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[Bd. 5 S. 406]
Max Eyth, 1836-1906, von Walther Kiaulehn

Max Eyth.
[408a]      Max Eyth.
Gemälde von Léon Hornecker.
Der Lehramts-Kandidat Eduard Eyth, dem in Kirchheim unter Teck am 6. Mai 1836 der erste Sohn geboren war, wird im Jahre 1840 zum Professor der alten Sprachen und der Geschichte am evangelischen Seminar in Schöntal an der Jagst ernannt, einer alten ehemaligen Klosterschule, die unter der Stammburg der Berlichingen liegt. Professor Eyths Familie stammte aus Tübingen. Dort sind seine Vorfahren Küfermeister und Stadträte gewesen. Als Salzburger Protestantenflüchtlinge sollen sie ursprünglich nach Tübingen gekommen sein. Aus den ehemaligen Küfern wurden bald gelehrte Humanisten. Der Vater des Professors Eyth war am Tübinger Stift Professor. Der Freund Eduard Eyths ist Justinus Kerner gewesen. Sein geliebter Lehrer war Uhland. Seine Professur hat sich der Tübinger Student mit der Abfassung einer "Weltgeschichte vom christlichen Standpunkt" verdient, seine Freundschaft mit den Dichtern rechtfertigt sich durch seine Übersetzertätigkeit. Er verdeutschte eine Odyssee in Reimen, dreißig Biographien des Plutarch und einige Dialoge Platos. Als Dichter tritt er mit "Harfenklänge aus dem alten Bunde" und "Davids Jugend" hervor. Seine erste literarische Leistung waren griechische Verse gewesen.

Professor Eyth durfte hoffen, daß sein Sohn ebenso wie er und seine Väter jener Mischung aus humanistischer Gelehrsamkeit und evangelischer Frömmigkeit sein Leben weihen würde, die er für die allein lebenswürdige Atmosphäre hält. Diese Hoffnung lag auch im Wesen der Mutter begründet, einer zartsinnigen Poetin, die ein Bändchen religiöser Dichtungen Bilder ohne Rahmen mit so großem Erfolg veröffentlicht hatte, daß es in viele fremde Sprachen übersetzt wurde und sie mit seinem Geldertrag befähigte, den Sohn, nach der damaligen Sitte, vom Militär loskaufen zu können. Max würde evangelischer Pfarrer werden, das stand fest. Das Kind Max enttäuschte die Eltern früh. Zunächst erschreckte der Bube seine Lehrer damit, daß er in seine Aufsatzhefte Zeichnungen kritzelte, die immer dasselbe Motiv hatten, ein paar unregelmäßige Dreiecke, vor denen ein merkwürdiger Hund lagerte. Woher der Junge dies Motiv hat, in dem seine Lehrer einen unseligen Hang zur Geometrie und zu sonstiger Allotria sahen, ist nie ganz klar geworden. Er konnte seinen Lehrern nicht einmal verständlich machen, daß seine Zeichnungen die Pyramiden und die Sphinx darstellen sollten.

Der Neunjährige wird den Zukunftsplänen der Eltern endgültig durch einen Eisenhammer entrissen, den er auf einem Spaziergang mit seinem Vater im [407] Kochertal sieht. Der Eisenhammer war durch Wasserkraft betrieben, ein kleines dickköpfiges Ungetüm, das mit wildem Poch-Poch auf das sprühende Eisen schlug. Das keuchende Zylindergebläse und der Anblick der verrußten athletischen Eisenknechte, die in den dunklen Gewölben des Hammerwerks wie Zyklopen hantieren, erfüllt den Knaben mit einem Gemisch aus Schauder und Entzücken. Noch in seinen Mannesjahren packt ihn die Erinnerung an dies Erlebnis so, daß er das Gedicht "Die Schmiede" niederschreibt.

Der Vater zieht seinen verzauberten Sohn von dem Hammer weg, aber als der Junge am nächsten Tag mit seinem Cornelius Nepos in den Wald geschickt wird, um zu lernen, vergräbt er den Klassiker unter einen Stein und rennt zwei Stunden lang über Berg und Hügel, bis er oberhalb des Kochertals keuchend in das Farnkraut stürzt und den geheimnisvoll pochenden Hammer sieht.

In seinen Lebenserinnerungen schreibt Max Eyth: "Ich verdanke meinem Vater das Beste, was der Mensch dem Menschen geben kann: die Freiheit!" Als er erkannt hat, daß sein Sohn aus geheimnisvoll tiefen Gründen, die in einer langen Geschlechterreihe verborgen liegen, den vorbedachten Weg eines humanistischen Gelehrten oder Theologen nicht gehen kann, ohne unglücklich zu werden, verzichtet Eduard Eyth auf seine eigenen Wünsche für den Sohn. Er macht dem Jungen klar, daß er vorläufig noch auf der Schule aushalten müsse, gleichgültig, ob er später einmal Prediger oder Ingenieur werden wollte. Dies sieht der Junge ein und findet auch schon in der Schule ein hohes Glück. Der junge Hilfslehrer der Mathematik, der an dem väterlichen Seminar wirkt, führt ihn in die Geheimnisse der Geometrie ein. "Schon nach den ersten Lektionen war mein Entzücken über das, was sich mir hier auftat, grenzenlos. Freudig schlaflose Nächte lang schob ich gerade Linien und Kreisbogen und später Ellipsen und Hyperbeln im Kopfe hin und her, um selbsterfundene Probleme zu lösen, und mit jedem Tage mehr versank für mich die klassische Welt in schönem, wesenlosem Scheine."

Der Widerstand Max Eyths gegen die klassische Bildung war zunächst nur Instinkt. In dem gereiften Mann hatte sich dieser Instinkt zu einem Wissen geläutert, das ihn an die Seite der Schulreformer treibt. Es wäre aber töricht, daraus folgern zu wollen, er sei ein Vorkämpfer jener geistlosen Industriemenschen des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, die mit der Gleichgültigkeit des Barbaren alle Kulturwerte zerstörten, die ihrer platten Erfolgssucht im Wege waren. In seinem Roman Der Kampf um die Cheopspyramide sagt der Dichteringenieur sehr deutlich, was er will. Er will eine Synthese aus Liebe zur wahren Kultur und aus der sinnvollen Anwendung aller Kraftmittel der industriellen Revolution. Technik und Industrie sollen den Menschen glücklich, nicht unglücklich machen. Glücklich kann der moderne Mensch nur werden, wenn es ihm gelingt, Herr der Technik zu sein, nicht Sklave. Beherrschen jedoch kann der Mensch die Naturkräfte nur durch eine Bildung, die nach vorwärts gerichtet ist.


[408] Im Innern der Cheopspyramide, so schildert es Max Eyth, treffen sich die beiden Brüder Ben und Joe Thinker. Joe, ein in Deutschland aufgewachsener Idealist, sieht in der Cheopspyramide kein Grabmal, sondern die Verkörperung gewisser Maße, die der Erbauer zum Heil der Menschheit der Nachwelt erhalten hat. Joe Thinker weiß, daß sich in der Königskammer der Pyramide eine Truhe befindet, deren Rauminhalt nach bestimmten Gesetzen festgelegt ist. Diese Gesetze umschließen ein verschollenes Maßgeheimnis der indogermanischen Rasse. Das Gewicht der Erdkugel steht in einer bestimmten Beziehung zu dem Hohlmaß der Truhe, und wenn es gelingt, diese Beziehung so zu entschleiern, wie es Joe Thinker vorschwebt, dann ist dem Glück der Menschheit eine neue Möglichkeit gegeben.

Ben Thinker ist der nüchterne, anmaßende, praktische Engländer, der die Pyramide als eine prächtige, aber überflüssige Steinmasse ansieht, die man am besten abreißt und für den Bau eines Stauwerks im Nil benutzt. Ben sucht für seine Pläne den Vizekönig von Ägypten zu gewinnen, er rechnet ihm vor, welch ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung Ägypten durch den Nildamm nehmen könnte. Der König schweigt. Jetzt treffen beide Brüder im Innern der Pyramide zusammen und führen ein leidenschaftliches, haßerfülltes Gespräch. Auch Joe beschließt, den König um seinen Beistand zu bitten, er schlägt vor, die Pyramide vor den Zugriffen der wütenden Gewaltmenschen durch die Errichtung einer Mauer zu schützen. Der Vizekönig weist beide Brüder zurück. Die Pyramide bleibt stehen, aber auch das Stauwerk wird errichtet, allerdings nicht aus den Steinen des erhaben schweigenden königlichen Grabmals. Um die beiden feindlichen Brüder stellt Max Eyth einen Kreis anderer Figuren auf, Märchenerzähler, Liebesleute und Tatmenschen. Die markantesten sind der deutsche Maler Buchwald, der die richtigen Gedanken aus den Anschauungen beider Brüder, dem Idealismus und dem Realismus, zu einer neuen Einheit bindet, und der Ingenieur Halim Paschas, Max Eyth selbst, der an der Urbarmachung der Nil-Ebene arbeitet.

Die beispielhafte Größe Max Eyths liegt in der Tatsache beschlossen, daß er diese seine Lebensgedanken nicht nur in meisterhafter Form niedergeschrieben, sondern auch in einer Reihe von großen Ingenieur- und Sozialtaten Wirklichkeit werden ließ. Im Geheimnis der Cheopspyramide hat Max Eyth der Würde des Ingenieurs ein Denkmal gesetzt. Inmitten der streitenden Parteien, gestellt zwischen Eigennutz und himmelstürmenden Idealismus, bewahrt der Ingenieur die Würde des Menschen. Er schafft durch seine Taten Brot für alle und ermöglicht es auch jenen, zu wirken, die für das Seelenheil des Menschen streiten.

Wie bitter der Weg eines jungen Ingenieurs in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gewesen ist, kann man in den Briefen Eyths an seine Eltern nachlesen. Mit fünfzehn Jahren verläßt er das Elternhaus und bezieht das Polytechnikum in Stuttgart, eine junge Anstalt, die damals erst zehn Jahre besteht. Sie kann ihren Schülern vorläufig nichts als "Theorien auf festgegründeter mathematischer Basis" geben, die industrielle Wirklichkeit steckt ja noch in ihren Anfängen, und die [409] großen Ingenieure dieser Zeit stehen nicht an den Lehrpulten, sondern hämmern und feilen in den Fabriken und Bergwerken. Dennoch führen die Polytechniker ein bewegtes, wunderbares Leben, sie fühlen sich als die jungen Pioniere einer neuen Zeit. Im Jahre 1851, als Max Eyth das Polytechnikum bezieht, stehen die Besucher der Londoner Weltausstellung starr vor Staunen vor einem Gußstahlblock von 2000 Kilogramm Gewicht, den der deutsche Eisengießer Krupp gegossen und geschmiedet hat. Der Klotz wiegt beinahe fünfmal soviel wie das größte Stück Gußstahl, das den Engländern gelungen ist. Der Triumph von London befeuert die technische Jugend mächtig. Die Nächte dieser Jungens verdämmern nicht allein in Bierseligkeit. Max Eyth ist einer Verbindung "Stauffia" beigetreten. Dort hält er als Achtzehnjähriger den ersten Vortrag seines Lebens über Natur und Freiheit. Den Jungen ist kein Gedanke zu hoch. Aus den Protokollen der Stauffia sind noch Berichte über andere Vorträge vorhanden: "Die Not der Handwerker", "Über den Selbstmord", "Über den Tanz", "Entwicklung der Eisenbahnen", "Wie verträgt sich die Einsamkeit mit unserem Lebenszweck".

Bis dahin war alles gut und schön, jetzt aber kommt der erste tiefe Sturz. Es gibt keinen Übergang von der Theorie in die Praxis, es gibt nur einen Sturz. Die jungen Techniker müssen arbeiten lernen, und es beschäftigt sie kein Unternehmer sofort am Zeichentisch. Sie müssen als Arbeiter anfangen. Max Eyth nennt diese Zeit "das Schlosserlehrlings-Elend". Ihn besonders packt es hart an. Er zerschindet sich die Hände an den Feilengriffen und wird dennoch aus seiner ersten Lehrlingsstelle entlassen, weil er nicht genug arbeitet, sondern heimlich dichtet. Die ersten Wochen der Arbeitslosigkeit folgen mit bangen Überlegungen, ob es nicht doch besser wäre, in die Behaglichkeit eines akademischen Berufes einzumünden. Durch die Fürsprache eines Onkels wird Max Eyth in der Maschinenfabrik von Kuhn in Berg als Hilfsarbeiter aufgenommen. Zwei Jahre lang arbeitet sich der Jüngling das "faule Fleisch von den Knochen" und steigt schließlich "aus den tiefsten Tiefen mit zusammengebissenen Zähnen und schmieriger als der schmierigste Lehrjunge langsam empor und wurde dreißig Kreuzer, achtundvierzig, ja schließlich täglich einen Gulden wert". Als ihn eines Tages der Bürochef und erste Konstrukteur der Firma, Wolf, vom Schraubstock weg ans Zeichenpult ruft, erscheint dieser Mann dem jungen Arbeiter wie "ein Engel vom Himmel". Von da an geht es aufwärts, die Gesellenjahre beginnen.


Über England hallte die Stimme des calvinistischen Volkswirtes Malthus. Was er predigte, sprachen ihm die Sonntagsredner im Hydepark nach. England und mit ihm die Welt, so zeterte er, würden in Not und Elend zugrunde gehen, wenn nicht eine Abkehr von der Industrie erfolge. Die Bevölkerung vermehre sich rascher als die zu ihrer Erhaltung nötigen Nahrungsmittel. Der Bevölkerungszuwachs aber sei eine Folge der Industrie, die Bauernsöhne ließen die Pflüge [410] stehen, um den leichten Broterwerb an der Maschine zu suchen. Durch die Landflucht wüchsen die Städte zu Wasserköpfen an. In der Stadt und in den Industriebezirken aber werde nicht das erzeugt, was der Mensch am nötigsten brauche, Kleidung und Nahrung. Um Baumwolle spinnen zu können, sei es zuerst nötig, Baumwolle anzubauen, und wenn nicht bald mehr Baumwolle angebaut werden würde, müsse die Menschheit in kurzer Zeit in Lumpen einhergehen. Im Jahre 1834 verstummte die Stimme des großen Mahners. Aber seine Ideen und das "Malthusianische Gesetz" – das industrielle Zeitalter erzeugt mehr Menschen, als es ernähren kann – lebten fort.

Max Eyth im Alter von 25 Jahren.
Max Eyth
im Alter von 25 Jahren.
[Nach max-eyth.de.]
Als Max Eyth im Jahre 1861, seekrank und arm, ein stellungsuchender Ingenieur, das gelobte Land der Technik, England, betrat, war Krisenzeit. Die große, erste Schwungkraft der industriellen Revolution war vorüber. Industrie und Landwirtschaft standen in einem bedenklichen Gegensatz. Man führte Lebensmittel ein, statt sie auf eigenem Boden zu erzeugen. Die vielen Streiks machten die Fabrikherren zweiflerisch, in den Ingenieurbüros war die Stimmung trüb. Das einzige, was wirklich Aussicht hatte, war der Dampfpflug, ein Instrument, das die Landflucht der Bauernsöhne noch am ehesten ausgleichen konnte. Der Dampfpflug aber war nur in der Theorie gut. Die Maschine hatte viele Tücken. Der eigentliche Pflug wurde an einer Stahltrosse von einer Lokomobile gezogen, und um diese Stahltrosse so zu regulieren, daß sie den Pflug wirklich zog, statt ihn zu schleifen oder stecken zu lassen, mußten dauernd am Rand der Felder zwei Jungen sitzen, um die Spule zu steuern. Dieses umständliche System jedoch war noch das beste. Es stammte von John Fowler, dem Größten der Dampfpflug-Ingenieure.

Ehe Eyth mit John Fowler in Verbindung kam, hatte er viele erfolglose Vorstellungen hinter sich. Einer der Ingenieure war so aufrichtig, zu sagen, daß er deutsche Zeichner überhaupt nicht beschäftigen möchte. Sie fragten bei allem, was man ihnen zu konstruieren aufgebe, wozu das gut sei. Ein Engländer dagegen zeichne es friedlich, ohne nach dem Sinn zu fragen. Eine Gelegenheitsarbeit für einen Eisenbahn-Unternehmer hält Eyth für kurze Zeit über Wasser, und endlich wird er mit einem Herrn Tylor bekannt, einem Quäker, der ihn wieder an seinen Freund Fowler nur darum empfiehlt, weil der junge Mann im Lockenhaar, in weißer Weste und knappem schwarzem Anzug einen ernsten Eindruck macht und vielleicht, vielleicht ein guter Quäker werden könnte. "Er ist bekehrensfähig", schreibt er an Fowler. Aber auch Fowler hat keine Verwendung für einen Ingenieur. Er stellt Eyth zunächst als Schlosser ein.

Nach sechs Monaten hat sich Eyth vom Schraubstock weg an den Zeichentisch herangearbeitet. Die Firma schickt ihn zu ihrer Vertretung auf die Landwirtschaftliche Ausstellung nach London, von da aus geht er in die Provinz, stehengebliebene Dampfpflüge zu reparieren. Nach Feierabend, wenn er müde und naß von den nebligen Feldern zurückkommt, sinnt er über die Verbesserung des Dampfpfluges nach.

[411] Hier ist die Stelle, an der Eyths eigenartige Persönlichkeit hell aufleuchtet und klar zu übersehen ist. Als Erfinder sind andere Zeitgenossen ihm überlegen. Er hat nur wenig selbständige Erfindungen gemacht. Seine Stärke offenbarte sich an anderen Stellen. Er wollte bei Fowler unterkommen, weil er erkannt hatte, daß der Dampfpflug das wichtigste Stück der industriellen Entwicklung war. Der Dampfpflug war aber nicht so, wie er sein sollte. Um ihn verkaufen zu können, mußte man ihn erst verbessern, und die entscheidenden Verbesserungen des Dampfpfluges gelingen Eyth in kurzer Zeit. Er nimmt eigene Patente – Fowler streckt ihm das Geld dafür vor – und hat jetzt in seiner Firma eine ganz andere Stellung. Die nächsten vier, fünf Jahre zeigen die Stärke dieser Stellung. Eyth wird der erfolgreichste aller reisenden Ingenieure und macht das Fowlersche Unternehmen zur größten Dampfpflug-Fabrik der Welt.

Die Kindheitsträume von den ungleichen Dreiecken mit dem Pudelhund davor werden plötzlich schimmernde Wirklichkeit. Eyth geht nach Ägypten. Fowler hat vor, ihn nach Indien zu schicken. Vorher aber soll Eyth in Alexandria an Land gehen und sich nach einigen Dampfpflügen umsehen, die auf den Farmen von Halim Pascha arbeiten, dem Onkel des Vizekönigs.

Vor Freude auf dem Bugspriet des Dampfers reitend, kommt Eyth im Lande der Pharaonen an und stürzt sich kopfüber in eine Märchenwelt, die er ein paar Jahre später erst wieder verläßt. Halim Pascha ist ein eleganter Kavalier mit europäischen Manieren, der einen Teil seiner Ausbildung auf der Technischen Hochschule in Paris genossen hat. Er fährt selbst auf seine Felder hinaus, scheut sich nicht davor, im Schlamm herumzuwaten, verliert aber nie die königliche Geste – hinter ihm muß immer der Adjutant mit der goldenen Zigarettendose stehen – und ist ein Mann, der die Stunde zu nützen weiß. Im Verkehr mit diesem königlichen Unternehmer, bei der Besteigung der Cheopspyramide, bei nächtlichen Gesprächen unter dem flimmernden Sternenhimmel, kann Eyth zum erstenmal all die bestrickenden Reize seiner Persönlichkeit entfalten, seine schwäbische Unbefangenheit, die Höflichkeit, die er von der Mutter geerbt hat, das glänzende Erzählertalent, seine Musikalität und seinen klaren, kühlen Blick. Das Beste an ihm ist sein Humor. Mit ihm belebt er die trockensten Dinge. Allerdings verführt ihn dieser Sinn für den Humor auch manchmal dazu, eine Sache so zu betrachten und darzustellen, daß der Oberflächliche die Meinung haben kann: dieser Mann hat wenig Herz!

Halim Pascha ist entzückt von Max Eyth. Der Ingenieur, mit dem er bisher zusammengearbeitet hat, war eine Enttäuschung; er war nicht großzügig und nicht kenntnisreich genug. Wie anders dagegen dieser Deutsche. Was er anpackte, belebte sich unter seinen Händen. Sein Blick ging weit über die gewöhnlichen Horizonte hinaus.

Damals war eine der größten Katastrophen auf dem amerikanischen Baumwollmarkt eingetreten, der Krieg der Nordstaaten gegen die Südstaaten um die Sklavenbefreiung. Während dieses Krieges ruhte die Baumwollproduktion, und wenn es Nordamerika gelänge, die südamerikanische Sklavenwirtschaft zu zer- [412] brechen, dann konnte die Baumwollproduktion ohne Onkel Tom nie wieder zu ihrer früheren Blüte gedeihen. Hier war eine verblüffende Aussicht für Ägypten. Wenn es gelingen könnte, die ägyptische Baumwollproduktion mit Hilfe der Maschinen hochzutreiben, dann mußte nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft ein großes, nie geahntes Geschäft zu machen sein.

Halim Pascha versuchte, seinen Neffen, den Vizekönig, für die Gedanken zu gewinnen, die er mit dem jungen Deutschen durchgesprochen hatte. Aber der König hatte eine einfachere Arbeitsweise im Sinn. Wohl hatte auch er, wie die anderen Paschas, seinen Landbesitz um das Zehn- bis Zwanzigfache vergrößert, Maschinen jedoch brauchte er nicht. Er ließ die Fellachen mit ihren Rindern dörferweise auf die Felder treiben. Das war viel billiger als Dampfpflüge. So wäre Halim Pascha ein einsamer Landwirtschaftreformer gewesen, und niemals wäre Ägypten das Land des ersten großen agrarindustriellen Versuchs geworden, wenn nicht die große Rinderpest des Jahres 1863 Ägypten von allem Zugvieh entblößt und den bequemen Plan des Vizekönigs vereitelt hätte.

Jetzt allerdings schloß sich der Pharao mit wahrhaft orientalischer Großzügigkeit dem Gedanken Halim Paschas an. Er bestellte über Max Eyth bei Fowler, sofort zu liefern, 150 Dampfpflüge. Fowler antwortete: "Die Fabrik kann kaum drei Dampfpflüge in der Woche fertigstellen." Darauf kabelt Ismael zurück: man solle dann eben die Fabrik so vergrößern, wie es nötig sei. Das Geld dafür werde er anweisen. In dieser Zeit war der Baumwolleboom auf seinem Höhepunkt. Der Bruttoerlös eines Hektars betrug beinahe 5000 Mark. Von sechzig Pfennig war der Preis für ein Kilo Baumwolle bis auf fünf Mark geklettert. Max Eyth schreibt darüber: "Etwas Ähnliches hatte Ägypten auch in der Zeit der sieben fetten Kühe nicht erlebt. Alles baute Baumwolle, der Fellache um seine Lehmhütte und der Eunuch im Haremsgarten seiner Damen." Im Hafen von Alexandria lagen die Maschinenkisten bergehoch. Zwischen den Eisenteilen stolperten die Diener der Effendis herum. Man rief Allah um Hilfe an und ergab sich dem Trunk. Auf der Goldwoge, die durch das Land flutete, schaukelte auch noch der letzte Fellachenjunge hin. Überall wurden in aller Eile Dampfpflüger ausgebildet, und der Arbeitermangel war so groß, daß der Bau des Suezkanals ins Stocken geriet. Max Eyth arbeitete aus dem Vollen. Er konstruierte fahrbare Pumpen und baute Kessel- und Maschinenhäuser und hatte sich so in die Sprache des Landes eingelebt, daß es ihm nicht mehr schwer fiel, seine eingeborenen Maschinisten mit der Anrede "Ihr Söhne von Hunden" zu ermahnen.

'Mein Haus in Schubra', nach einem Aquarell von Max Eyth.
[413]      "Mein Haus in Schubra",
nach einem Aquarell von Max Eyth.

[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]
Abseits von den anderen lebte er in Schubra für sich mit seiner eingeborenen Dienerschar, hatte sich ein Klavier zu seiner Erholung kommen lassen, malte und zeichnete des Abends oder schrieb. Seine Briefe an die Eltern sind der Grundstock der späteren Selbstbiographie. Manchmal läßt ihn Halim Pascha zu sich bitten. Die Gesprächsthemen sind weitgespannt und doch sehr bestimmt abgegrenzt: Leibeigenschaft und Sozialismus, Bauer und Großagrarier, Gottesgnadentum oder [413] parlamentarische Monarchie. "Dazu der rauschende, mondbeglänzte Nil, das Ufer im schwarzen Sykomorenschatten und die Wüste in ihrer starren Ruhe."

Hier formen sich die sozialpolitischen Ansichten Eyths. In England, wo er das Elend der Fabrikarbeiterschaft am eigenen Leibe erlebt hat, war er noch bereit gewesen, nach China zu gehen und sich der siegreich vordringenden Taipingrevolution anzuschließen. Das Bauern- und Handwerkerblut, das in ihm war, empörte sich gegen eine "Ordnung", die den Menschen dazu zwingt, "drei Viertel aller Kräfte darauf zu verwenden, die Erlaubnis zu erhalten, das letzte Viertel wirklich nützlich zu verwenden". Die Gespräche mit Halim Pascha und die Erlebnisse, die er als einer der Verantwortlichen des ägyptischen Agrarexperimentes hat, seine Lebenserfahrungen in dieser tollen Zeit, bringen ihn zu kühlen Einsichten. Sein Herz bleibt heiß und schlägt für das Volk. Das Verhalten des Vizekönigs gegen seine Fellachen, aber auch das Verhalten der Fellachen gegen die Wohltaten, die ihnen die moderne Bodenbearbeitung bringt – sie gehen nachts auf die frisch bepflanzten Felder und heben mit einer drehenden Bewegung die jungen Baumwollpflänzchen so aus dem Boden,daß sie zugrunde gehen müssen –, zeigt ihm, daß man den Monarchen ebensowenig vertrauen darf wie den Massen und daß die wahren Führer der kommenden, notwendigen Entwicklungen keinem Stand verhaftet sein dürfen, sondern nur dem Gedanken des Volksganzen.

[414] Im Jahre 1865 streckt die Armee der amerikanischen Südstaaten die Waffen. Die Sklavenbefreiung ist gelungen. Der Tag, an dem Nordamerika aufjubelt, ist der schwarze Tag Ägyptens. Die amerikanische Küstenblockade wird aufgehoben, es segelt wieder Baumwolle über die Meere, der Preis für Baumwolle stürzt von 27 auf 6 Pence; in den Abgrund, der sich plötzlich öffnet, stürzen die Millionen der neuen Unternehmer. Dennoch hätte sich das neue Ägypten halten können. Vizekönig Ismael jedoch überwirft sich mit dem hochbegabten Halim Pascha, es kommt zu einem Streit um den Thron, Halim Pascha unterliegt. Ismael ist der Alleinherrscher, aber er sitzt zwischen versandeten Maschinen und verrosteten Dampfpflügen, für die keine Kohle mehr geliefert wird. Als Jahre nachher unter den Klängen der "Aida" der Suezkanal eröffnet wird, ist der König bankrott, England übernimmt die Verwaltung, und jetzt zeigt es sich, daß Halim Pascha und Max Eyth richtig gesehen haben: Ägypten wird wieder und bleibt einer der größten Baumwollproduzenten der Welt!

Max Eyth war solange bei Halim Pascha geblieben, wie es ging. Im Jahre 1866 entläßt ihn der ruinierte Prinz. Eyth kehrt über die Alpen nach Deutschland zurück, besucht die Eltern und muß schleunigst nach England. Durch den Ausfall Ägyptens sind die ins riesenhafte gewachsenen Fowlerschen Werke bedroht. Eyth verzagt keinen Augenblick. Er sieht schon ein neues Feld: Amerika! Die Sklavenbefreiung steht solange auf dem Papier, solange es niemanden gibt, der die Arbeit der Sklaven macht. Eyth weiß, wer sie machen wird: der Dampfpflug und das neue Gerät, das der Deutsche erfunden hat, der Baumwollpflug.

Zunächst ist die Begegnung mit den Staaten bitter. Die idealen Erwartungen waren zu groß. Jeder Deutsche des neunzehnten Jahrhunderts segelte ja mit hochgeschwellten Gefühlen nach Amerika. Es gibt aber nur wenig Idealisten in diesem Lande. Die meisten verstehen die Demokratie als das Recht, von jedermann Schmiergelder anzunehmen. Im Innersten angewidert schreibt Eyth in sein Tagebuch: "Die Masse auf ihrer Jagd nach Geld hat kein Recht und will kein Recht." Wie soll man diesen Menschen, die zunächst den Dampfpflug als eine Sache nehmen, die man mit Einfuhrzöllen und im scheinbaren Kampf um die Zollfreiheit zu einer Korruptionsquelle machen kann, wie soll man ihnen klarlegen, daß sie Dampfpflüge brauchen, wenn ihr Land, das sich augenblicklich von den alten Baumwollvorräten nährt, nicht einer Erschütterung entgegentreiben soll?

Sein Humor gibt ihm schließlich das Mittel, die Amerikaner zu besiegen. Er veranstaltet Wettrennen mit Dampfpflügen. Um die Sache richtig aufzupulvern, nennt er seine "Kampfelefanten" "John Bull" und "Bruder Jonathan". Das Rennen bringt die Menge der Farmer und Politiker auf die Beine. Jetzt, nachdem sie sich auf der Rennbahn heiser geschrien haben, begreifen sie auf einmal, daß Dampfpflüge eine großartige Sache sind. Der amerikanische Markt ist wie durch ein Zauberwort erschlossen, und Eyth scheidet leichten Herzens aus dem Lande, [415] wo des Menschen Leben und Seele "eine Maschine zur Gewinnung von Mais, Eisenbahnaktien und Geld ist, vor allem aber von Geld".

Die nächsten fünfzehn Jahre verbringt Eyth auf großen Reisen nach Ungarn, Rußland, Trinidad, Ägypten und Südamerika. Überall wird die Landwirtschaftstechnik propagiert, und überall gilt es, zunächst die Gehirne aufzupflügen. Es ist ein schweres, aber sehr erfolgreiches Leben.

Es ist aber nur das erste Leben des Ingenieurs.

Im Jahre 1882 verläßt er die Firma Fowler und beginnt sein zweites Leben in Deutschland. Der Bruch mit den Fowlers war unvermeidlich geworden, die alten Chefs waren weggestorben, und die Jungen hofften, das hohe Einkommen Eyths selber verdienen zu können.

Als er die Heimat wieder betritt, ist aus dem lockenhaarigen, schmächtigen Jüngling, dem quäkerbekehrungswürdigen Lyriker am Schraubstock ein sechsundvierzigjähriger behäbiger, backenbärtiger, zwickerbewehrter, lächelnder Herr geworden, der seinen Frachtbrief in die Heimat auf "zwanzig Lasten, Kisten und Kasten" ausschreibt, ein nicht nur wohlhabender, sondern sogar reicher Mann.

Wer den rundlich-quicken, vergnügten Junggesellen, den Freund der Kunst und der weinfrohen Geselligkeit nicht kannte, hätte glauben dürfen, jetzt begönne ein behagliches Ausruhen. In der Seele dieses Mannes jedoch waren ganz andere Bedürfnisse. Er, der Kinderlose, schuf sich jetzt, vom väterlichen Gefühl des ehelosen Menschen getrieben, ein Geschöpf, das er "sein Kind" nennen konnte und das seine Widersacher auch manchmal so nannten, wenn sie ihn treffen wollten.

Max Eyth gründete die "Deutsche Landwirtschaftliche Gesellschaft". Ihr Vorbild war die "Royal Agricultural Society of England". Die englische Gesellschaft wieder war nach einer alten deutschen Anregung gegründet worden, und so blieb es Max Eyth vorbehalten, in Deutschland einen deutschen Gedanken durchzusetzen, der sich im Ausland hoch bewährt hatte und der in seinem Ursprungslande wieder vergessen worden war.

Die "DLG.", unter welcher Abkürzung die Eythsche Gründung berühmt wurde, sollte die deutschen Landwirte auf dem Wege der Selbsthilfe an den technischen Fortschritt des Auslandes heranführen und ihn sogar überflügeln. In vierzehnjähriger, verbissener Arbeit, unter Tränen manchmal, unter Aufbietung aller Grobheit, deren er fähig war, aller Liebenswürdigkeit, Beredsamkeit und Aufopferung, läßt Eyth sogar sein Ziel weit hinter sich. Diese, seine zweite Lebensarbeit, bei der Max Eyth nicht einen fremden Pfennig annimmt und einen großen Teil seines Vermögens aufopfert, ist Geschichte geworden. Als er beginnt, findet er die deutsche Heimat noch in der alten klassischen Dreifelderwirtschaft bestellt. Alle Neuerungen setzen sich nur spärlich unter den Landwirten durch. Sie sind in 1650 landwirtschaftlichen Vereinen organisiert, die den verschiedensten politischen Zielen nachjagen und deren populärstes allerdings die Jagd nach [416] dem staatlichen Zuschuß ist. "Es sind alles liebenswürdige, wackere deutsche Männer, die mir die größte Hochachtung einflößen, sobald sie nicht in Vereinsangelegenheiten tätig sind."

Von diesen Landwirten verlangt Max Eyth, daß sie einem Verein beitreten sollen, der den phantastisch hohen Mitgliedsbeitrag von zwanzig Mark fordert. Seine Freunde warnen ihn, und die größte Warnung war das tragische Schicksal seines schwäbischen Landsmannes List, des Vorkämpfers der Eisenbahnen und der Industrie, der sich erschoß, weil er seine Lebensarbeit für Deutschland mit schnödem Undank belohnt sah. Eyth läßt sich von allen Warnungen nur zu einer Bedingung bringen. Wenn es ihm nicht gelingt, in zwei Jahren 2500 Mitglieder zusammenzubringen, will er von seinem Plan Abstand nehmen.

Er beginnt und hat nach zwei Jahren die Ziffer 2500 sogar überschritten. Was noch wichtiger ist, Bismarck, der Gegner der deutschen Vereinsmeierei, ist der DLG. beigetreten. Das ist mehr als ein Symbol. Der Beitritt dieses Mannes läßt die Verleumdungswellen langsam verebben.

Der geifernde Kleinmut konnte es nicht begreifen, daß jemand aus reinem Herzen Sozialpolitik macht, allein getrieben vom coriolanischen Gefühl. Die schleichende Niedertracht, der "große Krumme" aus dem "Peer Gynt" geht herum und spritzt Verdächtigungen aus: Eyth sei immer noch Agent von Fowler, für jede Maschine in Deutschland bekomme er Provision, Eyth will in den Reichstag, um seiner Eitelkeit zu frönen, Eyth will der Beherrscher der deutschen Landwirtschaftsindustrie werden. Eyth schreibt in sein Tagebuch: "Die Menschheit ist ein Stück Natur, obgleich nicht das gelungenste."

Max von Eyth.
Max von Eyth.
Aufnahme Fritz Leyde & Co., Berlin, 1896.
[Nach wikipedia.org.]
Die erste Ausstellung der DLG. in Frankfurt am Main zeigt den deutschen Bauern zum erstenmal in einer damals großartigen Fülle, was eigentlich wirklich Landmaschinen sind. Von da an geht es von Erfolg zu Erfolg, die kleinen Landwirtschaftlichen Vereine beginnen zu sterben, und im Jahre 1896, als die DLG. über 9000 Mitglieder zählt, ist das "Kind" des alten Junggesellen stark genug geworden, um den Vater entbehren zu können. In seinem letzten großen Vortrag vor der DLG. faßt sich Hofrat Max von Eyth – so heißt er inzwischen – noch einmal zusammen: Nicht zufrieden sein mit dem Erreichten. Die Landwirtschaft braucht nicht nur Dampf und nicht nur künstlichen Dünger. Sie braucht Benzin- und Petroleummaschinen, sie braucht billige Elektrizität, und sie braucht wegen des ungünstigen Erntewetters Trockenanlagen für die Feldfrüchte, sie braucht den Ausbau der Straßen, der Eisenbahnen und der Wasserwege, und sie braucht immer wieder den engsten Zusammenhang mit einer Industrie, deren Aufgabe der Mensch und sein Glück zu sein hat.

Umjubelt, beweint und mit Ehren überhäuft, verläßt Max Eyth seinen Präsidentenstuhl. Seine Neider glauben, daß er jetzt endlich einen der glänzend bezahlten Direktorenposten in der Industrie annehmen würde, die man ihm so oft angetragen hat.

[417] Er jedoch beginnt sein drittes Leben. In den letzten Jahren ist in ihm eine neue Sehnsucht wachgeworden. Das Erbe des humanistischen Vaters liegt ihm doch stärker im Blut, als er glaubt. Er, der jugendliche Verächter der klassischen Welt, sehnt sich nach einem Ruhesitz auf dem Berge Athos, den Blick auf das blaue Griechenmeer gerichtet. Er wandelt diese Sehnsucht um in ein Feierabendsleben, das nur noch den Freunden und der Kunst gewidmet ist. Der Kunst allein? Nein, er kann es doch nicht. "Taten, nicht Tinte!", der Leitsatz seines Lebens mahnt ihn auch jetzt. Er will schreiben, gewiß, aber nicht l'art pour l'art, seine Bücher sollen Romane sein, aber sie sollen die politischen und technischen Gedanken und Erfahrungen seines Lebens noch weiter wirken lassen. Auf einem Berge über Ulm gründet er sein "Athos", ein Häuschen, von dem er täglich hinuntersteigt zu seiner Mutter.

Zeichnung von Max Eyth.
[417]      "Die letzte Ulmer Schachtel".
Zeichnung von Max Eyth.
Im Jahre 1904 kreist eine merkwürdige Geschichte durch die deutsche Presse. Darin wird erzählt, daß Max Eyth auf seine alten Tage Schneiderlehrling geworden sei. Tatsächlich haben ihn verschiedene Leute in Ulm höchst vergnügt in einer kleinen Schneiderwerkstatt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Tisch sitzen und Knopflöcher nähen sehen. Die Geschichte ist also wahr. Dann löst sich das Rätsel. Der Roman Der Schneider von Ulm erscheint. Um die Geschichte des fliegenden Handwerkers möglichst getreu schreiben zu können, hat sich Max Eyth nicht mit seinen technischen Kenntnissen begnügt, er hat auch noch schneidern gelernt.

Von dem Schriftsteller Eyth erscheinen außerdem: Hinter Pflug und Schraubstock, Im Strom unserer Zeit, Im Kampf um die Cheopspyramide. Er will noch eine Geschichte der Technik schreiben, da nimmt der Tod dem lächelnden Siebzigjährigen die Feder aus der Hand.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz