Was das Genie tut, muß gerade die schönste Regel sein,
und die Theorie kann nichts Besseres tun, als zu zeigen,
wie und warum es so ist. — Clausewitz.
[6]
Diese Schrift ist schon im Herbst 1915 verfaßt und gesetzt worden.
Umstände, auf die mir kein Einfluß zustand, verhinderten ihr
Erscheinen bis heute. Dadurch erklärt es sich, daß auf die
inzwischen – im Frühjahr
1916 – erschienenen Bücher von Erich Brandenburg (Die
Reichsgründung und Untersuchungen und Aktenstücke zur
Geschichte der Reichsgründung) noch keine Rücksicht genommen
ist, obwohl sie die gleichen Dinge behandeln und die gleichen Quellen benutzen.
Daß ich mich mit dem Verfasser in den Hauptsachen im Einklang befinde,
darf ich mit Freuden feststellen.
Tübingen, im August 1916. Haller.
[7]
Einleitung
Frieden schließen ist schwerer als Krieg führen. Es muß wohl
so sein; wie wäre sonst die Geschichte so reich an Beispielen, daß ein
glücklich, ja glänzend durchgeführter Krieg durch einen
verfehlten Frieden beendet wurde? Napoleon I., der größte Sieger auf
dem Schlachtfeld, den die neuere Geschichte kennt, verstand nicht Frieden zu
schließen. So oft er ihn auch diktieren konnte, ebenso oft wurde der
Friedensschluß der Auftakt zu neuem Krieg. Das ist mit ein Grund
dafür, daß alle seine kriegerischen Erfolge schließlich doch zu
seinem Sturze führten. Aber auch seine Überwinder haben die
Aufgabe mangelhaft gelöst. Als gelungen kann der Wiener Friede von
1815, der die Ära der napoleonischen Kriege beendet, nicht gelten. Die
Ordnung, die er schuf, konnte nicht von Dauer sein, weil sie gegen die Natur der
Dinge verstieß, indem sie die Nationen, die seit 1789 überall zum
Selbstbewußtsein erwacht waren, ganz nach der Weise altmodischer
Kabinettspolitik als nicht vorhanden betrachtete. Nicht nur Italien, dem das Wort
des russischen Ministers Pozzo di Borgo galt, auch Deutschland mußte "um
der Ruhe Europas willen" seine Rechte als Nation zum Opfer bringen,
während in dem künstlich zusammengeklebten Königreich der
Vereinigten Niederlande verschiedene Völker zu einer Nation sich
vereinigen sollten, die nichts miteinander gemein hatten.
Aber auch abgesehen
von diesen groben Konstruktionsfehlern, die denn auch den allmählichen
Einsturz des Gebäudes herbeigeführt haben, wurde der Hauptzweck,
den die Sieger verfolgten, schlecht genug verwirklicht. Sie wollten vor allen
Dingen sich gegen eine Wiederholung französischer Eroberungen
schützen; aber es dauert keine fünfzehn Jahre, so sehen wir Europa
wiederum von den alten Gefahren beunruhigt und bedroht: ganz wie unter
Ludwig XIV. und während der Revolution streckt Frankreich in dem
berüchtigten Polignacschen Teilungsplan die Hand nach Belgien und dem
Rheinland aus. Ein Jahr später bricht das Hauptbollwerk, das man ihm
entgegengestellt, auseinander, das künstliche Königreich der
Vereinigten Niederlande spaltet sich in seine natürlichen Bestandteile, und
die nicht weniger künstliche Schöpfung des neutralen
Königreichs Belgien zeigt nur die Verlegenheit, in der man sich befand, als
es galt, die Bresche irgendwie zu verschließen. Zehn Jahre darauf (1840)
hallt die Welt abermals wider von französischen Rheingelüsten, und
vollends seit die Revolution von 1848 wieder einem Bonaparte auf einen
französischen Kaiserthron verholfen hat, vermag Frankreich sich binnen
weniger Jahre zur führenden Macht auf dem europäischen Festland
emporzuschwingen – gerade das, woran [8] die Satzungen des Wiener
Friedens es hatten verhindern sollen. Sein altes Ziel, die Rheingrenze und den
Besitz von Belgien, hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach auch erreicht
und die Macht Ludwigs XIV. erneuert, wäre dem kleinen Talente
Napoleons III. nicht im entscheidenden Augenblick das überlegene Genie
eines deutschen Staatsmannes entgegentreten, der freilich seinerseits gekommen
war, das Werk des Wiener Kongresses nicht zu retten, sondern weiter zu
zerstören.
Worin für den Sieger die Schwierigkeit beim Friedensschluß liegt, ist
leicht zu sagen: Es kommt darauf an, im richtigen Zeitpunkt die Waffen
niederzulegen und, was damit in der Regel zusammenhängt, aber nicht
ohne weiteres zusammenfällt, das Maß der Forderungen richtig zu
bestimmen. Nur selten ist dieses Wann und Wieviel durch die Lage der Dinge mit
voller Klarheit vorgeschrieben. Friedrich der Große konnte im ersten und
zweiten Schlesischen Kriege nicht im Zweifel sein, was er fordern wolle. Von
Anfang an war der Besitz von Schlesien sein Kriegsziel gewesen; es war
gewonnen, und mehr zu erstreben, konnte auch dem Sieger nicht beikommen. Um
so schwieriger war es, den Augenblick zu erkennen, in dem der neue Erwerb
für so gesichert gelten konnte, daß es Zeit war, aus dem Spiel
auszutreten. Noch einfacher lagen die Dinge im Siebenjährigen Kriege.
Hier galt es, in der Verteidigung Frieden zu schließen. Seit die Niederlagen
von Kolin und Kunersdorf die Hoffnung auf den Gewinn von Sachsen als
Siegespreis zuschanden gemacht hatten, war das höchste mögliche
Ziel nur noch die unverkürzte Erhaltung des preußischen Staates. Der
Friede durfte und mußte geschlossen werden, sobald die Gegner den status
quo ante bellum zu bewilligen bereit waren. Dagegen ist wohl allgemein
zugestanden, daß Napoleon I. im Jahre 1806 den richtigen Augenblick zum
Frieden mit Preußen ebenso versäumt hat, wie er im nächsten
Jahr das Maß der Friedensbedingungen verfehlte. Hätte er es
über sich gewonnen, gleich nach dem Siege von Jena Frieden anzubieten
und Preußen, statt es bis zur Ohnmacht herabzudrücken, vielmehr
zum Bündnis gegen England mit der Aussicht auf Gewinn zu bestimmen,
sein ganzes späteres Schicksal hätte eine andere Gestalt gewonnen.
Indem er, der abenteuerlichen Gewaltsamkeit seiner Natur folgend, der
Versuchung nicht widerstand, den Triumph des Sieges über den am meisten
bewunderten Militärstaat bis zur Neige auszukosten, gab er Rußland
Zeit und Anlaß, einzugreifen und sah sich infolgedessen schließlich
auch nach weiteren Siegen nicht mehr in der Lage, den Frieden zu diktieren. Im
Frieden von Tilsit (1807) mußte er mit Alexander I. ein Kompromiß
schließen, der zum Prellstein wurde, an dem schon sechs Jahre später
sein Triumphwagen zerbrechen sollte. Indem er den preußischen Staat bis in
den Staub demütigte, ihn aber doch dem Zaren [9] zuliebe fortbestehen
lassen mußte, hatte er sich auch unter den festländischen
Mächten den Todfeind geschaffen, der seinen Sturz unter allen
Umständen erstreben mußte und zuletzt auch das meiste dazu
beigetragen hat.
In diesem Falle hat es Jahre gedauert, bis der im entscheidenden Augenblick
bewiesene Mangel an Augenmaß sich rächte. In anderen Fällen
sind die Folgen unmittelbar hervorgetreten. Das klassische Beispiel einer
Überschätzung des eigenen Erfolges und darauf gegründeter
Überforderung ist der Präliminarfriede von San Stefano zwischen
Rußland und der Türkei 1878. Hätte damals Graf Ignatjew
oder Fürst Gortschakow, wer immer der Schuldige war, nicht den Bogen
der Zugeständnisse, die der Türkei auferlegt wurden, so
überspannt, daß England und Österreich-Ungarn zum
Einschreiten genötigt wurden, so wäre Rußland die
Demütigung des Berliner Kongresses erspart geblieben, auf dem es wie ein
Angeklagter erscheinen und sich vom europäischen Gerichtshof den
Verzicht auf die Hälfte des Siegespreises diktieren lassen mußte, den
es schon in Händen hielt, wie etwa ein Knabe die Äpfel wieder
herausgeben muß, die er in Nachbars Garten gepflückt hat.
Der Vorgang ist um so auffälliger, weil dasselbe Rußland an
derselben Stelle früher einmal ein ebenso klassisches Beispiel von
Maßhalten im Erfolg gegeben hatte. Als der Feldmarschall Diebitsch nach
einem beispiellos kühnen Feldzug im Sommer 1829 vor den Toren von
Konstantinopel stand, beschränkte er sich im Frieden von Adrianopel auf so
bescheidene Forderungen, wie sie noch nie einem Sieger nach solchen Erfolgen
genügt hatten. Abtretung von ein paar asiatischen
Küstenplätzen, Anerkennung der griechischen Autonomie und eine
Kriegsentschädigung, die überdies nachträglich noch
ermäßigt
wurde – das war äußerlich in keinem Verhältnis
zu den vorausgegangenen Waffentaten. Die eigentliche Errungenschaft stand
freilich nicht in der Vertragsurkunde: die geschlagene Türkei, die mit der
Macht zugleich die Großmut des Siegers erfahren hatte, warf sich ihm
völlig in die Arme, und aus dem Frieden von Adrianopel ging vier Jahre
später (1833) das Bündnis von Hunkiar Skelessi hervor, das den
Zaren zum Beschützer des Sultans und diesen zum Torwächter des
russischen Reiches machte. Rußland versprach der Türkei Hilfe in
jeder Not und empfing dafür die Zusage, daß im Kriegsfall die
Dardanellen auf seinen Wunsch geschlossen werden sollten. Ein Zustand, den
bekanntlich noch Bismarck
als das wahre Ziel wohlverstandener russischer
Orientpolitik ansah.
Umgekehrt bieten die Wiener
Friedensschlüsse von 1815 mehr als ein
Beispiel unangebrachter Zurückhaltung, die sich nur zum Teil aus der
damals herrschenden und nur zu begreiflichen
Kriegsmüdig- [10] keit erklärt.
Daß Alexander I. in der damaligen Lage nicht den Mut fand, um den Besitz
des ganzen ehemaligen Königreichs Polen einen neuen Krieg an der Seite
Preußens gegen England, Frankreich und Österreich zu wagen, das ist
psychologisch zu verstehen. Aber darum bleibt es doch richtig, daß der
Kaiser, indem er sich mit einem Teil des Landes, wenn auch dem
größten, begnügte, vielleicht die einzige Gelegenheit unbenutzt
gelassen hat, die polnische Frage wirklich zu lösen. Daß England, der
eigentliche Sieger im Kampfe, auf jeden Landerwerb verzichtete, hat bekanntlich
schon Napoleon getadelt, und in einem Punkte hatte er allerdings recht. Vom
englischen Standpunkt aus wäre es das Richtige gewesen, Antwerpen, wenn
man es gegen französische Eroberung sichern wollte, selbst in die Hand zu
nehmen, anstatt es samt seinem Hinterland einem Mittelstaat zu überlassen,
der es nicht behaupten konnte. War hier Mangel an Unternehmungslust die
Ursache falscher
Enthaltsamkeit – es ist einer der vielen Fälle, wo die echt
englische Maxime zur Wirkung kommt, auch in der Politik andere für sich
arbeiten zu lassen und die eigenen Kräfte zu
schonen –, so führte Mangel an Einsicht dazu, daß das
Elsaß bei Frankreich blieb, wodurch diese Macht, auf deren Fesselung es
doch eigentlich abgesehen war, die Möglichkeit behielt, den Hauptzweck
des Kongreßfriedens nach und nach zu vereiteln.
Ein Muster eines unter schwierigsten Verhältnissen mit scharfem
Augenmaß zur rechten Zeit und in der richtigen Weise gefundenen
Abschlusses nach langem Kriege gibt es aus älterer Zeit. Das ist die
französische Hälfte des sogenannten Westfälischen Friedens,
der Friede von Münster zwischen Frankreich und dem Reich (1648).
Denkbar glücklich war der Augenblick gewählt: der
Friedensschluß trennte Österreich von Spanien, das nun, allein
gelassen, den kürzeren ziehen mußte. Gering erschien,
äußerlich gemessen, der Landgewinn Frankreichs: die
habsburgischen Besitzungen und Rechte im Elsaß, ein paar
unzusammenhängende Fetzen. Aber dieser kleine Stützpunkt
genügte, eine feste Angriffsstellung gegen Deutschland zu nehmen, sich
beständig in die inneren deutschen Angelegenheiten zu mischen, mit der
Zeit das ganze Elsaß zu annektieren und sich damit die strategische
Beherrschung von Süddeutschland zu sichern. Die Aufnahme Schwedens
unter die deutschen Reichsstände, seine Ausstattung mit deutschem Gebiet
verschaffte Frankreich einen zuverlässigen Sekundanten, und die so
erfolgreich gespielte Rolle des Schützers deutscher Libertät gegen
kaiserlichen Absolutismus machte den französischen König zum
ständigen Gegenkaiser. Auf diesen scheinbar bescheidenen, in Wirklichkeit
mit höchster Klugheit gewählten Errungenschaften ruht in der
folgenden Zeit die französische Hegemonie in Europa, sie bedeutet die
politische Voraussetzung für das [11] Zeitalter Ludwigs XIV.
Daß der Sonnenkönig sich mit der erworbenen Stellung nicht
begnügen wollte, daß er in raschem Anlauf alles Land bis zum Rhein
und die Kaiserkrone dazu gewinnen, das Reich Karls des Großen
wiederherstellen wollte, war freilich nicht im Geiste Mazarins, der den
Westfälischen Frieden schloß, und Richelieus, der ihn anbahnte, und
hat den Glanz ihres Meisterwerkes nur zu bald getrübt. Aber das, was sie
geschaffen, blieb dennoch bestehen, und mit ihm das Übergewicht Frankreichs
auf dem europäischen Festland.
Aber wir brauchen nicht in die Ferne zu schweifen, wenn wir nach gelungenen
Friedensschlüssen fragen. Die jüngste Vergangenheit hat ihrer drei
aufzuweisen, entstanden unter sehr verschiedenen Umständen und in sehr
verschiedener Absicht, und wenn auch nicht alle gleich vollkommen, so doch
jeder in seiner Art ein so klares Beispiel hoher staatsmännischer Weisheit
und Kunst, daß man sich in ihre Betrachtung wie in das Anschauen eines
klassischen Kunstwerkes immer aufs neue vertiefen möchte. Sie stehen uns
näher als alles Ähnliche, denn auf ihnen beruht unser eigenes
nationales und staatliches Dasein, sie sind das wahre Erbe unseres
Reichsgründers. Dreimal hat Bismarck
nach siegreichem Kriege Frieden zu
schließen gehabt. Jedesmal war die Aufgabe eine andere. Daß er sie
jedesmal gelöst hat, wird durch den Erfolg dargetan und hat er selbst mit
Genugtuung gefühlt. Noch in einer seiner letzten öffentlichen
Äußerungen, im Jahre vor seinem Tode, hat er es ausgesprochen: von
allen Erinnerungen, die ihn mit seiner Vergangenheit verknüpften, seien
ihm die Friedensschlüsse die angenehmsten. Wenn also Beispiele der
Vergangenheit überhaupt etwas wert sind, wenn das Wort von den Lehren
der Geschichte mehr ist als eine hergebrachte Redensart, so wird man aus
Bismarcks Friedensschlüssen etwas darüber hören wollen, wie
ein Sieger richtig Frieden schließen soll. Man wird dies um so mehr, da wir
über den Verlauf der Dinge in allen drei Fällen gut unterrichtet sind
und zudem den seltenen Vorzug genießen, über die Gedanken,
Erwägungen und Absichten des Meisters seine eigenen Aussprüche
zu vernehmen. Bismarck hat seine Friedensschlüsse nicht nur gemacht, er
hat sie auch selbst erläutert. Wir können ihm zusehen bei der Arbeit
und zugleich seinen belehrenden Worten lauschen. Wir können beobachten,
wie er die Bilder seines Geistes in Wirklichkeit umsetzt, wie er den gestaltlosen
Stoff der Tatsachen in feste Formen zwingt, wie er ihn mit sicherer Hand meistert,
ihn zu benutzen, aber auch zu schonen weiß, und wie ihm doch auch einmal
der Meißel ausgleitet und ein Griff mißlingt. So gewinnen wir
Einblick in das tiefe und doch so schlichte Geheimnis seiner Kunst und
dürfen hoffen, den eigenen Blick und das eigene Urteil zu schärfen
für Gegenwart und Zukunft.
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