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Von Beust bis Taaffe (1867–1879).

Am 17. Februar 1867 feierte die blutig begrabene ungarische Verfassung ihre siegreiche Auferstehung. Und mit dem selbständigen Ungarn wurde der Dualismus geboren. Die im "Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" diesseits der Leitha bildeten fortan eine Gruppe für sich. Im neuen Parlament beharrten die Tschechen bei ihrer Abstinenz. Im ganzen gab es 118 Liberale, 11 Konservative und 57 Föderalisten. Die Deutschen waren entschieden in der Mehrheit; an die Spitze der Linken trat der Prager Universitätsprofessor Eduard Herbst, der spätere Justizminister im Bürgerministerium und Gegner der Okkupation Bosniens. Er war ein Vertreter des Großbürgertums, aber kein Volksmann, entsprechend der ganzen Partei, die er leitete. Alles mögliche berieten und beschlossen die Herren, nur das eine nicht, was für die Einheit der diesseitigen Reichshälfte am wichtigsten war und ist, die gesetzliche Festlegung der deutschen Staats- oder wenigstens Verständigungssprache. Am 21. Dezember 1867 wurde die inzwischen fertiggestellte Dezemberverfassung, die heute noch veraltet fortbesteht, und der ungarische Ausgleich kundgemacht. Aus der Parlamentsmehrheit wurde ein neues Ministerium, das sogenannte "Bürgerministerium", berufen, dessen Präsidentschaft Carlos Fürst Auersperg übernahm. Karl Giskra, der Sohn eines mährischen Gerbermeisters und skrupelloser Geschäftspolitiker, bekam das Ressort des Innern, der Prager Professor Leopold Ritter von Hasner das für Kultus und Unterricht. Die Deutschen jubelten. Noch einmal, zum letztenmal waren die Ruder des Staats fast ausschließlich ihnen allein anvertraut. Aber sie verstanden weder die Zeichen der Zeit, noch die Zukunft ihres Volkes.

Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger besagt: "Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat sein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt." Wie aber sah die Interpretation in der Praxis aus? Bei der Einweihung der Elisabethbrücke in Prag 1868 demonstrierten die Tschechen gegen ihren Herrscher durch ostentatives Fernbleiben. Nur die getreuen Deutschen empfingen ihn, so daß [26] dieser, vom öffentlichen Aussehen Prags irregeführt, nach seinem Besuch sagen konnte: "Die Stadt macht einen völlig deutschen Eindruck." Die tschechischen Wortführer waren indes eifrig an der Arbeit. Die Bevölkerung der slawischen Gegenden Böhmens und Mährens wurde unter dem Schutze des Artikels 19 nach Kräften aufgewiegelt. Und so sah sich Eduard Graf Taaffe, Auerspergs Nachfolger seit September 1868, veranlaßt, über Prag und dessen Vororte den Ausnahmezustand zu verhängen. Zuvor hatten die Tschechen dem böhmischen Landtag, dem sie ferngeblieben waren, eine "Deklaration" überreicht mit einem erneuten staatsrechtlichen Protest. Aus den durch das Februarpatent hervorgerufenen Verfassungswirren könne nur eine Übereinkunft des Königs mit der "politisch-historischen, auf einer richtigen und gerechten Grundlage vertretenen" tschechischen Nation heraushelfen. Die Tschechen im mährischen Landtag folgten dem böhmischen Beispiel. Statthalter Alexander Freiherr von Koller, ein tatkräftiger Mann der Ordnung, suchte durch militärische Maßnahmen die Ruhe zunächst in Prag wiederherzustellen. Der Pöbel wurde niedergezwungen, um in absehbarer Zeit von neuem loszubrechen. Baron Koller aber wurde 1870, als die Zickzackpolitik des Wiener Ministeriums wieder mit den Tschechen liebäugelte, vom Schauplatz seiner erfolgreichen Tätigkeit abberufen.

Wie im ersten Zeitabschnitt bis zur Dezemberverfassung von 1867, so löste auch im folgenden bis zur eigentlichen Ära Taaffe, die 1879 beginnt, ein Ministerium das andere rasch ab. Nach dem ersten kurzlebigen Ministerium Taaffe, dem Hasner als Unterrichtsminister angehörte, bildete Hasner 1870 ein neues Kabinett, in dem Karl von Stremayr das Ministerium für Kultus und Unterricht erhielt. 1870, also noch im gleichen Jahr, räumte Hasner dem Grafen Potocki das Feld, an dessen Seite Taaffe als Minister des Innern trat. Der Hofrat beim obersten Gerichtshof, Adolf Ritter von Tschabuschnigg, wurde Justizminister und Leiter des Ministeriums für Kultus und Unterricht. In der letztgenannten Stellung folgte diesem bald wieder Stremayr. 1871 wurde Karl Graf Hohenwart Ministerpräsident, Josef Jireček Unterrichtsminister. Diesem für die innere Entwicklung Österreichs höchst wichtigen Kabinett gehörte als geistiger Leiter der berühmte Professor Albert Schäffle mit der Funktion eines Handelsministers an. Das Kabinett des Freiherrn von Holzgethan zählte nicht einen Monat Amtsdauer; Fürst Adolf Auersperg übernahm Ende 1871 das Ministerpräsidium; Minister des Innern war Baron Lasser, Minister für Kultus und Unter- [27] richt wiederum Stremayr. Es wurde als "Kabinett Lasser, genannt Auersperg" im Abgeordnetenhaus verspottet, erhielt sich jedoch bis 1879. Bevor Taaffe abermals auf der Oberfläche erschien, leitete Stremayr die Interimsregierung. Während dieses wechselreichen Jahrzehnts von 1870 bis 1880 wurde die Führung Österreichs den Deutschen allmählich entwunden, wenn sie auch zunächst die Mehrheit im Abgeordnetenhaus noch behielten.

Das erste Ministerium Taaffe zerfiel in zwei Parteien, die sich wegen der bevorstehenden Wahlreform für das Abgeordnetenhaus öffentlich befehdeten. Im Gegensatz zur Mehrheit der Minister Plener, Hasner, Giskra, Herbst und Brestl verfochten Taaffe, Potocki und Berger die vorher anzubahnende "Verständigung mit der gesamten nationalen Opposition und deren Heranziehung zur gemeinsamen, verfassungsmäßigen Wirksamkeit als die dringendste Angelegenheit." Auch der Reichskanzler Beust war der gleichen Meinung. Damit wollte man den slawischen Ansprüchen gründlich Rechnung tragen. Der Kaiser entschied sich für die Mehrheit seiner Minister. Doch suchte man auf deutscher Seite die Lösung der nationalen Frage keineswegs zu verhindern. Der Abgeordnete Rechbauer trat bereits in der Adreßdebatte vom 24. Januar 1870 für eine gesetzliche Regelung der Sprachenfrage ein. Ein Nationalitätengesetz sei unerläßlich, denn der Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes spreche nur einen allgemeinen Grundsatz aus. "Durch das Nationalitätengesetz müssen jeder Nationalität ihre berechtigten Ansprüche werden, und ich gestehe offen, ich als Deutscher habe auch das vollste Vertrauen, daß in diesem Nationalitätengesetze den Deutschen jene Stellung gewährt werden wird, die ihnen vermöge ihrer Kultur, vermöge ihrer tausendjährigen Geschichte und insbesondere dafür gebührt, daß sie das Reich geschaffen und zusammengehalten haben."

Aber die Tschechen wollten von keiner Verständigung etwas wissen, sobald man ihre Ansprüche nicht in Bausch und Bogen angenommen habe. Rieger und Sladkovsky als Führer der Alt- und Jungtschechen lehnten eine Einladung Giskras zu einem Versöhnungsversuche rundweg ab. Die Einführung direkter Wahlen in den Reichsrat, der also nicht mehr aus Delegierten der Landtage bestehen sollte, bezeichneten die slawischen Föderalisten als Bruch der Verfassung. Sogar die sonst so besonnenen Polen verzichteten auf ihre Parlamentssitze. Das war die ältere Form der heutigen Obstruktion.

Als Potocki das Ministerium übernahm und den patriotischen Ordnungsstatthalter von Böhmen, Baron Koller, seines [28] Amtes enthob, hoffte man, die Tschechen zu gewinnen. Allein diese beharrten auf ihrer staatsrechtlichen Deklaration und die Deutschen sahen sich zurückgestoßen. Auch die Polen erwärmten sich für Potockis Regierung nicht. Und so wurden am 21. Mai 1870 das Abgeordnetenhaus und sämtliche Landtage mit Ausnahme des böhmischen aufgelöst. Dort verhandelte man noch immer über den Eintritt der Tschechen. Aber auch an den Landtagssitzungen wollten sich die damals noch übermächtigen Alttschechen im Bund mit dem Feudaladel föderalistischer Richtung im Gegensatz zu der kleinen Gruppe der Jungtschechen nicht verstehen, praktische Politik zu treiben. Auch hofften sie auf eine Niederlage Preußens und auf eine völlige Wendung der Dinge mit Frankreichs Hilfe.

In Riegers Memorandum an den französischen Botschafter in Wien, Herzog von Gramont, wurde die Bedeutung eines selbständigen böhmischen Staates den vermeintlichen künftigen Siegern klargemacht: "Solange Böhmen unabhängig bleibt, trennt es das nördliche Deutschland vom südlichen. Der westliche Winkel Böhmens liegt Frankreich um 60 geographische Meilen näher als der östliche Preußisch-Schlesiens und um 100 Meilen näher als die Ostgrenze des preußischen Gebiets in der Nähe von Tilsit. Das böhmische Gebiet im Engpasse von Taus ist minder entfernt von der preußischen Grenze als Saarbrücken von Paris. Ein französisches Heer könnte daher rascher nach Böhmen geworfen werden als ein von Berlin vorrückendes preußisches nach Frankfurt am Main gelangen würde." Die nicht nur antideutsche, sondern auch antiösterreichische von der Wiener Regierung heute noch viel zu gering eingeschätzte franko-tschechische Allianz nahm also schon vor Jahrzehnten eine recht deutliche Gestalt an, indem man die Franzosen einlud, ihren Siegeszug nach Berlin über Prag anzutreten. Auf wessen Seite wären damals die führenden Tschechen wohl auch öffentlich getreten, auf die Napoleons III. oder des Kaisers von Österreich? Zum Glück der Dynastie und des Vaterlandes siegten die deutschen Waffen und die böhmischen Tschechen konnten, wenn es ihnen paßte, wiederum eine dynastiefreundliche Gesinnung an den Tag legen. Im Pokrok, dem Sprachrohr Riegers, standen damals vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges die übermütigen Worte: "Heute ist es gewiß mehr als eine Phrase, das stolze Wort, daß ganz Europa auf den Prager Landtag blickt". Die Tschechen fühlten sich bereits als eine weltgeschichtliche Macht. Schließlich wurde auch der böhmische Landtag aufgelöst.

Die Neuwahlen ergaben einen Sieg des Feudaladels, und [29] so erreichten die Tschechen die Mehrheit. Sie gaben eine Rechtsverwahrung ab und zogen damit in den böhmischen Landtag ein. Den Reichsrat weigerten sie sich nach wie vor zu beschicken. Eine nationale Verständigungskommission, von je fünf Deutschen und Tschechen gebildet, kam über einige Eröffnungsphrasen nicht hinaus. In einer Adresse der Landtagsmehrheit wurde das Königreich Böhmen nach ungarischem Muster neuerdings gefordert. Die Antwort darauf war das berühmte kaiserliche Reskript vom 29. September 1870.

Nach der Schlacht bei Sedan hatte man in Wien endgültig die Hoffnung verloren, wieder einmal die Führung Deutschlands zurückzugewinnen. Man glaubte nunmehr, die Tschechen herüberziehen zu müssen. Deshalb lauteten die kaiserlichen Worte so freundlich wie möglich ohne Rücksicht auf die deutschen Zentralisten: "Wir sind uns des Glanzes wohl bewußt, den die Krone unseres Königreiches Böhmen um das Ansehen und die Macht unserer Monarchie gebreitet hat. Wir sind auch entschlossen, demselben neuerdings die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des Landes unverbrüchlich zu verbriefen und gleichwie bei unseren erlauchten Vorfahren soll die Krönung mit der Krone Böhmens unserer innigen Einigung mit dem Volke Böhmens leuchtend Ausdruck geben." Zum Schluß des Reskripts wurden die Mitglieder des böhmischen Landtags aufgefordert, die Wahlen in den Reichsrat ungesäumt vorzunehmen.

Damit nun gaben sich die Tschechen keineswegs zufrieden. Der letzte Satz veranlaßte die Mehrheit des Landtags sogar zu einem Protest. Der feudale Hochadel stand an der Spitze derjenigen, die den kaiserlichen Wunsch schroff abwiesen.

So sah sich denn die Regierung genötigt, für das unbotmäßige Kronland Böhmen direkte Wahlen auszuschreiben. Diese Notwahlen brachten 24 deutschliberale Abgeordnete in das Wiener Abgeordnetenhaus, während die übrigen Gewählten, 30 Tschechen, sich absentierten. Hinter den Kulissen begannen diese desto eifriger zu intrigieren. Aus Haß gegen das siegreiche Preußen, aus Furcht vor den deutschen Erfolgen nach Beendigung des Krieges mit Frankreich, suchten die Tschechen, nachdem es ihnen nicht möglich gewesen war, Österreich zu einem Bündnis mit Napoleon III. zu hetzen, es wenigstens an Rußland zu verraten. Rieger und Palacký beeilten sich, dem Preußenhasser Beust ein staatsrechtliches Memorandum zu übersenden, in dem sie vorschlugen, Österreich möge Rußlands Bestrebungen am Schwarzen Meer unterstützen. Das war selbst einem Beust zu stark und er schickte das Schriftstück Rieger zurück.

[30] Im Februar 1871 kam das föderalistische Ministerium Hohenwart-Schäffle ans Ruder. Es suchte vorsichtig zwischen den Deutschen und Tschechen zu vermitteln. Aber beide bezweifelten die Ehrlichkeit dieses Strebens. Die Tschechen verlangten stürmisch die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts und begrüßten die neuen Männer mit den friedliebenden Worten: "Die Gräber aller Ministerien lagen bisher in Böhmen. Wir bleiben die Alten!" Die Deutschen hatten alle Ursache, mißtrauisch zu sein. Und der praktische Erfolg davon war, daß endlich eine Reihe deutschnationaler Vereine in Österreich gebildet wurde, wodurch der volksbewußte Geist den manchester-liberalen zu verdrängen begann. Die Tschechen, die längst ihre nationalen Schutz- und Trutzvereine besaßen, zeterten dagegen und verschrien jeden deutschfühlenden Mann als "Preußenseuchler". Eine Sonderstellung nahmen leider die konservativen Deutsch-Österreicher ein. Sie schlossen sich von der allgemeinen nationalen Bewegung aus und verbrüderten sich mit den Slawen, weil sie meinten, von diesen eine Unterstützung im Kampfe für die Kirche zu erfahren. Die freisinnigen oder hussitischen Tschechen heuchelten bereitwillig katholische Interessen, solange sie die Macht der Kirche brauchten.

Das neue Deutsche Reich war begründet. Ein Jubel ging auch durch die Reihen der Deutschgesinnten Österreichs. Und Robert Hamerling fand damals für die rechte Zustimmung die rechten Worte:

    "Wie stand's mit uns in Deutschlands Schlachtentagen?
    'Neutral' war Östreichs Hand und Östreichs Erz –
    Neutral? Nicht ganz! Das Herz hat mit geschlagen,
    Das Herz Deutsch-Österreichs, das deutsche Herz!

    Und fragen deutsche Brüder: Wo gewesen
    Seid ihr, als der Entscheidung Stunde schlug,
    Als rings den tausendjährigen Bann zu lösen,
    Germania nach ihren Söhnen frug,
    Als sich in Siegesfreude, Todesnöten,
    Verjüngt das deutsche Volk, das Deutsche Reich?
    Wir sagen, frei die Stirn von Schamerröten,
    Deutsch-Österreich war mitten unter euch.

    Der wackre Stamm, der deutsches Eisen hämmert,
    Bei Gott, der Stamm ist kein Thumelikus!
    Schon als es nicht getagt, nur erst gedämmert,
    Flog nordwärts frei so mancher deutsche Gruß.
    Nicht ist's der erste, welcher heut' der Grenzen
    In Treue spottet – und, so wahr im Schein
    Der deutschen Sonne auch die Alpen glänzen,
    Es wird nicht unsrer Grüße letzter sein!"

[31] Die Regierung glaubte dem österreichischen Patriotismus am besten zu dienen, indem es den Slawen zuliebe die Feier der deutschen Siege in Österreich verbot. Immer deutlicher wurde Hohenwarts tschechenfreundliche Politik. Je nachgiebiger sie den Prager Terroristen entgegenkam, desto dreister lauteten ihre Wünsche.

Zunächst sollten von der Prager Universität die deutschen Professoren verdrängt werden und der Unterrichtsminister Jireček riet daher, es mögen sich möglichst viele tschechische Doktoren habilitieren. Auch verfügte er die Einsetzung einer rein tschechischen Prüfungskommission für Kandidaten der Philosophie. Die Drangsalierung der deutschen Professoren und Studenten begann bereits damals handgreifliche Formen anzunehmen.

Mit diesem Entgegenkommen gegen die unablässig vordrängenden Tschechen begnügte sich das Ministerium Hohenwart-Schäffle nicht. Das geistige Haupt der tschechischen Opposition war Heinrich Graf Clam-Martinitz, ein radikaler Reaktionär und unerbittlicher Staatsrechtler. Mit ihm und den übrigen Abstinenzlern zu unterhandeln, kam Schäffle im Mai 1871 persönlich nach Prag. Das Ergebnis der Hauptvereinbarungen wurde vom Grafen Clam in den sogenannten "Fundamentalartikeln" zusammengefaßt. Sie bedeuteten die Kapitulation der Regierung vor dem grollenden tschechischen Hochadel, Hochklerus und Bürgertum, denn dem böhmischen Landtag waren darin Sonderrechte zugebilligt, wie sie kein anderer Landtag auch nur in annäherndem Maße besaß. Über Kirchen- und Schulangelegenheiten wäre er souverän zu Gericht gesessen. Außer dieser Regierungsvorlage wurde den böhmischen Landtagsabgeordneten zwar noch der Entwurf eines Nationalitätengesetzes eingehändigt, wonach der "böhmische" und der deutsche Volksstamm grundsätzlich gleiche Rechte haben sollte. Jeder Beamte müsse beider Landessprachen in Wort und Schrift mächtig sein. Die Amtssprache der Gemeinde wird durch die Gemeindevertretung bestimmt. Die Amtssprache aller Zivilbehörden, deren Wirkungskreis sich über das ganze Land erstreckt, ist gleichmäßig tschechisch und deutsch. Zum Schutz der Unverletzlichkeit des gleichen Rechts beider Nationalitäten wird der Landtag in nationale Kurien eingeteilt. Jede Nationalkurie kann verlangen, daß die Schulkosten im Verhältnis des Steuersatzes aufgeteilt werden. Jede nationale Kurie kann mit Zweidrittelmehrheit eine Vorlage zu Fall bringen, die ihr mißliebig ist. Bei der Wahl von Abgeordneten des Landtags in Vertretungskörper, an denen das Königreich Böhmen mit anderen Königreichen und Ländern des [32] Reiches teilnimmt, muß wenigstens ein Drittel der Gewählten der "böhmischen" und mindestens ein Viertel der deutschen Nationalkurie entnommen sein. Das ganze Gesetz wird unter den Schutz des königlichen Krönungseides gestellt.

Schon daraus, daß die "Fundamentalartikel" mit dem vom heutigen Standpunkt für die Deutschen nicht ungünstigen Nationalitätengesetz zuerst vom böhmischen Landtag genehmigt werden sollten, ehe die anderen Landtage unter Ignorierung des Wiener Abgeordnetenhauses zu Worte kämen, geht hervor, wie sehr man das "böhmische Staatsrecht" in die Wirklichkeit umzusetzen bemüht war, wenn auch Schäffle, der "schwäbische Steinbock", in seinen Lebenserinnerungen gerade diese Tatsache zu vertuschen suchte. Immerhin mögen die Deutschen dem ersten Minister, der die Idee der nationalen Kurien gesetzlich durchführen wollte, ein ehrendes Andenken bewahren.

Am 12. September 1871 wurde zur Einleitung der parlamentarischen Aktion, die den "Fundamentalartikeln" Gesetzeskraft verleihen sollte, ein königliches Reskript erlassen, worin die "staatsrechtliche Stellung der Krone Böhmens" ausdrücklich anerkannt erscheint, ohne freilich näher erklärt zu sein. Die Tschechen antworteten mit einem Beifallsjubel. Die Deutschliberalen aber erblickten in den neuesten Vorgängen ein entschiedenes Aufgeben der Dezemberverfassung. Sie verließen nach Wiener tschechischem Muster die Prager Landstube und protestierten gegen den Inhalt des Reskripts mit den Worten: "Diese Erklärung stellt das Königreich Böhmen aus dem Rahmen der Verfassung heraus..."

Die föderalistische Mehrheit des mährischen Landtags dagegen, zu der auch Deutsche gehörten, stimmten der Regierung bei. Außerdem brachte damals der Tscheche Meznik einen Antrag auf Errichtung einer tschechischen Hochschule in Mähren ein.

Allein trotz der Unterstützung, die Hohenwart und Schäffle von den Konservativen der deutschen Alpenländer erfuhren, kam das Ministerium zu Fall, vor allem, weil Ungarn die Fundamentalartikel als mit der Verfassung unvereinbar erklärte. Auch die Polen waren nicht recht einverstanden. In der Wiener Aula wurde skandaliert. Die ganze zentralistische Bureaukratie arbeitete zusammen mit dem parlamentarischen und journalistischen Zentralismus gegen Schäffle. Der Kaiser gab schließlich seine Zustimmung zur Demission des Kabinetts Hohenwart. Damit war die Angelegenheit entschieden. Noch einmal hatten die Deutschliberalen im Bunde mit dem gewalttätigen Grafen Gyula Andrassy gesiegt. Für wie lange?

Die Tschechen waren aufs höchste erbittert. Rieger setzte sich [33] in heldenhafte Pose und kopierte Luther. Den Abgesandten, die zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen waren, als er aus Wien zurückkehrte, rief er die Worte zu: "Das böhmische Volk hat einen schweren Schlag erlitten. Wir haben die Schlacht verloren... Fremdlinge haben sich zwischen uns und die Krone gedrängt... und sie haben gesiegt... Wir gehen neuen, schweren Kämpfen entgegen und in diesen dürfte der Unwille gegen den Monarchen selbst laut werden... wir appellieren vom schlecht unterrichteten an den besser berichteten König, mit dem wir uns wieder versöhnen werden."

Die tschechischen Prager verstanden die Drohung und tobten ihre Galle in Straßenexzessen aus. Die Politik brachte immer wieder in der ersten Spalte das Reskript vom 12. September 1871 und in den folgenden Spalten zwischen den Zeilen die boshaftesten Angriffe gegen den Herrscher. Äußerungen des Kaisers, die der Heiligkeit des gegebenen Wortes galten, wurden demonstrativ mitgeteilt. Antidynastische Kundgebungen standen auf der Tagesordnung. Aus Ungarn klang Ludwig Kossuths freudiger Beifall herüber: "Dieses königliche Versprechen ist eine Tatsache, die auf jener Tafel des Schicksals verzeichnet ist, auf der über Worthalten und Wortbruch unauslöschbare Rechnung geführt wird."

Adolf Fürst Auersperg, der jüngere Bruder des Fürsten Carlos, ein Offizier vom Scheitel bis zur Sohle, hatte alle Mühe, der Unruhen in Böhmen Herr zu werden. Zunächst wurden alle föderalistischen Landtage mit Ausnahme des dalmatinischen aufgelöst; der böhmische blieb bis März 1872 ungeschoren. Feldmarschall-Leutnant Freiherr von Koller mit der eisernen Hand wurde neuerdings zum Statthalter von Böhmen ernannt. Der Landtag weigerte sich trotzdem, den Wiener Reichsrat zu beschicken. Daher ordnete die Regierung direkte Wahlen an, die wieder eine föderalistische Mehrheit ergaben, nur 24 verfassungstreue Deutsche folgten dem Ruf des Ministeriums nach Wien. Dagegen siegte in Mähren die Partei der deutschen Zentralisten, und der Landtag kam wieder in ihre Hände.

Für die weitere politische Entwicklung Böhmens hatte der Großgrundbesitz eine ausschlaggebende Bedeutung. Deutsche wie Tschechen trachteten daher, möglichst viele Güter anzukaufen. Der Crédit Foncier arbeitete mit dem verfassungstreuen Großgrundbesitz, die Živnostenská Banka und die Záložna-Institute für die feudalen Tschechen. Die jüdischen Kaufgesellschaften, "Chabrus" genannt, spielten bei diesen Geschäften die bedenklichste Rolle. Das schwindelhafte Treiben gewisser Börsianer, das nach der [34] Wiener Weltausstellung 1873 am "schwarzen Freitag" zum großen Krach führte, zeigte sich bereits in seiner ganzen Verderblichkeit. Kardinal Schwarzenberg mißbrauchte die Kirchen. Das alte tschechische Kampflied zu Ehren des heiligen Wenzel erklang lauter als je. Katholische Kleriker und hussitische Advokaten, feudale Hochadelige und Prager "Pepíci" (so heißt der Straßenpöbel in der Vulgärsprache) verbanden sich gegen die zentralistischen Deutschen. Ein großer Fehler war, daß diese in nationalen Dingen von ihren tschechischen Feinden nichts zu lernen vermochten. Während diese die größten Gegensätze der Weltanschauung beiseite schoben, nur um das verhaßte deutsche Volk zu schwächen, taten die deutschen Liberalen nichts, um den Klerus und die dem Klerus blind ergebenen deutschen Bauern der Alpenländer an sich zu ziehen. Erst als die Not am höchsten stand und die freisinnigen Deutschen ihre Wählermassen eingebüßt hatten, erst in den Tagen Badenis sollte die "Deutsche Gemeinbürgschaft", immer noch ein schwaches Kindlein, ins Leben treten.

Der neue böhmische Landtag, in dem dank der Regierungseinflüsse die verfassungstreuen Großgrundbesitzer vor den feudalen die Mehrheit hatten, begann mit der Abstinenz der Tschechen. Die Deutschen waren so unter sich, wählten natürlich ohne weiteres die Abgeordneten für den Reichsrat, und die 14 gleichfalls dahin delegierten "Deklaranten", die ohne Rechtfertigung dem Wiener Abgeordnetenhaus fern blieben, wurden einfach ihrer Mandate für verlustig erklärt.

Im Reichsrat organisierte sich indessen unter Hohenwarts Führung die "Österreichische Rechtspartei" mit dem Programm: "Organische Fortentwicklung auf christlicher Grundlage." Die Föderalisten aller Nationalitäten schlossen sich um Hohenwart allmählich zum "eisernen Ring" zusammen. Dagegen zeigte die früher übermächtige Linke schon die Anzeichen eines deutlichen Marasmus. Allein sie war doch noch innerlich stark genug, ihren Plan der Wahlreform durchzusetzen. Danach sollte der Reichsrat künftighin 353 Abgeordnete zählen; 85 Großgrundbesitzer, 118 Vertreter der Städte, 129 Vertreter der Landgemeinden und 21 von den Handels- und Gewerbekammern Gewählte. Die wichtigste Änderung war jedoch, daß die Wahlen direkt, also nicht mehr durch die Landtage erfolgten. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, das der arbeiterfreundliche Fürst Camillo Starhemberg im Herrenhaus vertrat, fand noch keinen Anklang. Die Regierungsvorlage wurde am 2. April 1873 Gesetz.

Vergeblich protestierte der Prager Föderalistenkongreß gegen die neue Wahlreform, vergeblich auch die verblendete, rückständige [35] Partei der Konservativen in den Alpenländern. Ein Schritt nach vorwärts in der Befreiung des Volkes war getan. Daß jede Erweiterung des Wahlrechts gerade den Slawen und dem sogenannten "kleinen Mann" zugute kam, erkannten freilich weder die Antiliberalen noch ihre Gegner.

Im neuen Reichsrat, in dem die liberalen Deutschen fast über die Dreifünftelmehrheit verfügten, nämlich über 200 Sitze von 353, wurden zunächst leider nicht nationale Schutzgesetze ausgearbeitet, sondern konfessionelle Fragen aufgerollt. Der Kampf um die Schulen wurde von beiden Seiten mit leidenschaftlicher Erbitterung geführt. Die mährischen Tschechen beteiligten sich nach einer Rechtsverwahrung an den Verhandlungen des Wiener Reichsrats, die böhmischen blieben ihm fern. Bemerkenswert war, daß die slawischen Parteien während des Kirchenstreites dringend die Errichtung eigener Hochschulen verlangten. Sie verstanden es stets, duobus litigantibus tertii gaudentes zu sein. Die Tschechen traten schon längst für eine rein tschechische Universität in Prag ein und danach erst forderte Christian Freiherr d'Elvert eine deutsche Universität für Mähren, um so mehr, als sein tschechischer Landsmann und Kollege Fandrlík für seine Nation um eine besondere technische Hochschule in Brünn sich bemühte. Unter der Prager Studentenschaft brachen wüste Streitigkeiten aus. Die deutsche Wissenschaft, ihre Professoren und Studenten, sahen sich immer mehr in den Hintergrund gedrängt.

1876 begannen die Wirren auf dem Balkan. Der Serbenführer Tschernajew wurde in Prag stürmisch begrüßt. Rieger und seine Freunde feierten Iwan Aksakow mit begeisterten Worten: "Das tschechische Volk wünscht den russischen Waffen besten Erfolg; der Ruhm der Russen ist auch sein Ruhm. Es freut das tschechische Volk, wenn das mächtige Slawenreich den schwachen slawischen Stamm schützt." Man agitierte für den Abfall der Tschechen zum orthodoxen Glauben neuerdings. In Hlubočep verbrannten tschechische Studenten das Bild des Papstes. Eine panslawistische Kundgebung folgte der andern. Wegen einer solchen wurde die Stadtvertretung von Laun aufgelöst.

Der Krieg Rußlands mit der Türkei, die Kämpfe der österreichisch-ungarischen Truppen in Bosnien und der Herzegowina, der Berliner Vertrag brachten eine Änderung der südeuropäischen Landkarte mit sich – zugunsten der Slawen. Mit Recht legte daher Baron Pražák im mährischen Landtag einen Adreßentwurf für die tschechische Minderheit vor, in der die Befreiung der "christlichen Brüder" in Bosnien bejubelt wurde.

[36] Immer und immer wieder verhandelte man vergeblich über den Eintritt der böhmischen Tschechen ins Wiener Abgeordnetenhaus. Aber diese gaben nicht nach und verharrten bei ihren unmöglichen Forderungen. 1879 meinte Taaffe, der damals bereits die Führung der Politik zu übernehmen begann, aber noch nicht ganz in den Banden der Tschechen lag: "Wenn man euch Tschechen nur einen Finger reicht, wollt ihr die ganze Hand, und die Regierung kommt dann durch eure exorbitanten Forderungen immer in Verlegenheit." Diesem Grundsatz sind die Tschechen nach wie vor treu geblieben.







Die Deutschen in Österreich
und ihr Ausgleich mit den Tschechen

Dr. Wilhelm Kosch