel der Unternehmung war natürlich das Vordringen gegen den Nordpol. Weyprecht selbst, gestützt auf Petermanns und eigene Studien über den Verlauf des Golfstromes und die Einwirkung der sibirischen Ströme auf die Eisbildung im Polarmeer, hatte indessen in dem wissenschaftlichen Plan der Reise das Vordringen in Richtung der nordöstlichen Durchfahrt in den Vordergrund gestellt. Auch hier ist wieder menschlich bemerkenswert, daß ihm schon Jahre vorher diese nach außen nicht so glänzende, aber bedeutsamere Aufgabe klar vor Auge stand. Littrow berichtet, wahrscheinlich aus dem Jahre 1866: "Schon damals schwärmte er nur für die nordöstliche Passage von Norwegen über das Sibirische Meer nach der Beringstraße. Schon damals hielt er fest an der Idee des Einflusses der großen Flüsse Ob, Jenissei, Lena, Indigirka auf die Luft- und Wassertemperatur jener unwirtlichen Gegenden und träumte nur vom Kap Tscheljuskin, auf dessen Erreichung und Umschiffung oft... toastiert wurde."

Karte des Nordpolargebietes.
[493]      Karte des Nordpolargebietes.

Nun war die Bahn frei für Weyprecht als Führer und Schiffskommandant der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition 1872–1874 auf dem neuerbauten Polarschiff "Tegetthoff", einem Segler von 220 t mit Dampfmaschine von 100 PS. Eine Besonderheit in jenen Jahren, als weite Kreise nur die norwegischen Robbenfänger zur Eisfahrt geeignet hielten, ist die von Weyprecht mit triftigen Gründen, aber gegen starken Widerstand mühsam durchgesetzte Verwendung von Matrosen der Adriaküste bei Fiume, die aber durch das Ergebnis [493] gerechtfertigt wurde. Ähnlich verfuhren später der Herzog der Abruzzen 1899 bis 1900 und Nobile 1928. Welchen tiefen Eindruck auf Weyprecht die in seine Jugendzeit fallenden Suchreisen nach Franklin gemacht hatten, erkennen wir noch jetzt daran, daß alle Teilnehmer der Expedition einen Revers unterschrieben, worin sie feierlich auf jede Hilfsexpedition zu ihrer Rettung verzichteten. "Wir haben", so schreibt er einem Freunde, "bei den Franklin-Aufsuchungen erfahren, daß es zu nichts führt, Verschollenen nachzulaufen. Auf solche Hilfe kann man in jenen Gegenden nicht warten."

Der vom Nordende von Nowaja Semlja aus geplante Vorstoß in das Polarmeer mißlang. Schon am 21. August 1872, dem gleichen Tage, an dem man die [494] Küste bei Kap Nassau verlassen hatte, wurde der "Tegetthoff" vom Eise besetzt und wurde wider Erwarten und sonstige Erfahrung auch seitdem nicht wieder frei. Die Trift führte in vierzehn Monaten bis zum neunundsiebzigsten Breitengrad, wo sich das Schiff am 1. November 1873 im Küsteneis des neu entdeckten Franz-Joseph-Landes festlegte. Während der Trift bedrohten fast ununterbrochen schwere Eispressungen das Schiff. Nur dank seinem gerundeten Querschnitt wurde es durch den seitlichen Druck gehoben, während sich die pressenden Schollen unter dem Kiel zusammenschoben und schließlich ein Lager von mehr als neun Meter Mächtigkeit bildeten, worauf das Schiff, über die Meeresoberfläche erhoben, ruhte. Es ist nur gerecht, wenn man feststellt, daß auf diese Weise zum ersten Male eine erfolgreiche Trift durch einen der gefährlichsten Teile des Polarmeeres von mehr als Jahresdauer und etwa tausend Seemeilen wahrer Strecke gelungen ist, gewissermaßen eine Hauptprobe für die spätere Trift Fridtjof Nansens durch das Polarmeer 1893–1896.

Julius Payer und Carl Weyprecht errichten die Flagge auf Franz-Josef-Land.
Julius Payer und Carl Weyprecht errichten die Flagge auf Franz-Josef-Land.
Gemälde von unbekanntem Künstler, 1874.
[Nach austria-forum.org.]
Daß im zweiten Sommer im Norden Land gesichtet wurde – das im dritten Sommer auf Schlittenreisen durch Payer bis 82° Nord erforschte Franz-Joseph-Land –, hat Weyprecht niemals darüber trösten können, daß seine Expedition so bald nach ihrem Beginn im Eise gefangen war. "Das Glück, ein neues Land entdeckt zu haben, wiegt das Mißgeschick nicht auf, willenlos getrieben zu sein." Stolz war er mit Recht darauf, daß während der Eisfahrt ein umfangreiches wissenschaftliches Programm an meteorologischen, ozeanographischen und erdmagnetischen Beobachtungen erledigt wurde, und zwar mit Hilfe der Schiffsoffiziere in zweistündlich Tag und Nacht durchlaufenden Messungsreihen.

Wie bekannt, mußte im Sommer 1874, als sich noch immer keine Möglichkeit zur Befreiung des Schiffes zeigte und der Proviant auf die Neige ging, dieses verlassen werden. Die schweren Boote auf Schlitten mitschleppend, mit den trotz Zurücklassung allen Privatgepäcks und der meisten Sammlungen schweren Lasten über höckeriges Scholleneis und durch tiefen, weichen Schnee ging der mühselige Zug nach Süden. In drei Teilen wurde die Last fortgeschleift, zweimal mußten die Männer den Weg leer zurückgehen, so daß großenteils die zurückgelegte Strecke fünfmal begangen wurde. So langsam kam man vorwärts, daß zeitweise die vom Südwind nach Norden getriebenen Eisfelder rascher rückwärts trifteten, als die Expedition sich vorwärts arbeiten konnte.

Das Verlassen des ‘Tegetthoff'.
[495]      Das Verlassen des "Tegetthoff". Nach einer Zeichnung von Julius Payer.

Der Proviant wurde knapp, das Eis schien kein Ende und die furchtbare Anstrengung keinen Zweck zu haben. Weyprecht war es, der durch die überzeugende Kraft seiner Führerpersönlichkeit seine Kameraden aufrecht hielt. Wie er in dieser Zeit die wenigen Lebensmittel verteilte, wie er beim Schlittenziehen und später, als man glücklich in offenes Wasser des Barentsmeeres gelangt war, beim Rudern mit gutem Beispiel voranging, so konnte er noch unter diesen Umständen von seinen Kameraden bedingungslosen Gehorsam verlangen. Hierauf ist er [495] stolz: "Als wir endlich nach sechsundneunzig Tagen unseren Retter, den russischen Schoner fanden, da kletterten nicht abgemattete, sieche Schiffsbrüchige über die Bordwände, sondern eine abgehärtete, wohldisziplinierte Schiffsbemannung, und von Freudentränen und ähnlichen, nur in der Einbildung sentimentaler Naturen existierenden Ausbrüchen zurückgehaltener Verzweiflung war keine Spur zu bemerken."

Wenn wir schon Weyprechts vierzehnmonatige Trift mit dem auf Eispressungen hin rund gebauten Schiff "Tegetthoff" als eine für die Zukunft wegweisende Tat werteten, so hat ihn der schwere, vierundachtzigtägige Eismarsch auch gezwungen, wie es in unseren Tagen Stefansson nannte, "vom Lande zu leben". Der Proviantvorrat, der mitgenommen werden konnte, setzte erheblichen Zuschuß durch unterwegs geschossene Eisbären und Seehunde voraus. Weyprecht beschreibt sehr drastisch, wie er selbst angesichts seiner Kameraden und mit gewisser Überwindung zum ersten Male rohen Seehundspeck aß, wie aber diese Nahrung bald so beliebt wurde, daß allgemeines Bedauern entstand, wenn später einmal kein Seehund "als Zukost" zur Verfügung stand, und er hat ganz ohne Zweifel recht, wenn er den in Anbetracht der furchtbaren Anstrengungen des Eismarsches sehr guten Gesundheitszustand seiner Kameraden auf diesen für die älteren Expeditionen ungewöhnlich starken Verzehr frischen und rohen Fleisches und Specks zurückführte. Auch hier sehen wir diese Linie von Nansen fortgeführt, der in gleicher Weise seine berühmte Überwinterung auf Franz-Joseph-Land 1895/1896 glücklich überstehen konnte.

[496] Von der Heimreise schrieb Weyprecht an seinen Freund und Helfer von Littrow: "Was mich am meisten drängt, Dir zu schreiben, ist:... Dir bekanntzugeben, wie brav sich die Leute, Offiziere und Mannschaft, während der ganzen Zeit benommen haben... Dies ist in meinen Augen das höchste Lob, das man einer Mannschaft erteilen kann – zugleich aber, ich gestehe es offen, meine Freude, mein Stolz." Admiral Wüllerstorff, der an der Ausarbeitung der meteorologischen Ergebnisse besonderen Anteil hat, berichtet von dem mühevollen Eismarsch vom verlassenen Schiff nach Süden: "Als man die Eisgrenze erreicht und die Schlitten zurückgelassen hatte, nahm er ein Ende der Zugleine als Andenken mit und bewahrte es wie eine Trophäe in seinem Zimmer, um sich in jeder Lage seines Lebens jener harten Tage zu erinnern, wo er an jenem Stricke zog, wo er sich wirklich ob der menschlichen Ohnmacht und des Mangels an Kräften unglücklich fühlte, aber doch auch die Überzeugung gewann, daß Ausdauer und fester Wille viel, wenn nicht alles besiegen können."

Diese männliche Einstellung verließ ihn auch nicht, als ihm klargeworden war, daß die rein geographischen Entdeckungen in den Polarzonen durch die bisherigen Polarreisen mit zu großem Aufwand an Menschenleben und Geldmitteln erkauft seien. Schon von der Heimreise schrieb er, "daß die Polarexpeditionen in den Dienst der physikalischen Forschung treten müßten... Das allein betrachte ich als ein wertvolles Resultat unserer mühevollen Reise". Die notwendige Umstellung der Polarforschung von den vereinzelten und dauernd den Ort wechselnden Forschungsfahrten auf Forschungswarten von wenigstens einjähriger Dauer auf Polarschiffen oder festen Stationen hat er am 18. Januar 1875 in einem öffentlichen Vortrag in Wien näher ausgeführt, schließlich am 18. September 1875 vor der Achtundvierzigsten Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Graz in einem Vortrag von damals gar nicht abzusehender historischer Bedeutung über die "Grundprinzipien der arktischen Forschung" dem Urteil der wissenschaftlichen Welt unterbreitet. Hierdurch und durch eine intensive persönliche Werbearbeit ist Weyprecht der Vater des Internationalen Polarjahres 1882/1883 geworden, woran sich schließlich zwölf Staaten mit vierzehn arktischen Überwinterungsstationen und weiteren vierunddreißig Stationen außerhalb der Arktis beteiligten, und das, als schönstes Denkmal Weyprechts, im Zweiten Internationalen Polarjahr 1932/1933 mit vierundvierzig beteiligten Staaten seine Erneuerung fand.

Weyprecht entfaltete zur Verwirklichung seines schon während der geschilderten Expedition von 1872–1874 gefaßten Planes eine unermüdliche Tätigkeit. Nicht nur gelang es ihm, seine Pläne durch die Internationale Meteorologische Organisation zu Annahme zu bringen, die 1879 eine internationale Polarkommission unter dem Vorsitz von G. Neumayer, dem Direktor der Deutschen Seewarte, einsetzte. Er konnte auch unmittelbar die Zusage einer Beteiligung an seinem Plan von Österreich (wieder unter der Patenschaft des Grafen Wilczek), Dänemark, [497] Norwegen, Schweden, Deutschland und Rußland erhalten. Weyprecht war die Leitung der österreichischen Station, zuerst auf Nowaja Semlja geplant, später auf Jan Mayen verwirklicht, zugedacht. Aber er sollte diese Krönung seiner Lebensarbeit und die über Erwarten großartige Verwirklichung seines Forschungsplanes nicht mehr erleben. Ein Jahr vor dem Beginn des Internationalen Polarjahres, am 29. März 1881, raffte ihn ein altes, seit kurzem rasch fortschreitendes Lungenleiden dahin. Er starb in Michelstadt und ist in König im Odenwald begraben.

Weyprecht wird geschildert als ruhiger, ernster Mensch, von eisernem Willen und Fleiß, aber jederzeit hilfreich und erprobten Freunden gegenüber menschlich aufgeschlossen. Er starb arm, wie er lebte, während er unermüdlich und mit Erfolg bestrebt war, jedem Expeditionsteilnehmer nach der Rückkehr eine Existenz zu gründen. Für das weibliche Geschlecht nicht unempfindlich, blieb er unverheiratet, um seine Arbeitsfreiheit zu bewahren. Bezeichnend für seine Denkungsart ist ein Brief an seinen Freund von Littrow aus der Zeit vor der Expedition, im Februar 1872: "Am 20. bin ich in Fiume (zur Auswahl der an der Expedition teilnehmenden Matrosen). Nur sorge, daß man mir keine Feste bereitet und keinen Lärm macht... Nur keine Demonstrationen, bevor ich etwas geleistet; denn daß ich zweihunderttausend Gulden zusammengebettelt habe, berechtigt mich nur, Ehrenmitglied eines Bettlervereins zu werden. Gelingt alles, komme ich heim, und bringe ich alle jene zurück, die sich so guten Mutes von mir aufs Eis führen lassen, dann wollen wir selbst Demonstrationen in Szene setzen. Aber bis dahin ist es noch weit, darum recht bescheiden..." Und nach der Rückkehr aus der Arktis 1874 "schreckte er förmlich zurück vor den rauschenden Ovationen, die Stadt und Land ihm bereiteten". Er flüchtete sich vor den ihn von allen Seiten aus dem In- und Ausland dargebrachten Ehrungen – von denen er die goldene Medaille der Royal Geographical Society in London am höchsten schätzte – sobald als möglich nach Triest, um dort in Ruhe die Ausarbeitung der wissenschaftlichen Ergebnisse in Angriff zu nehmen. Er selbst konnte die Bearbeitung der astronomischen, erdmagnetischen und ozeanographischen Messungen, der Beobachtungen über Nordlicht und Eisverhältnisse und ‑umformungen fertigstellen. Daneben ging in immer stärkerem Maße die Vorbereitung seiner neuen Forschungsexpedition, des späteren Internationalen Polarjahrs, dessen Programm er, in Ausarbeitung seiner Darlegungen auf der Naturforschertagung in Graz, 1877 als "Programme des traveaux d'une expédition polaire internationale" zusammen mit dem Grafen Wilczek der wissenschaftlichen Welt vorgelegt hatte. Noch die letzte Veröffentlichung, bevor schweres Leiden seiner rastlosen Arbeit ein frühes Ziel setzte, war eine Praktische Anleitung zur Beobachtung der Polarlichter und der magnetischen Erscheinungen im hohen Norden für die Beobachter der künftigen Polarjahrstationen.

Wie Weyprecht sein ganzes Leben unter die Herrschaft strenger wissenschaftlicher Zucht in einer geradezu antiken Größe stellte, kommt unvergleichlich zum Ausdruck in seinen Worten anläßlich des begeisterten Empfangs bei der Rückkehr [498] in Wien: "Man sagt uns, das Vaterland müsse stolz auf uns sein. Ich aber lese diese Worte anders und sage: Wir müssen stolz sein auf unser Vaterland. Ein Empfang von solcher Großartigkeit, woran sich alle Klassen der Bevölkerung beteiligten, entspringt nicht mehr der großen Lust am Abenteuerlichen, nicht mehr dem menschlichen Mitgefühl für die aus dem Grab Wiedererstandenen. Es ist eine Huldigung, der Wissenschaft dargebracht, bei den Gebildeten aus Liebe zu ihr, bei den Ungebildeten aus Achtung dafür."

Durch diese Auffassung der arktischen Forschungsarbeit als wissenschaftlicher Lebensarbeit, durch den offenen Mannesmut, auch die eigenen Fehler rückhaltlos anzuerkennen und dem Schein nichts, dem Sein alles aufzuopfern, hat sich Carl Weyprecht als einer der Klassiker der Polarforschung – der erste deutsche – den schon in den Mythos der Menschheit eingegangenen, vorzüglich englischen Polarhelden der ersten Hälfte seines Jahrhunderts würdig angereiht. Mit dieser Lebensauffassung ist er in die stolze Reihe von Namen eingetreten, die im neuen Jahrhundert ein Nordenskjöld, Nansen, Charcot und Alfred Wegener fortsetzen sollten.


Julius von Payer.
Julius von Payer.
Bildnis als Oberleutnant, aufgenommen von Fritz Luckhardt, ohne Datum, vor 1875.
[Nach wikipedia.org.]
Es ist von besonderem Reiz, neben Weyprecht nun seinen Kameraden Payer zu sehen. Der Vergleich wird um so fruchtbarer sein, als beide durch die gleiche Persönlichkeit für die Polarforschung gewonnen wurden und bis dahin einen in vielem übereinstimmenden Lebenslauf hatten.

Julius Payer wurde am 1. September 1842 in Schönau bei Teplitz geboren. Nach dem Tode seines Vaters, der als Ulanenrittmeister im Feldzuge gegen Italien 1848 fiel, wurde er in die Militärakademie in Wiener Neustadt ausgenommen, wo er sich später selbständig mit geographischen Fragen und Kartographie beschäftigte. 1859 als Offizier in die Armee eingetreten, war er nacheinander in Garnison in Mainz, Frankfurt am Main, Verona, Venedig und Jägerndorf. In Verona begann er, angeregt durch die Nähe der Alpen, sich mit diesen zu beschäftigen. Er war im Österreichischen Alpenverein tätig und bildete sich zum hervorragenden Bergsteiger aus. In Petermanns Geographischen Mitteilungen veröffentlichte er mehrere Abhandlungen über den Großglockner, die Adamellogruppe, die Ortler-Alpen, auch über die Bocca di Brenta. Im Kriege gegen Italien 1866 zeichnete er sich bei Custozza durch Wegnahme einer feindlichen Kanone aus und erhielt das Verdienstkreuz mit der Kriegsdekoration – zur gleichen Zeit, als Weyprecht sich in der Seeschlacht bei Lissa auszeichnete. Payer wurde dem k. k. Militärgeographischen Institut in Wien zugeteilt. 1868 beauftragte der Kriegsminister ihn mit der kartographischen Aufnahme von Teilen der Tiroler Alpen, besonders der Adamellogruppe. Er promovierte zum Dr. phil. und war auch als Lehrer für Geschichte an der Militärakademie tätig.

In seinem Bericht über die Teilnahme an der deutschen Nordpolexpedition 1869 bis 1870 unter Koldewey sagt Payer: "Zufälligkeiten bestimmen das menschliche Leben. Mein militärischer Beruf führte mich 1860 in die Garnison Verona. Drei [499] Jahre lang blickte ich hier vom Flachland aus voll Sehnsucht auf die Alpenkette. Die Erforschung hoher Gebirgsgruppen Tirols schien später mein Lebenszweck geworden. Dieses Streben brachte mich mit dem großen Geographen Dr. Petermann in Verbindung. Er war es, der das kleinere Ziel, das ich mir gesteckt hatte, mit dem größeren vertauschte: an der Lösung der Polarfrage mitzuwirken. Auf seine Veranlassung erfolgte meine Teilnahme an der deutschen Nordpolexpedition."

Wir möchten gerade diese Laufbahn als Beweis dafür ansprechen, daß nicht die Zufälligkeiten das Bestimmende im Leben bilden. Denn wenn sich damals in Verona der achtzehnjährige Offizier nicht schon nach den Alpengipfeln gesehnt hätte, wäre er kaum dazu gelangt, sich als Bergsteiger sowie bei der Aufnahme schwieriger Alpenpartien der schweizer, italienischen und österreichischen Alpen einen Namen zu machen und schließlich hierdurch die Aufmerksamkeit eines August Petermann auf sich zu lenken.

An anderer Stelle berichtet Payer: "Im Jahre 1868" – er hatte schon wiederholt in Petermanns Mitteilungen publiziert und mit ihm selbst in Briefwechsel gestanden – "während der Aufnahme der Ortler-Alpen, drang einst ein Zeitungsblatt mit einer Nachricht von der deutschen Vorexpedition Koldeweys bis zu meinem im Gebirge gelegenen Zelte. Ich hielt den Hirten und Jägern, die meine Begleitung ausmachten, abends beim Feuer einen Vortrag über den Nordpol, von Staunen erfüllt, wie es Menschen geben könne, die weit mehr als andere befähigt seien, die Schrecken der Kälte und Finsternis zu ertragen. Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß ich schon ein Jahr später Teilnehmer einer Nordpolexpedition sein würde."

Des jahrzehntelangen Werbens des Polarvaters Petermann ist bereits gedacht worden. Petermann hielt das damals allgemein als schiffbar angenommene Polarmeer durch den Smith-Sund für unerreichbar. 1868 untersuchte Koldewey die Möglichkeit des Vordringens bei Spitzbergen, wo aber Packeis bei 81° Halt gebot. Nun hoffte man, in dem im Sommer an der grönländischen Küste angenommenen "Landwasser", ähnlich wie im Küstenwasser der sibirischen und amerikanischen Eismeerküste, das Polarmeer, wenn nicht den Pol selbst zu erreichen. Das war die Aufgabe der deutschen Expedition unter Koldewey 1869/70.

[500] Mußten auch dem möglichst raschen Vordringen nach Norden alle anderen Rücksichten untergeordnet werden, so sollte die Nähe der grönländischen Küste auch deren geographische Erkundung, Gletscher- und Bergbesteigungen ermöglichen. Für dieses geographische Sondergebiet im Rahmen des großen Zieles hatte Petermann den ihm von ähnlich schwierigen alpinen Aufgaben rühmlichst bekannten damaligen Oberleutnant Julius Payer vorgesehen.

Man weiß, daß die Expedition das weitgespannte geographische Ziel nicht erreichte, sondern bereits in 74½° in bekannter Gegend bei der Sabine-Insel überwintern mußte, nachdem in 75½° das undurchdringliche Packeis auch an der Küste Halt geboten hatte. So blieb die Erforschung der grönländischen Küste nach Norden und ins Innere hinein den trotz primitiver Ausrüstung mit großer Aufopferung unter Verwendung von Handschlitten ausgeführten Vorstößen überlassen, wobei Payer sich besonders auszeichnete. Unter Führung von Koldewey und Payer erreichte man unter den größten Beschwerden 77° Nordbreite, die sogenannte Dove-Bucht mit dem sich nördlich anschließenden Germania-Land. Payer beschreibt die Empfindungen an einem solchen Umkehrpunkt: "Ein feierlich ernstes Gefühl ergreift selbst den nüchternsten Menschen, wenn sein Fuß einen noch jungfräulichen Boden betritt und sich vor seinen Augen der Anblick einer Welt entrollt, auf der noch niemals – seit Urbeginn aller Zeiten – der Blick eines Europäers geweilt. – Die norddeutsche und die österreichische Flagge wehten im leichten Nordwind in stiller Eintracht nebeneinander. Wir errichteten einen Steinmann, der wohl unverrückt und nie wieder gesehen bis ans Ende der Zeiten stehen wird, und deponierten in demselben eine Dose mit einem kurzen Reisebericht." Trotzdem ist die Schiffahrt nach dem hohen Norden ständig vorgedrungen und hat auch diese Vorhersage zunichte gemacht. Dieser fernste Punkt von Koldewey und Payer vom Frühjahr 1870 wurde der Winterhafen der "Danmark"-Expedition unter Mylius Erichsen 1906–1908, wobei sich Alfred Wegener die Sporen verdiente, war der Ausgangspunkt der Inlandüberquerung von Ejnar Mikkelsen 1910 und der Überwinterung und Durchquerung durch J. P. Koch und Alfred Wegener 1912/13.

In größter Anschaulichkeit hat Payer in dem Expeditionswerk die Erlebnisse dieser schweren Erkundungsreisen dargestellt. Sein blühender, die Einzelheiten an Qual und Freude ausmalender Stil, mag er auch im allgemeinen nicht der Stil des Forschers sein, vermittelt auch dem Mann aus dem Volke eine lebendige Vorstellung der seltsamen Gegenden und Erlebnisse, mehr vielleicht als die bescheiden-stolze Knappheit der Sprache eines Weyprecht. Wenige Schilderungen wird man auch heute noch mit der gleichen Spannung lesen wie gerade Payers Berichte. Wunderbar ersteht die arktische Landschaft mit ihren prächtigen Farben, wenn das abendliche Purpurlicht den Schnee weithin vergoldet, und er ist ebensosehr ein Meister der Sprache wie des Zeichenstiftes.

Seinen Höhepunkt erreicht Payers Schilderung des gewaltigen, von der Expedition entdeckten und zuerst teilweise befahrenen Kaiser-Franz-Joseph- [501] Fjordes, der wegen Versagens der Dampfkraft des Schiffes in seinem hinteren Teil von Payer nur durch Ersteigen eines zweitausendeinhundert Meter hohen Berges erkundet werden konnte. "Weit über hundertmal war es mir bei meinen früheren Arbeiten in den Alpen vergönnt, von mehr als dreitausend bis dreitausendsechshundert Meter hohen Gipfeln aus jene erhabene Pracht ihrer eisigen Hochregion bewundern zu können. Doch welch ein Unterschied! In der umfassenden Fernsicht, welche sich uns nach jeder Himmelsrichtung erschloß, herrschte die Erstarrung des Todes, fast kein Zeichen von Naturleben unterbrach die rauhe Größe des Berglandes. Statt der üppigen Sohlen unserer Alpentäler mit ihren Gehöften und Ortschaften lag hier der dunkle Wasserspiegel des Fjords zweitausendeinhundert Meter tief zu unseren Füßen. Unzählige Eisberge, in der Ferne glänzenden Perlen vergleichbar, schwammen auf dessen Fläche umher, eine furchtbare Wand fiel anscheinend senkrecht in denselben hinab. Von allen Bergstufen, aus jedem Tale senkten sich gigantische Gletscher in die Tiefe der gewaltigen Felsgasse, und von den hohen Eisbarrieren ihrer unteren Enden lösten sich jene prächtigen Eisberge ab, welche Ebbe, Flut und Strömung durch das sundreiche Hochland dem Ozean zuführen. Rings am Horizont strebte eine Alpenwelt mit unzähligen, das Niveau von dreitausend Meter zum Teil überschreitenden Gipfeln empor."

Glücklich heimgekehrt und für seine Leistungen mit dem Orden der Eisernen Krone ausgezeichnet und geadelt, stellte Payer sich Petermann sogleich für eine weitere Expedition zur Verfügung. Diesmal sollte der Angriff in einem völlig unbekannten Gebiet, zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja, gewagt werden. Die Vorexpedition auf "Isbjörn", an der Payer teilnimmt, erkundet diesen Meeresteil und weist der letzten unmittelbar durch Petermann inspirierten Expedition den Weg. Jetzt, bei der Österreichisch-Ungarischen Nordpolexpedition 1872–1874, findet Payer die Gelegenheit seines Lebens: Das vom Eis besetzte Schiff war bei seiner Trift in Sicht neuen Landes, des Franz-Joseph-Landes, gekommen, und in drei Schlittenreisen, deren zweite fast einen Monat dauerte und bis 82,1° Nord führte, konnte er mit von Männern und Hunden gezogenen Schlitten die neue Inselwelt erkunden, mit der sein und seiner Kameraden Namen unauflöslich verbunden sind.

Waren die Grönlandreisen auch schwer genug, so hatte Payer doch ihre Erfahrungen benutzt, um die Ausrüstung und Technik der Reisen erheblich zu verbessern. Fanden wir bei Weyprecht bereits die Errungenschaften, die später Nansens Trift möglich machten, so zeigt die Ausrüstung Payers schon die Hauptzüge der später ebenfalls durch Nansen weltbekannt gewordenen Schi-Schlitten – Kufen bis sieben Zentimeter breit, vorn und hinten aufgebogen, Schlitten fast ganz mit elastischen Bindungen, Segel – und ebenso die Vorstufe des später so berühmten Nansen-Kochers. Das große Expeditionswerk Payers ist überhaupt in seinen Kapiteln über Polarausrüstung, Einwirkung der Kälte, Bärenjagden, Schlittenreisen und deren Ausrüstung, Behandlung der Hunde und anderes mehr [502] eine Fundgrube wertvoller eigener Erfahrungen und historischer Anmerkungen, die noch heute mit Vorteil benutzt werden kann.

Julius Payer.
[499]      Julius Payer.
[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]
Auch Payer wurden nach der Rückkehr überaus zahlreiche Ehrungen zuteil, und man hätte denken sollen, daß diese seinen Drang, aufs neue in die Polarregionen zu reisen, hätten verstärken müssen. Aber es tritt bei ihm, dem erst Zweiunddreißigjährigen, der bisher wie ein junger Gott von Erfolg zu Erfolg eilte, eine seltsame Abkehr ein von allem, was ihm bisher erstrebenswert schien, vom Offiziersberuf, der ihm dank der Großzügigkeit seiner Vorgesetzten ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten gewährt hatte, von der Polarforschung, ja von deren schriftstellerischer Auswertung; und er, der treue Sohn seines Landes, verließ sogar dieses. Wir sind leider nicht über diesen Entschluß wie überhaupt über Payers Innenleben, ja kaum über die äußeren Lebensumstände der folgenden Zeit unterrichtet, außer den Rückschlüssen, die wir aus seinen Büchern und seinen späteren Bildern ziehen können. Der Möglichkeiten für diese Wandlung sind bei einer so sensitiven, künstlerisch begabten Natur viele: Ist es der Einfluß Weyprechts gewesen, wie er aus der Einleitung, das heißt dem spätesten Teil des Expeditionswerkes, spricht, und ist auch er zu der Überzeugung gelangt, daß die zufällige Entdeckung des neuen Landes den Mißerfolg des eigentlichen Planes nicht aufwiege, und hat ihm, dann freilich ganz im Gegensatz zu seinem Kameraden, diese Erkenntnis die Freude an weiteren Entdeckungen geraubt? Hat auch er, trotz der Überfülle der Ehrungen, nach der Rückkehr heimliche Enttäuschungen überwinden müssen? Hat das Schicksal seines väterlichen Freundes Petermann, der 1878 durch eigene Hand starb, auf ihn solchen Eindruck gemacht? Oder ist es das Erwachen des eigentlich schöpferischen Menschen? Wird in ihm, der seinen Zeitgenossen die Wunderwelt Grönlands, die eisigen Einöden des Franz-Joseph-Landes in lebendigen Schilderungen nahebrachte, jetzt der Drang übermächtig, auch das menschliche Erlebnis der Polarforschung als Künstler zu gestalten?

Im Packeis der Arktis.
Im Packeis der Arktis.
Gemälde von Julius Payer, 1874.
[Nach trimaris.blogsport.de.]

Der verlassene Tegetthoff.
Der verlassene Tegetthoff.
Gemälde von Julius Payer, um 1890.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Nach der Rückkehr aus der Arktis nimmt Payer seinen Abschied und lebt in Frankfurt als Privatgelehrter. Hier beginnt er von Grund auf das Studium der Malerei. 1882 übersiedelt er nach München, wo er bei Alexander Wagner arbeitet, später studiert er in Paris. 1884 trifft ihn ein nun besonders schwerer Schlag: der Verlust eines Auges. Aber jetzt kann dies seine eigentliche Berufung nicht mehr in Frage stellen: Nicht als einfache Tatsachenberichte, sondern als Visionen des menschlichen Ringens mit der übergewaltigen Natur des eisigen Nordens stehen seine eigenen Expeditionserlebnisse in großartigen Gemälden vor uns auf, ebenso einzigartig, wie schon früher seine sprachliche Darstellung es war. An die schwerste Zeit, den Rückmarsch über das Treibeis nach Verlassen des "Tegetthoff" 1874, erinnert das große Ölgemälde, das Payer im Auftrage des Kaisers Franz

Nie zurück!
Nie zurück!
Gemälde von Julius Payer, 1892.
[Nach wikipedia.org.]

 
Joseph Mitte der achtziger Jahre, nach Weyprechts Tode, gemalt hat und das im Sitzungssaal der Philosophischen Fakultät der Universität Wien eine ganze Wand einnimmt. [503] Es heißt "Nie zurück" und stellt eine im einzelnen frei erfundene, aber die Stimmung jener Wochen sehr wirksam widerspiegelnde Szene jenes Rückmarsches dar. Vor einem Teil der ermatteten Mannschaft steht Weyprecht, hoch aufgerichtet, entblößten Hauptes, die Bibel in der rechten Hand, also wohl beim sonntäglichen Gottesdienst. Mit der Linken weist er auf die rückwärts in weiter Ferne sichtbaren Höhen der Wilczek-Insel und ermahnt seine Kameraden, trotz aller Schwierigkeiten dieses Marsches nicht zu verzagen. Auch aus dem Kreise dieser Expedition, also aus Selbsterlebtem, gestaltete er als Wandgemälde für das Naturhistorische Museum in Wien: den "Tegetthoff" im Eise; Kaiser-Franz-Joseph-Land; Nordische Mondscheinlandschaft; Kap Tirol.

Die Bucht des Todes.
Die Bucht des Todes.
Gemälde von Julius Payer, 1896.
[Nach trimaris.blogsport.de.]
Dann aber wendet er sich einem bereits historischen Stoff zu, der Franklin-Expedition 1845–1848, und wir finden hier unsere Annahme bestätigt, wie gewaltig auf die Jugend jener Zeit gerade der erschütternde Ausgang dieser mit so großen Hoffnungen und Mitteln ausgezogenen Unternehmung gewirkt hat. Mit seinem Hauptwerk, der "Bai des Todes", die den Untergang der Franklin-Expedition frei nachschaffend darstellt, erringt Payer die große goldene Medaille der Münchener Akademie. Für drei weitere, in Paris ausgestellte Bilder: Franklins Tod; Verlassen der Schiffe; Gottesdienst, erhält er die große goldene Medaille des Pariser Salons. 1897 malt er den "Untergang der Franklin-Expedition", eine größere Wiederholung der "Bai des Todes". Aber der Verlauf seines Lebens in dieser Zeit und später bleibt uns verborgen. Nur noch einmal taucht sein Name fast am Ende seines künstlerischen Schaffens auf in Verbindung mit dem Plan einer neuen Expedition nach Ostgrönland, die besonders künstlerischen Zwecken dienen sollte, aber niemals zustande kam. In dieser Zeit, 1895, nahm Payer an einer Sitzung zur Vorbereitung der deutschen Südpolar-Expedition unter Erich von Drygalski teil, wirkte durch zahlreiche Vorträge in Deutschland und Österreich für ihr Zustandekommen 1901–03 und dachte sogar an eine Beteiligung an Stelle der von ihm geplanten Grönland-Expedition. Er starb während des Weltkrieges unbemerkt, dreiundsiebzig Jahre alt, am 30. August 1915 zu Velde in Oberkrain.

Durften wir Weyprecht einen Klassiker der Polarforschung nennen, so ist Payer deren Romantiker, im edelsten Sinne des Wortes. Vom Glücke begünstigt, schon mit siebenundzwanzig Jahren in Ostgrönland, vorher seit seinem zwanzigsten Jahre in den Alpen mit selbständigen Aufgaben betraut, Erforscher eines vorher ganz unbekannten polaren Archipels und mit allen nur denkbaren Ehrungen überschüttet, konnten die härtesten Erlebnisse seiner Polarreisen seine Sicherheit nicht erschüttern und auch seine künstlerische Bestimmung nicht – etwa durch weitere aktive Teilnahme an Polarreisen – umbiegen. Unbefangener als der schwerblütige Hesse Weyprecht hat Payer von dem Überfluß der Welt an Erlebniswürdigem getrunken und hat den farbigen Abglanz davon in Bild und Wort für andere gestaltet.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz