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Süddeutschland - Eberhard Lutze
Nürnberg
Nürnberg stellt sich dem Besucher in dreierlei Gestalt vor: als alte deutsche
Reichsstadt, in der Albrecht Dürer malte und Hans Sachs sang, in der
jahrhundertelang die Reichskleinodien bewahrt wurden; als moderne
Großstadt, deren Industrie außerhalb des Saargebietes die
bedeutendste in Süddeutschland ist, und als Stadt der Reichsparteitage,
welcher Ehrentitel mit den glanzvollsten Heerschauen des Dritten Reiches
verbunden ist und dem Stadtbilde durch ein weit ausgreifendes Programm
entscheidende Züge aufprägen wird.
Aus welcher Richtung man sich auch Nürnberg nähert, überall
fährt man durch einen sandigen, kiefernbestandenen
Landschaftsgürtel, überall hört der gebirgige Charakter der
weiteren Umgebung auf und macht einer auf leichtem Boden fleißig
bestellten Kulturlandschaft Platz, deren Hopfenbau der herben Linienkargheit der
Horizontführung reizvoll stachliche Umrisse gibt. So ist Nürnberg
"auf ärmstem Frankengrund die reichste Frankenstadt". Den Gegensatz
zwischen des "Reiches Schatzkästlein" und seiner, an anderen
süddeutschen Gegenden gemessen, unscheinbaren Umgebung empfinden
nicht nur wir Heutigen als erstaunlich und rätselvoll, er ist, so
merkwürdig es klingt, einer der Gründe zu Nürnbergs
Aufblühen gewesen! Vermerkt doch der mit wahrhaft kaiserlichen
Handelsbegünstigungen ausgestattete Große Freiheitsbrief, den der
Staufer Friedrich II.
der Stadt im Jahre 1219 verlieh, und der der goldene
Boden späteren Nürnberger Gewerbefleißes werden sollte,
ausdrücklich als Begründung dieser bevorzugten kaiserlichen Gunst,
daß Nürnberg "weder Weinberge noch Schiffahrt besitze, vielmehr
auf einem sehr harten Boden gelegen sei".
Noch heute umzieht die Mauer - bis auf wenige verkehrstechnische
Lücken - den Bezirk der Altstadt. Die breite
Königstraße, deren altertümlicher Charakter durch zahlreiche
Bauten des vorigen Jahrhunderts verloren ist, führt an dem wuchtigen
hochgiebeligen Bau der Mauthalle vorüber geraden Weges zur
Lorenzkirche, die dem Stadtteil links der Pegnitz seinen Namen gegeben hat. Die
von drei schöngeschwungenen Brücken überspannte Pegnitz
mit galerieumgangenen, blumengeschmückten Häusern verbindet die
beiden Stadtteile zu malerischer Einheit. Auf dem anderen Ufer beherrscht die als
Baukörper ähnliche ältere Pfarrkirche St. Sebald das
Stadtbild. Der jenseits des jetzt
Adolf-Hitler-Platz genannten alten Hauptmarktes stetig ansteigende Stadtteil hat
durch die Burg, die Sebalduskirche, das Rathaus und den Marktplatz mit der
Frauenkirche ein Übergewicht über den Lorenzer Stadtteil. In ihm
pulste das reichsstädtische Leben am lebendigsten, hier ist noch heute ein
Brennpunkt des Nürnberger Großstadtgetriebes. Unvergleichlich
schön der Weg hinauf zur Burg, von wo man einen Besuch des alten
Nürnberg beginnen sollte. Im Aufstieg zwischen dem in mächtiger
Wucht sich lagernden Chor von St. Sebald und der Prunkschauseite des
Rathauses hindurch erlebt man einen typischen Ausschnitt Nürnberger
Stadtbaukunst: die lockere Gruppierung der [716] Straßen und den
Verzicht auf gereihte Ordnung, die bewegte Linienführung der
Straßenzeile, das Aus- und Einspringen der unregelmäßig zur
Richtungsachse der Straße gestellten Hausfronten, die Enge der Gassen, die
in malerischem Gegensatz steht zu den lichtüberfluteten Platzanlagen. Dazu
kommt die verschiedene Höhe der Fenster und der Dachlinie, die vielen
Chörlein und Dacherker, die der Straßenwand einen unglaublich
reichen, malerischen Abschluß nach oben geben. Der Blick von der
Burgfreiung ist einer der schönsten über eine deutsche Stadt. Die
architektonische Gemeinde der Bürgerhäuser, eng
zusammengedrängt durch den Zwang der Mauer, legt sich als buntfarbiges
Achsengewirr, überqualmt von den zahllosen Hausschloten, um die
überragenden Schiffe der beiden Pfarrkirchen, deren Umrisse mit
Doppeltürmen und überhöhten Chören wie ein Echo
aufeinander antworten.
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Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage.
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In stolzer Abgeschlossenheit ist die Burg dem bürgerlichen Gemeinwesen
der Reichsstadt enthoben. Sie ist ein Ausgangspunkt der Stadtgeschichte
überhaupt. Kaiser Konrad II. dürfte den Gedanken gehabt
haben, sich auf dem Nürnberger Sandsteinfelsen durch Erbauung einer
Burg einen festen Stützpunkt seiner Macht zu schaffen. Die Baugeschichte
schritt von Osten nach Westen vorwärts. Nach Errichtung der auf der
steilen Westseite des Felsens gelegenen Hohenstaufenburg haben verschiedene
Adelsgeschlechter als vom Kaiser eingesetzte Burggrafen geherrscht, seit 1191 die
Zollern. Die Burggrafenburg brannte 1420 ab; ihre nicht wieder aufgebauten Reste
gingen sieben Jahre später in den Besitz der Reichsstadt über. Der
Fünfeckige Turm - durch die erst im vorigen Jahrhundert
zusammengebrachte "Folterkammer" allgemein
bekannt - ist der bedeutsamste erhaltene Bau der salischen Burg. Nach
Osten schließt die Kaiserstallung Hans Beheims d. Ä.
an, die außerdem von dem zum Ärger der Burggrafen durch die
Nürnberger 1377 errichteten Turm Luginsland überragt wird
(welcher Name auf den ganzen Bau übertragen wurde, seitdem er als
Reichsjugendherberge dient). Auf der Mauerbrüstung der Vorburg werden
die Hufeisenspuren des Raubritters Eppelein von Gailingen gezeigt, der sich durch
seinen sagenhaften Sprung über den Graben der Gefangenschaft entzogen
haben soll.
Am hohen Vestnerturm und dem 96 Meter "Tiefen Brunnen" vorbei führt
der Weg zur Hohenstaufenburg, die aus Palas, Kemenate und Turm bestand bzw.
noch besteht. Die Doppelkapelle gehört zu den edelsten Innenräumen
der deutschen Kirchenbaukunst des 12. Jahrhunderts. Von einer Empore
der Oberkapelle betritt man einen der charaktervollen Säle des Palas. Raum
und Innenhof bieten sich nach einer sorgfältigen Wiederherstellung wuchtig
groß bei sparsamer Durchbildung der Einzelheiten, als begeisternd
schöne Beispiele spätmittelalterlicher Burgenbaukunst dar.
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Nürnberg. Weißer Turm.
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Nichts kann den Gegensatz zwischen der aristokratischen Burg und der
Bürgerstadt besser verdeutlichen als ein Gang um die Stadtmauer. Mauer
und Marktrecht prägten den Stadtbegriff im mittelalterlichen Sinne. So hat
der Mauerring sich dem Wachstum der Stadt anpassen müssen. Das System
ist mehrfach verbessert worden. Man begegnet im Stadtinnern an mehreren
Stellen Resten [717] einer älteren
Befestigung. Die halbrunden Streichwehren, die Türme am
Pegnitzeinfluß, die Bastion "hinter der Veste", endlich die runde
Ummantelung der kasemattierten "dicken" Türme sind spätere
Ergänzungen, die dem bedrohlichen Fortschritt der Belagerungstechnik im
Laufe des 16. Jahrhunderts begegnen sollten. Die Feuertaufe hat die
bastionierte Befestigung niemals erhalten.
In romanischer Zeit hat es feste Herrensitze gegeben, deren Typus in dem
Turmhaus gegenüber der Lorenzkirche, dem sogenannten Nassauerhaus,
noch erhalten ist. Auch am Markt und am Egidienberg müssen einst
derartige "Geschlechtertürme" gestanden haben. Der Markt ist nicht
organisch gewachsen, sondern seine ausgedehnte Fläche ist mit
ausdrücklicher Genehmigung Kaiser Karls IV. an Stelle des Ghetto
gegründet worden. Die meisterhaft dem Platze eingefügte
Frauenkirche ließ Karl auf dem Boden der abgerissenen Synagoge errichten.
Der "Schöne Brunnen", der mit Recht seinen durch die Jahrhunderte
gepriesenen Namen trägt, wurde wenig später geschaffen. Damals
setzt ein glänzender Auftrieb der Stadt ein. Noch
vorher - 1256 ist die Weihe
gewesen - war die Sebalduskirche emporgewachsen. Für die Gebeine
des Titelheiligen schuf Peter Vischer mit seinen Söhnen zu Beginn des
16. Jahrhunderts sein erzenes Meisterwerk: das Sebaldusgrab. Noch zu
Karls IV. Lebenszeit krönte Meister Heinrich Parler die
St. Sebalder Baugeschichte mit dem auf schlanken Säulen
emporschießenden Hallenchor, der in elfjähriger Bauzeit unter Dach
kam (1361). Alle Teile der in drei Bauabschnitten zu ihrer heutigen Gestalt
emporgeführten St. Lorenzkirche liegen etwa ein Jahrhundert
später als die des älteren Gotteshauses. Der jüngere Bau deutet
Anregungen von St. Sebald höchst schöpferisch im Sinne der
Gotik um. Der Raum ist harmonischer; fließend weitet sich der Blick zu
dem wohlig sich breitenden Chor, in dem Veit Stoßens Englischer
Gruß schwebt und Adam Krafts Sakramentshaus bis zur Höhe der
Gewölberippen emporblüht. Unerschöpflich der Reichtum, der
in den mittelalterlichen Nürnberger Kirchen sich über die
Reformation, den Barock und das (besonders feindliche) vorige Jahrhundert bis in
unsere Zeit erhalten hat. Die frühzeitig zum Siege gelangte Reformation ist
niemals bilderfeindlich gewesen. Noch heute brennt in der protestantischen
Sebalduskirche als Tuchersche Familienstiftung eine ewige Lampe! Der Sinn
für Überlieferung - wie könnte er auch fehlen in den
Mauern einer solchen Stadt? Ihm ist die Erhaltung so vieler herrlicher
Bürgerhäuser zu danken: des
Dürer-, Peller-, Topler-, des Veit
Stoß- und Sachshauses, um nur die denkwürdigsten zu nennen. So
leben noch heute alte Leute in dem Heiliggeistspital, das malerisch an und
über der Pegnitz gelegen, bereits im 14. Jahrhundert ein reicher
Bürger stiftete. Auf Schritt und Tritt verflicht sich lebendige Gegenwart mit
der Geschichte. Nirgendwo konnte deswegen ein Haus besser am Platze sein als in
der "deutschesten Stadt", das von der Begeisterung der Romantik getragen, seit
der Mitte des vorigen Jahrhunderts unermüdlich an der Sammlung und
Geltung alter deutscher Kunst und Kultur arbeitet: das Germanische
Nationalmuseum. Hier wurde zum ersten Male mit der planmäßigen
Rettung und Erforschung unserer mittelalterlichen Kunst begonnen, ohne
haltzumachen vor [718] Stammesunterschied
und Landesgrenzen. Auf der großdeutschen Gesinnung des als freie Stiftung
dem deutschen Volke gehörenden Germanischen Museums beruht nicht
zum wenigsten seine starke, volkstümliche Wirkung. Bis in die neueste Zeit
hat es sich, alte Ziele erweiternd, ausdehnen können: es ist ein kleiner
Stadtteil für sich geworden.
Im Stadtbild schließt das großempfundene, größer
geplante Rathaus die Altnürnberger Entwicklung ab. 1621 hat die
Bevölkerung ihrer Unzufriedenheit über die großen
Baupläne laut Ausdruck gegeben und ihre Weiterführung verhindert.
Der Niedergang während des Dreißigjährigen Krieges hat
für große Pläne vollends Geld und Gesinnung ausgehen lassen.
Erst in der bayerischen Provinzstadt hat (seit 1809) wieder lebhafteres
Aufblühen eingesetzt. Die Bevölkerungsziffer war von 40 000
Seelen im Jahre 1622 auf 25 000 im Jahre 1806 abgesunken, heute
beläuft sie sich auf 415 000. Viele heute noch blühende
Gewerbe führen eine Tradition der reichsstädtischen Vergangenheit
weiter: die berühmte Lebküchnerei, der Nürnberger "Tand",
der schon im Mittelalter "durch alle Land" ging, der Hopfenhandel und das durch
ihn blühende kräftig exportierende Brauereigewerbe. Im
18. Jahrhundert kamen die Herstellung von Landkarten, die
Bleistift- und Spiegelfabrikation hinzu. Die beiden letztgenannten stehen noch
heute in Blüte. Das Zeitalter der Technik brachte Nürnberg eine
verzweigte Maschinen- und Elektroindustrie, trotz dem Fehlen von Rohstoffen im
engeren Umlande. Aber schon im Mittelalter hatte man sich da zu helfen
gewußt. Nürnberg ist stets eine Stadt der Metallverarbeitung
gewesen. Aus den Amberger Zechen bezog es Eisenerze,
Fichtel- und Erzgebirge lieferten Kupfer, Böhmen Zinn. So bildete sich die
Stadt zu einem Mittelpunkt des süddeutschen Verkehrs heraus, in dem sich
die wichtigsten Handelsstraßen kreuzten. Mit allen Zentren Europas stand
Nürnberg in Handelsbeziehungen.
Die Neuzeit hat einen anderen Aufbau der Bevölkerung gebracht. Durch die
Industrie setzte ein mächtiger Zuzug ein, insbesondere aus der Oberpfalz.
Geistigen und künstlerischen Zustrom gab es indessen wenig. Die
Zentralisierung in München, die der einstige bayerische Staat
planmäßig betrieb, hat in seiner zweitgrößten Stadt
manches vernachlässigt. Um so glänzender ist die Anknüpfung
des Neuen Reiches an die Kaisertradition Nürnbergs: aus der Stadt, die
glänzende Reichstage in ihren Mauern erlebte, ist die Stadt der
Reichsparteitage geworden. Mit der Bestimmung der "Goldenen Bulle" Kaiser
Karls IV., dem Nürnberg so viel verdankt, ist die Proklamation des
Führers von 1933 vergleichbar. Die kaiserliche Verordnung besagte,
daß jeder deutsche König seinen ersten Reichstag in Nürnberg
zu halten habe; Adolf Hitler erklärte: "Für die Bewegung soll
für alle Zukunft die Stadt der Ort unserer Reichsparteitage sein, in der wir
zum ersten Male in einer gewaltigen Kundgebung den neuen deutschen Willen
proklamierten." Für Tage wird Nürnberg alljährlich zur
Millionenstadt. Der ehrwürdige Nimbus der altdeutschen Stadt wird von
begeisterten Besuchern in alle deutschen Stämme getragen. Vor den Toren
aber ist ein Aufmarschgelände im Werden, das [719] nach Anweisung des
Führers den neuen Aufgaben nicht nur praktisch gerecht werden, sondern
die Gesinnung der Bewegung in großen steinernen Formen symbolisieren
soll. Aus den Geländen des Luitpoldhaines, Dutzendteiches, Stadions und
der Zeppelinwiese ist unter Hinzunahme von Teilen des Reichswaldes eine
Einheit entstanden, die an Umfang die Altstadt um das Siebenfache
übertrifft. Die unschöne Vorstadt im Südosten wird durch eine
mächtige Verbindungsstraße mit dem Tagungsgelände
verbunden werden, wo ein eigener Bahnhof die anrollenden Massen in Empfang
nehmen wird. Die Aufteilung des Grundrisses hat eine eigenhändige Skizze
des Führers festgelegt. Außer den rein praktischen Anlagen, die
für die Unterkunft von etwa 350 000 Mann nötig sind, werden
folgende Steinbauten den monumentalen Willen des Dritten Reiches
ausdrücken: die Straße des Führers zwischen
Gefallenenehrenmal und Ehrentribüne inmitten der Luitpoldarena, an die
sich nach Osten eine zweite, weit größere Arena für
Vorführungen anschließen wird; die Kongreßhalle, die sich in
Anlehnung an die Formen des römischen Colosseums am Ufer des
Dutzendteiches zu annähernd 50 Meter Höhe erheben wird,
und endlich die Halle der Kultur, die als architektonisches Gegengewicht zum
Kongreßbau den Abschluß des ganzen gewaltigen Planes bildet. In
dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, ist alles noch im Werden.
Ein Heer von Werkleuten schafft an der Erfüllung eines Programmes, wie
es seit Menschenaltern in Deutschland nicht mehr gestellt wurde. Vor den Toren
der alten Reichsstadt, an der Grenze des Weichbildes der modernen
Industriegroßstadt wächst eine neue Stadt, die Stadt der
Reichsparteitage. Sie schlägt die Brücke aus der Geschichte zum
Leben.
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