[12]
Wien 1864
Äußerlich betrachtet läßt sich keine einfachere Lage
denken als die, in der sich Preußen im Juli 1864 befand, als es in einem
Kriege, der uns heute nur wie ein mehrfach unterbrochener militärischer
Spaziergang erscheint, den Widerstand Dänemarks niedergeschlagen hatte.
Es konnte dem Besiegten seinen Willen ohne jede Einschränkung
auferlegen und hat dies auch getan. Der Vorfriede, der in Wien am
1. August unterzeichnet und am 30. Oktober zum endgültigen
Frieden erhoben wurde, ist von Bismarck
diktiert und von Dänemark ohne
jede Widerrede angenommen worden. Er lautet denn auch in dem einzigen
wesentlichen Punkte (Artikel 1) so einfach wie möglich : "Seine
Majestät der König von Dänemark entsagt allen seinen
Rechten auf die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
zugunsten Ihrer Majestäten des Königs von Preußen und des
Kaisers von Österreich und verpflichtet sich, die Dispositionen
anzuerkennen, welche die genannten Majestäten in bezug auf diese
Herzogtümer treffen werden." Man sieht es diesem knappen, schlichten
Satze nicht an, daß er den Abschluß eines der glänzendsten
diplomatischen Feldzüge bildet, die je geführt wurden, daß er
einen ebenso vollständigen wie mühevoll errungenen Sieg und ein
Meisterstück an politischer Weitsicht und Berechnung darstellt. Bismarck
selbst hat das gefühlt und öfter ausgesprochen, zuerst am
11. September 1870 im Kreise seiner Beamten: "Am stolzesten bin ich
doch auf unsere Erfolge in der schleswig-holsteinischen Sache, aus der man ein
diplomatisches Intrigenspiel fürs Theater machen könnte." Niemals
hat er mit größeren Widerständen zu kämpfen gehabt,
niemals so vorsichtig, auf Umwegen und Schleichwegen sich dem Ziele
nähern müssen, niemals ist er weniger verstanden worden, ehe das
Ziel erreicht war.
Der Gegner, den es eigentlich zu überwinden galt, war für ihn gar
nicht das feindliche Dänemark; die wahren Gegner saßen teils im
eigenen Lager, teils im neutralen Ausland. Bismarcks Gedanke ging von Anfang
an darauf, die Herzogtümer Dänemark zu entreißen und
Preußen einzuverleiben. Ein Menschenalter später hat er sich
darüber zu einer Abordnung aus Schleswig-Holstein offen ausgesprochen:
"Ich [13] habe von der ersten
Eröffnung der Frage... im November 1863 gleich die Überzeugung
gehabt und vertreten, amtlich vertreten: Dat möt wi hebben!" Aber da
waren alle gegen ihn gewesen: der König, der Kronprinz, der ganze Hof;
die Ministerkollegen, die Botschafter in Paris und London; die anderen deutschen
Regierungen, auch die verbündete österreichische nicht
ausgenommen; die preußische Volksvertretung, der Nationalverein und die
deutsche Presse; die öffentliche Meinung der beiden Provinzen, um die der
Streit ging; und vor allem die übrigen Mächte, Rußland,
Schweden, Frankreich und England. Als er im preußischen Kronrat zum
erstenmal seine Meinung aussprach, fürchtete man, er habe "zu stark
gefrühstückt", und der Kronprinz deutete wiederholt mit dem Finger
auf die Stirn. Der König hat sich noch nach beendetem Kriege, am
22. August 1864, in Schönbrunn bei der Besprechung mit Kaiser
Franz Josef auf dessen Frage, ob er die Lande haben wolle, dagegen
gesträubt. Der Erkorene des Hofes, der deutschen öffentlichen
Meinung und des Landes selbst war ja der Erbprinz von Augustenburg.
Hätte man damals eine Volksabstimmung in Deutschland vorgenommen, es
wäre mit überwältigender Mehrheit beschlossen worden, den
Chor der deutschen Mittel- und Kleinfürsten um ein weiteres schwaches
Stimmlein zu verstärken, die Summe der Nullen, die die deutsche
Ohnmacht darstellten, noch um eine neue Null zu vermehren. Beschloß
doch am 2. Dezember 1863 das Preußische Abgeordnetenhaus mit
231 gegen 63 Stimmen: Die Ehre und das Interesse Deutschlands forderten,
daß der Erbprinz Herzog von Schleswig-Holstein werde! Der Nationalverein
aber erklärte in einem Manifest, durch seine Haltung in dieser Frage habe
Preußen "jeden Anspruch auf die Führung Deutschlands verloren".
Wie leicht haben wir es heute, die grenzenlose Torheit dieser Meinung zu
durchschauen! Wir wissen, was damals in Wirklichkeit auf dem Spiel stand. Um
uns daran zu erinnern, brauchen wir ja auch nur die oben erwähnte Rede
Bismarcks vom 26. Mai 1893 zu lesen über das Thema: "Ohne
Schleswig-Holstein keine deutsche Flotte!" und mit dem Bekenntnis: "Ich habe
mir von Haus aus gesagt: ohne die Herzogtümer wird Deutschland nie eine
deutsche Reichsflotte haben können... Die Herzogtümer und die
Flotte sind untrennbar voneinander, sie gehören zusammen." Das ist uns
heute eine Binsenwahrheit. In unserer Vorstellung sind der Reichskriegshafen in
Kiel und der Kaiser-Wilhelm-Kanal feststehende Größen, die wir nicht
mehr hinwegzudenken vermögen. Wir vergessen leicht, daß sie ohne
die Befreiung Schleswig-Holsteins von Dänemark gar nicht und ohne ihre
Einverleibung in Preußen nur bedingt möglich gewesen wären.
Für uns ist es nicht schwer, zu erkennen, daß mit diesem Schritt
bereits die Bahn betreten wurde, [14] die Deutschland einst in
die Reihe der großen Seemächte führen sollte. Wir streiten
darum auch gar nicht mehr darüber, daß es in jedem Sinne das beste
war, wenn an dieser entscheidenden Stelle die volle Landeshoheit in die
Hände des führenden deutschen Staates gelegt wurde. Damals aber
war es zunächst noch eine seltene Ausnahme, wenn z. B. der kurhessische
Minister Abée in der Annexion der Herzogtümer an Preußen die
einzige verständige Lösung der Frage sah. Erst nach Düppel,
als der militärische Erfolg angefangen hatte, seine Lehre zu üben, am
25. Mai 1864, wagte eine Anzahl preußischer Patrioten unter
Führung des konservativen Grafen Arnim-Boitzenburg in einer Adresse an
den König schüchtern anzudeuten: "Wir halten die Trennung des
deutschen Schleswig und Holstein von Dänemark und ihre Vereinigung zu
einem Ganzen, sei es unter einem eigenen Landesherrn und dem wirksamen
Schutze eines mächtigen deutschen Staates, sei es als ein Teil dieses
letzteren, für die einzige Lösung, welche die Opfer lohnt, die wir
gebracht." Es ist auch sehr die Frage, wie viele deutsche Politiker damals ein
volles Verständnis für den Satz hatten, den Bismarck ihnen am
8. Juni vorhalten ließ: "Das Interesse Deutschlands findet nicht schon darin
seine Befriedigung, daß der deutsche Bund einen Zuwachs an Land erhalte
und daß die Zahl der deutschen Fürsten sich noch um einen
vermehre, sondern nur darin, daß das neue Fürstentum auch dazu
beitrage, die Bedingungen deutscher Macht und deutschen Ansehens nach
außen zu fördern... Deutschland und vor allem Preußen,
welches mit Österreich sein Teuerstes, das Herzblut seiner Söhne, an
die Befreiung Schleswig-Holsteins gesetzt hat, muß verlangen, daß
dort an der Nordgrenze zwischen der Ost- und Nordsee nicht etwa bloß ein
schwächliches Herzogtum erstehe, sondern zugleich eine wahre Nordmark
zu Schutz und Trutz für Deutschland zu Lande und zur See."
Uns ist es auch geläufig, daß die Lösung dieser Frage eine
europäische, keine innerdeutsche oder deutsch-dänische
Angelegenheit war, und es ist wohl auch die Kenntnis heute nicht mehr auf die
engsten Kreise beschränkt, daß der eigentliche Feind, den man zu
allererst besiegen mußte, nicht das kleine Dänemark, sondern das
große England war. England hatte schon einmal, von 1848 bis 1850, die
deutsche Lösung der schleswig-holsteinischen Frage verhindert, weil es
diese wichtige maritime Stellung nicht dem werdenden Deutschland
überlassen wollte. England stand auch jetzt von Anfang an hinter
Dänemark und ermutigte es zum Widerstand, den es sonst schwerlich
gewagt hätte. Kein Geringerer als der alte Jupiter tonans von Europa, Lord
Palmerston, hatte als Erster Minister im Hause der Gemeinen das
verheißungsvolle Wort gesprochen, wenn Dänemark von
Deutschland an- [15] gegriffen werde, so
werde es nicht allein bleiben. Das Wort fand in England ein lautes Echo. Im
Parlament und in der Presse hat man damals eine Sprache geführt, die uns
heute sehr vertraut vorkommt. Palmerston gab dabei den Ton an. Er hat mit
Drohungen und Grobheiten nicht gespart. Die Äußerung Bismarcks,
daß Verträge zwischen zwei Staaten erlöschen, wenn die
Vertragschließenden miteinander in Krieg geraten, was, juristisch
betrachtet, nur ein Gemeinplatz ist, nannte er "eine höchst alberne
Lehre (a most preposterous doctrine), eine Lehre, die keine Regierung im Ernst
aufrecht erhalten kann, wenn sie noch etwas Selbstachtung und Rücksicht
auf die Grundsätze des guten Glaubens hat. Es wäre für ein
zivilisiertes Land höchst schmachvoll, auf solchem Standpunkt zu stehen".
Die Überschreitung der jütischen Grenze war in seinen Augen eine
unentschuldbare Vergewaltigung (outrage, violence). Selbst der milder gesinnte
Lord John Russell sprach von "einem höchst ungerechtfertigten Kriege (a
most unjustifiable war)". Als die preußischen Truppen im Gefecht die
Stadt Sonderburg beschossen hatten, nannte Lord Shaftesbury im Oberhaus das
eine der grausamsten, gewalttätigsten Handlungen, die jemals begangen
worden, oder von denen die Geschichte nicht nur bei zivilisierten, sondern sogar
bei unzivilisierten Völkern berichte. Er fand, die preußische
Regierung und das preußische Heer könnten nicht mehr unter die
zivilisierten Menschen und Nationen gezählt werden, und sprach die
Hoffnung aus, die britische Flotte werde in jenen Gewässern erscheinen
und die Wiederholung "dieser höchst feigen und schrecklichen Greuel
(these most cowardly and frightful atrocities)" verhindern. Da war man
also schon bei den unentbehrlichen "Greueln" angelangt! Lord Russell
mußte erklären, man erwarte darüber Auskunft aus Berlin.
Auch im Unterhaus fragte ein Redner, welche Schritte das Kabinett getan habe,
um die preußische Regierung an die Notwendigkeit zu erinnern, den Krieg
gemäß den Bräuchen zivilisierter Völker zu
führen? Die Regierung mußte sich andauernd die schärfsten
Vorwürfe gefallen lassen, weil sie sich nicht entschließen konnte, von
Worten zu Taten überzugehen. Die Halbheit, Unaufrichtigkeit und
Unzuverlässigkeit ihres Verhaltens erfuhr den denkbar schärfsten
Tadel.
Der Vorwurf war berechtigt und ließ sich um so weniger entkräften,
da die Minister die Wahrheit nicht sagen konnten: daß sie in der Hauptsache
entgegengesetzter Ansicht, Russell gegen und Palmerston für kriegerische
Maßregeln waren, daß die Königin, teils ihrer alten Abneigung
gegen Palmerston, teils ihren starken Sympathien für Deutschland folgend,
mit großer Klugheit zu bremsen verstand, und
endlich – dies war die
Hauptsache – daß man sich nur mit Frankreich zusammen
weiter vorwagen konnte, Napoleon aber für ein
ge- [16] meinsames Einschreiten
nicht zu haben war, oder doch nur um einen Preis, den man zu hoch fand,
nämlich die Erwerbung des linken Rheinufers. In der glänzenden
Einsamkeit, in der England sich befand, und die Bismarcks meisterhafte
Diplomatie zu erhalten und zu steigern wußte, konnte es in der Tat nichts
tun, als drohen. Es erreichte damit wohl, daß die österreichische
Flotte, die schon in der Nordsee erschienen war, die Fahrt in die Ostsee
unterließ, die Palmerston für eine Beleidigung Englands erklärt
hatte. Das Schicksal Dänemarks konnte es damit doch nicht wenden. Es hat
mit seiner unverantwortlichen Hetzerei Bismarck das Spiel nur erleichtert: im
Vertrauen auf englischen Beistand entwickelten die Dänen jenen starren
Trotz, der die Durchführung des Krieges vor aller Welt rechtfertigte.
Aber wenn sie auch England allein ließen, so waren die beiden anderen
Großmächte doch durchaus nicht gewillt, Preußen bei einer
Annexion der Herzogtümer zu unterstützen. In Rußland
wünschte der Reichskanzler Gortschakow, die Macht Dänemarks
möglichst ungeschmälert zu erhalten, um es nach Bedarf gegen
Schweden oder Preußen benutzen zu können. Und
Napoleon III. bemühte sich zwar wiederholt, Preußen zur
Eroberung der Herzogtümer zu treiben, aber es war kein Zweifel, daß
er es damit nur in Verwicklungen zu bringen gedachte, in denen es von ihm
abhängig werden und ihn zu bezahlen genötigt sein würde.
Endlich Österreich! Es beteiligte sich am Kriege ja wesentlich, um zu
verhindern, daß Preußen ihn allein führe und außer der
Beute des Landes auch den Ruhm des nationalen Verdienstes davontrage.
Wir müssen es uns an dieser Stelle versagen, zu verfolgen, wie es Bismarck
gelang, allen diesen heimlichen und offenen Widerständen zum Trotz sich
seinem Ziele zu nähern, den Krieg zu führen, an dem man ihn
hindern wollte, und Österreich zur Teilnahme zu bewegen, wie er es
verstand, durch scheinbare Nachgiebigkeit den Gegner zum Widerstand zu
ermutigen, ihm die Verantwortung für den Bruch aufzubürden und
die Uneinigkeit der Neutralen so gründlich auszunutzen, daß sie
schließlich alle, ganz gegen ihren Willen, ihm freie Hand zur Abrechnung
mit Dänemark lassen mußten. Er hat dabei lange Zeit unter falscher
Flagge segeln und wiederholt sich den Anschein geben müssen, als erstrebe
er gerade das, was er nicht wollte, um dem Gegner die Ablehnung zuschieben zu
können. In seinen öffentlichen Äußerungen konnte er
sich zunächst nur einer sehr allgemeinen Redeweise bedienen.
"Deutschland – so schrieb die Provinzial-Korrespondenz am
6. Januar 1864 –, einmal im Besitz von Schleswig und
Holstein, kann keine Lösung der Frage mehr zulassen, durch welche nicht
allen seinen Forderungen volles und unbedingtes Genüge geschähe."
Aber [17] worin bestanden "alle
seine Forderungen"? Darüber war man ja keineswegs einig. Als die
preußischen Truppen Schleswig eroberten und die Öffentlichkeit
anfing, ungeduldig nach den Endzielen der Regierung zu fragen, lautete die
Antwort (17. Februar): "Darüber kann und darf die Regierung sich
mitten im Laufe des Krieges noch gar nicht unbedingt erklären. Nur das
eine muß für sie feststehen, und daran hält sie ganz
gewiß fest, nachdem sie einmal zum Kriege für die
Herzogtümer geschritten ist, nämlich das Höchste für
die Herzogtümer und für Deutschland durch diesen Krieg zu
erreichen." Dieses Höchste sei die volle Sicherheit "gegen jede
Rückkehr dänischer Gewaltherrschaft und die Vereinigung von
Schleswig und Holstein für alle Zukunft". In welcher Weise und namentlich
unter welcher Herrschaft das am sichersten erreicht würde, das ließ
auch diese Erklärung offen. Noch am 25. Mai betonte der
König in seiner Antwort auf die Arnimsche Adresse gegenüber der
Anspielung auf die Annexion: "Es ist zu beachten, daß die preußische
Regierung ihrerseits nichts dazu getan hat, die Meinung hervorzurufen, daß
sie selber eine solche Lösung herbeiführen wolle. Weder in den
Verhandlungen mit anderen Mächten noch in irgend welchen
Äußerungen, die von der Regierung herrührten oder
über die Willensmeinung derselben Aufschluß geben konnten, ist auf
eine Absicht hingedeutet worden, für Preußen selbst eine
Machterweiterung jenseits der Elbe zu gewinnen." Noch vorsichtiger und
versteckter war die Art, wie Bismarck sich in den diplomatischen Verhandlungen
seinem Ziele zu nähern wußte. Da erklärte er sich zuerst
für die Integrität der dänischen Monarchie, die er zu
zerstören vorhatte, dann für die Personalunion der
Herzogtümer mit der dänischen Krone, die er nicht wünschte,
zuletzt für die Kandidatur des Augustenburgers, die er nur für den
Notfall zuzulassen und, wenn möglich, zu Fall zu bringen entschlossen
war.1 So erreichte er, indem er das, was er
wollte, vor der Welt sorgfältig versteckte, daß Europa ihm nicht in
den Arm fiel und Österreich ihm half. Als Dänemark um Frieden bat,
war er in der Lage, das Schicksal der eroberten Herzogtümer zu regeln.
Er hat es nicht getan. Es ist das Kennzeichen des Wiener Friedens, daß er
die Frage offen läßt, um die der Krieg geführt war. Der
König von Dänemark hat Schleswig und Holstein an Preußen
und [18] Österreich
abgetreten und im voraus alles anerkannt, was die Sieger darüber
verfügen werden. Aber die Sieger verfügen gar nicht, sie lassen in
der Schwebe, was mit dem Lande geschehen soll.
Dem normalen politischen Ordnungssinn muß das widerstreben. Die Akten
sind nicht vollständig, es fehlt der Abschluß; das Faszikel bleibt als
"Rückstand" auf dem Tische liegen. Ein wohlerzogener Staatsbeamter
könnte sich dabei nicht beruhigen; er würde suchen, das Fehlende so
schnell wie möglich zu ergänzen. Auch die große Masse der
Nation hat so empfunden. Daß man in Wien weder den Augustenburger
einsetzte noch die Einverleibung in Preußen verfügte, hat allgemein
Anstoß erregt, und es hagelt in der nächsten Zeit Vorwürfe
gegen den Minister, der die wichtigsten nationalen Angelegenheiten in so
unverantwortlicher Weise führe. Es war noch maßvoll
ausgedrückt, wenn der sonst so höfliche und korrekte liberale
Politiker Bunsen sein Verfahren "leidlich inkonsequent und springend, unleidlich
schroff und im Dunkeln tappend" nannte und die Frage an ihn richtete, "ob es an
der Zeit sei, die schleswig-holsteinische Frage immer noch in dem Hangen und
Bangen zu belassen, worin sie nun schon so lange gewesen"; nachdem neun
Zehntel aller darin liegenden Schwierigkeiten gehoben seien, wegen des letzten
Zehntels den Frieden eines großen Landes und die Geschicke eines
kleineren in Ungewißheit zu erhalten?
Kein Zweifel, daß diese Unvollständigkeit durchaus beabsichtigt,
daß sie keineswegs ein Ergebnis der Verlegenheit war. Als Kaiser Franz
Josef und König Wilhelm mit ihren Ministern Ende August in
Schönbrunn berieten, hätten sie ebensogut die Einsetzung des
Prätendenten wie die Einverleibung der Herzogtümer in
Preußen aussprechen können. Die Annexion hatte Bismarck schon im
Mai in Wien vertraulich angeregt für den Fall, daß Österreich
mit ihr einverstanden wäre. Jetzt war Österreich dazu bereit, wenn
ihm ein entsprechender Gegendienst geleistet wurde. Da die Abtretung der
Grafschaft Glatz, die der Kaiser wünschte, mit gutem Grund sofort
zurückgewiesen wurde, hätte man sich auf der Grundlage
verständigen können, daß Preußen dem Hause Habsburg
den Besitz von Venetien, Istrien und Dalmatien verbürgte. Darüber
ist verhandelt worden; Graf Rechberg, der österreichische
Auslandsminister, befürwortete es lebhaft, Bismarck schien nicht
abgeneigt. Woran es schließlich scheiterte, ob an der stillen, aber
mächtigen Opposition der Wiener Preußenfeinde, ob an anderen
Hindernissen, ist nicht recht klar und wird es schwerlich jemals sein, da die
Verhandlungen mündlich geführt wurden. Man kann sich aber kaum
denken, daß Bismarck damals wirklich so bereit gewesen sein sollte, die
Bürgschaft für den österreichischen Besitz am Adriatischen
Meere zu übernehmen, wie er selbst später wohl behauptet hat.
Dieser Schritt [19] hätte ihm seine
guten Beziehungen zu Frankreich unheilbar zerstört, da Napoleon auf
nichts anderes sann, als Österreich auch aus Venetien zu vertreiben.
Freiwillig hätte sich Preußen der Möglichkeit einer Anlehnung
an Frankreich beraubt, deren es unter Umständen noch sehr bedürfen
konnte; es hätte die beneidenswerte Stellung geräumt, in der es sich
zur Zeit befand, von allen Großmächten umworben zu sein. Sollte es
das tun, dann konnte nicht nur Schleswig-Holstein der Preis sein, dann
mußte die gesamte deutsche Frage durch Übereinkunft mit Österreich
gelöst werden. Widerstrebte dem das Mißtrauen einflußreicher
Personen am Wiener Hofe, so wissen wir, daß auf der anderen Seite
König Wilhelm gegen die Besitzergreifung von Schleswig-Holstein
Bedenken hatte. Er habe ja, meinte er, kein Recht darauf.
Daß die Einsetzung des Augustenburgers damals nicht erfolgte, ist leicht zu
verstehen. Bismarck
wollte sie nicht und hatte es gegenüber dem nicht sehr
geschickten und schlecht beratenen Prinzen nicht schwer, sie zu verhindern. Denn
noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, die Annexion später einmal
durchzusetzen. Schon aus diesem Grunde war es vorteilhaft, die Frage
zunächst offen zu lassen. Das empfahl sich aber auch unter dem
Gesichtspunkt der allgemeinen Beziehungen Preußens zu Österreich.
Es wird glaubwürdig berichtet, daß der Gedanke des Grafen
Rechberg, die Herzogtümer vorläufig zu teilen, so daß
Preußen Schleswig, Österreich Holstein erhielte, in der Erwartung,
daß bei einer bevorstehenden europäischen Krisis und eines
gemeinsamen Kampfes gegen Frankreich sich die Möglichkeit eines
Austausches bieten
werde, – daß dieser an sich nicht üble Gedanke an dem
Widerspruch des einflußreichen Wiener Hofrates v. Biegeleben
gescheitert sei, der fand, man hätte dann "keine Reibungspunkte mit
Preußen". Ohne daß es ausdrücklich überliefert
wäre, können wir annehmen, daß derselbe Gedanke in
entsprechender Umkehrung auch für Bismarck maßgebend war. Die
schleswig-holsteinische Frage zu erledigen empfahl sich nur dann, wenn
gleichzeitig auch das gesamte Verhältnis Preußens zu
Österreich, das heißt, wenn die ganze deutsche Frage gelöst
wurde. Da dies nicht geschah, weil die maßgebenden Personen im Rate des
Kaisers von Österreich, Biegeleben, Belcredi, Esterhazy, es nicht wollten,
so war nichts erwünschter, als einen festen Reibungspunkt zu behalten, an
dem man einen Konflikt nach Bedarf jederzeit entzünden konnte. Auch im
Ausland erkannte man das. Die Times schrieben schon damals, es werde bald
ernstliche Verwicklungen setzen, wenn die Beute zwischen den beiden deutschen
Adlern geteilt werden solle. So kam die gemeinsame Besetzung der eroberten
Herzogtümer zustande. Schleswig und Holstein wurden gleichsam bereit
gelegt wie Stahl und Feuerstein, um im gegebenen Moment den Funken zu
entzünden, aus [20] dem sich das große
Feuer entfachen ließ, dessen es bedurfte, um die Einheit Deutschlands unter
Preußens Führung zu schmieden.
Es gab in der Angelegenheit noch einen Punkt, der durch den
Friedensschluß nicht endgültig geregelt wurde: die Nordgrenze des
Landes. Die Friedensurkunde setzte sie zwar mit aller wünschenswerten
Genauigkeit fest, aber es war ein öffentliches Geheimnis, daß diese
Festsetzung keine abschließende sein sollte. Die Frage, die damit gestellt
war, hat noch 14 Jahre auf ihre formelle Lösung geharrt, und auch
als diese erfolgt war, doch nicht aufgehört zu existieren.
Die geschichtliche Grenze des Herzogtums Schleswig umfaßte im Norden
einen Bezirk von vorzugsweise dänischer Bevölkerung. Es
hätte nahe gelegen, ihn bei Dänemark zu lassen. Schon in den
internationalen Verhandlungen, die neben dem Kriege einherliefen, war das
beständig erwogen worden. Napoleon III., der Bannerträger
des Nationalitätsprinzips, hatte sich für eine Teilung Schleswigs nach
der Sprachgrenze bemüht und eine Volksabstimmung entscheiden lassen
wollen. Bismarck hatte dem nicht widersprochen. Eine Grenze, die etwa der Linie
von Flensburg nach Tondern oder wenigstens von Apenrade nach Tondern folgte,
hätte diesem Gedanken genügt. Privatim hat Bismarck selbst noch
kurz vor der Ratifikation des Friedens sich dahin ausgesprochen, daß man
möglicherweise diesen nördlichen Grenzstrich an Dänemark
zurückgeben könne. Als Österreich im Prager Frieden 1866
die Abtretung der österreichischen Rechte auf Schleswig und Holstein
aussprach, da ist bekanntlich im Paragraphen 5 der Vorbehalt gemacht
worden, daß in Nordschleswig künftig die Bevölkerung
gehört werden solle, ob sie preußisch oder dänisch sein wolle.
Erst 1878 ist das durch Verzicht Österreich-Ungarns auf diesen Paragraphen
beseitigt worden. Bis dahin also war die Nordgrenze von Schleswig eine
völkerrechtlich offene Frage. Was ihn zu diesem Verfahren bestimmt hat,
darüber hat Bismarck sich niemals klar ausgesprochen; man muß
seine Beweggründe erraten, aber man kann sie auch erraten.
Zunächst ist wohl nicht zu bezweifeln, daß die Aussicht auf eine
Entscheidung durch Plebiszit nichts anderes war als ein Zugeständnis an
Napoleon. Sie gehört zu den kleinen Rücksichten und
Verbeugungen, durch die Bismarck den Kaiser zu stimmen suchte, solange er ihn
brauchte. Aber warum hat er dann nicht die Abstimmung sogleich vornehmen
lassen oder, noch besser, da doch niemand im Zweifel war, wie sie ausfallen
würde, auf den vorwiegend dänischen Bezirk verzichtet? Es
hätte doch nahe gelegen, sich die Schwierigkeiten, die aus diesem Besitz
mit der Zeit sicher erwachsen würden, von vornherein zu ersparen.
Es ist in hohem Maße lehrreich, daß Bismarck dies nicht getan hat
und warum er es nicht getan hat. Zweimal hat er sich darüber
aus- [21] gesprochen, wenn auch
immer nur andeutend. Am 2. Juni 1865, als ihm im Preußischen
Abgeordnetenhaus, nach dänischen Gewährsmännern,
vorgehalten wurde, er halte selbst Flensburg für eine dänische Stadt,
erwiderte er, das sei erlogen. "Ich halte Flensburg für eine deutsche Stadt,
und selbst wenn es eine dänische Stadt wäre, so würde ich sie
nicht herausgeben." Die Erklärung liegt darin, daß Flensburg damals
noch mehr als heute der größte und wichtigste Hafen des ganzen
Landes, sein Besitz also schon aus diesem Grunde unentbehrlich war. Von
allgemeiner Bedeutung ist die Äußerung im Abgeordnetenhaus am
20. Dezember 1866. "Die vollständige Durchführung des
Nationalitätsprinzips," sagt Bismarck hier, "ist bekanntlich auf der
dänischen Grenze ganz unmöglich, weil die Nationalitäten so
gemischt sind, daß sich nirgends eine Grenze, die sie vollständig
voneinander sondert, ziehen läßt... Ich bin stets der Meinung
gewesen, daß eine Bevölkerung, die wirklich in zweifellos und
dauernd manifestiertem Willen nicht preußisch oder nicht deutsch sein will,
die in zweifellos manifestiertem Willen einem unmittelbar angrenzenden
Nachbarstaat ihrer Nationalität angehören will, keine Stärkung
der Macht bildet, von welcher sie sich zu trennen bestrebt ist. Man kann
zwingende Gründe haben, dennoch auf ihre Wünsche nicht
einzugehen, die Hindernisse können geographischer Natur sein, die es
unmöglich machen, solche Wünsche zu berücksichtigen. Es
fragt sich, ob und inwieweit das hier zutrifft. Die Frage ist eine offene, wir haben
jederzeit bei ihrer Erörterung hinzugefügt, daß wir uns niemals
dazu herbeilassen können, unsere militärische Sicherheitslinie durch
irgendein Arrangement zu kompromittieren."
Damit ist deutlich genug gesagt, daß es Gründe
militärgeographischer Natur waren, die den Verzicht auf Nordschleswig
widerrieten. Das Studium der Karte klärt einen darüber auf. Wenn
z. B. Flensburg, wie wir sahen, aus verkehrspolitischer Notwendigkeit
deutsch bleiben muß, so darf das nördlich angrenzende Land nicht
dänisch sein, weil sonst die Flensburger Föhrde unter
dänischen Kanonen (Düppel, Alsen) läge. Die
südlichste Grenze, die zu ertragen wäre, würde also von
Apenrade nach Tondern laufen. Aber auch gegen sie erheben sich starke
Bedenken, diesmal an der Westküste. Hier ist die Gefahr einer feindlichen
Landung um so viel größer, wie die Küstenstrecke, die nicht in
deutschen Händen ist, länger wird. Volle Sicherheit würde
freilich erst der Besitz des Hafens
Esbjerg – der übrigens erst nach 1870 ausgebaut
wurde – mit der vorgelagerten Insel Fanö gewähren.
Aber wenn das der einzige Stützpunkt eines landenden Feindes ist,
läßt er sich leicht unschädlich machen. Dafür sorgt denn
auch das Bahnnetz von Schleswig-Holstein in nachdrücklicher Weise. Ein
Feind, der dort – mit oder ohne Zustimmung
Dänemarks – landen wollte, würde [22] gebührend
empfangen werden. Einmal war es nahe daran, als die Engländer im Herbst
1911 eine Landung mit 100 000 Mann "in Holstein" planten. Statt Holstein war
hier natürlich Dänemark zu lesen. Denn im Schleswiger
Wattenmeer, geschweige denn gar im wirklichen Holstein, eine Armee
auszuschiffen, wenn die Küste verteidigt wird, ist ein abenteuerlicher
Gedanke. Schade, daß das Experiment nicht gemacht wurde! Es hätte
klar bewiesen, daß wir eine feindliche Landung an unserer Küste
überhaupt nicht zu fürchten haben und einer solchen auf
dänischem Boden mit Erfolg begegnen können, wenn für sie
nur der eine Ausschiffungspunkt Esbjerg zur Verfügung steht. Gäbe
man aber die südlich angrenzende Küste bis Tondern mit den Inseln
Romö und Sylt (dessen Nordhälfte dänisch ist) auf und
überließe sie einem Nachbar, dessen Gesinnung und Kraft man nicht
sicher ist, so hätte der Feind einen so breiten Raum, an dem seine Truppen
an Land gehen könnten, und so ausgiebige Stützpunkte, daß
die Abwehr schon schwierig wäre. Sollen also die Küstenstriche und
Inseln Dänemark überlassen werden, so muß Deutschland zum
mindesten der wohlwollenden und kraftvoll vertretenen Neutralität
Dänemarks unter allen Umständen sicher sein. Nur ein
endgültig versöhntes und dauernd freundnachbarliches
Dänemark durfte Nordschleswig haben.
Vielleicht hat Bismarck sich für diesen Fall ehrlicher Aussöhnung
die Möglichkeit der Rückgabe zunächst offen halten wollen.
Aber die Aussichten darauf wurden mit den Jahren nicht besser, und als die
Vermählung der Prinzessin Thyra mit dem welfischen Prätendenten
von Hannover im Jahre 1878 zeigte, daß das dänische
Königshaus noch immer nicht gesonnen sei, das Geschehene als
endgültig anzuerkennen, da zog er den Strich unter die Rechnung,
ließ sich von der gegen Österreich allein eingegangenen
Verpflichtung zur Befragung der Leute von Nordschleswig entbinden und begann
auch in der Verwaltung das Land als für immer preußisch zu
behandeln.
Lehrreich ist dieser Fall nebenbei darum, weil er zeigt, wie wenig Bismarck sich
durch das Prinzip der Nationalität gebunden fühlte, wo es sich um
die Bestimmung der Staatsgrenzen handelte. Wie ihm im gesamten Staatsleben
die Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit höher stand als
jedes Prinzip, so hat er auch in der Frage der Grenzen sich nicht nach einem
Prinzip, und sei es noch so allgemein anerkannt, sondern einzig und allein nach
den Gesetzen des Nützlichen und Notwendigen gerichtet, die auf diesem
Gebiet von der Geographie diktiert werden.
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