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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
II. Gebietsbesetzung (Teil 1)
1) Saargebiet
Dr. h. c. Hermann Röchling
Kommerzienrat, Völklingen
Die Konferenz von Versailles, die am 2. Mai 1919 mit dem Eintreffen der
deutschen Friedensdelegation, der ich als Sachverständiger für das
Saargebiet angehörte, im Hotel des Reservoirs ihren Anfang nehmen sollte,
erlitt eine Verzögerung dadurch, daß uns erst am 10. Mai das
dickleibige Buch des sogenannten Friedensvertrages überreicht wurde. Die
alliierten und assoziierten Mächte wurden erst zu diesem Termine mit ihrem
eigenen Kuhhandel fertig. Das Vertragswerk übertraf die schlimmsten
Befürchtungen hinsichtlich dessen, was die alliierten und assoziierten
Mächte unter Einhaltung der 14 Punkte
Wilsons Deutschland
gegenüber verstanden. Es war kaum eine wesentliche Bestimmung in dem
Werke vorhanden, die nicht als ein glatter Wortbruch der feindlichen
Mächte anzusehen gewesen wäre.
Die Lösung, die bezüglich des Saargebietes gefunden war, war um
nichts besser als die übrigen Vertragsbestimmungen. So sollte das Saargebiet
auf 15 Jahre vom Deutschen Reiche abgetrennt, dem Völkerbunde
unterstellt und am Schlusse dieser 15 Jahre einer Abstimmung
darüber unterworfen werden, ob es diese Völkerbundsverwaltung
beibehalten, mit Frankreich vereinigt oder zum Deutschen Reiche
zurückkehren
wolle, - eine Zumutung ehrloser Gesinnung, die Zeugnis ablegt von dem
Übermut der "Sieger", die dem durch Hunger bezwungenen deutschen
Volke alles glaubte zumuten zu können. Die Kohlengruben des Saargebietes
sollten sämtlich in den Besitz Frankreichs übergehen als Ersatz
für die Zerstörung der nordfranzösischen Zechen und teilweise
als Ersatz für Kriegsschäden. Wenn die Saarbevölkerung sich
in ihrer Abstimmung im Jahre 1935 für die Rückkehr zu Deutschland
entschiede, so sollte hierüber der Völkerbund endgültig
beschließen. Entschied der Völkerbund, daß das Saargebiet ganz
oder teilweise dem Reiche zurückfiele, so sollte dieses das Recht haben, die
im zurückfallenden Gebiet gelegenen Saargruben zurückzuerwerben
zu einem Preise, der von einem Schiedsgericht unter dem Vorsitze eines
Völkerbundsvertreters bestimmt würde. Wäre es zur Zahlung
dieses Kaufpreises [84] nicht in der Lage, so sollte das gesamte
Saargebiet an Frankreich fallen.
Es waren dann noch allerhand Bestimmungen vorhanden, die der deutschen
Bevölkerung einen gewissen Schutz gegen allzu große
Bedrängung durch Frankreich gewähren
sollten, - eine Bedrängung, die dadurch vorauszusehen war, daß
die gesamte politische und rechtliche Macht, also die uneingeschränkte
Souveränität, in den Händen des Völkerbundes, damals
einer Filiale unserer Kriegsgegner, lag, während die Einwohner in der
gesamten Verwaltung ihres Gebietes rechtlos waren. Zwar waren die deutschen
Gesetze beibehalten; aber die Regierungskommission, die, vom
Völkerbundsrate ernannt, absolutistisch die Verwaltung zu führen
hatte, konnte jedes Gesetz ohne weiteres durch ein anderes ersetzen; sie
mußte nur vorher die Bevölkerung darum "befragen". Die
Regierungskommission hatte auch das Recht der souveränen Auslegung
aller Bestimmungen des Versailler Vertrages, soweit sie das Saargebiet betrafen.
Die bisherigen Gerichte wurden zwar beibehalten, aber es sollte als Ersatz
für die Oberlandesgerichte und das Reichsgericht ein Obergericht geschaffen
werden, dessen Besetzung in die Hand der Regierungskommission gelegt war. Die
Steuern sollten zwar ausschließlich zugunsten der Saarbevölkerung
verwendet werden; der französische Staat aber hatte volle Freiheit, die
Kohlenpreise so festzusetzen, wie es ihm gut dünkte, so daß er damit
indirekt sich aus dem Saargebiet Reparationen holen konnte, die durch den Vertrag
an sich ausgeschlossen waren. Über die Steuern, die der französische
Staat zugunsten der Saargebietsverwaltung zu zahlen hatte, war bestimmt,
daß sie im Verhältnis des Wertes der Gruben zu dem gesamten
steuerpflichtigen Vermögen des Saargebietes stehen sollten, daß also
der französische Staat denjenigen Teil der Ausgaben der Gebietsverwaltung
und der Kommunen zu tragen hatte, der seinem Anteil am Vermögen des
gesamten Saargebietes und seiner Bevölkerung entsprach. Die
Staatszugehörigkeit der Bewohner des Saargebietes sollte nicht angetastet
werden; aber es sollte niemand gehindert sein, eine andere
Staatsangehörigkeit zu
erwerben, - offenbar in der Hoffnung, daß die Saareinwohner sich
beeilen würden, Franzosen zu werden. Auch war den Bewohnern die
Auswanderung unter Mitnahme des gesamten Vermögens gestattet, als ob
man erwartete, der übrige Teil der Saarbevölkerung würde in
hellen Scharen ihre Heimat verlassen. Die Selbstverwaltung in den Kommunen
sollte erhalten bleiben. Die religiösen Freiheiten, Schulen und Sprache
sollten unter der Überwachung der Regierungskommission nicht angetastet
werden; aber der französische Staat durfte gleichzeitig als "Nebenanlagen
der Gruben" Volksschulen errichten und nach seinem Gutdünken
be- [85] treiben. Militärdienst sollte im Saargebiet
nicht bestehen und freiwilliger Heeresdienst nicht gestattet sein; nur eine
örtliche Gendarmerie sollte zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingerichtet
werden. Ferner waren Bestimmungen getroffen für die Aufrechterhaltung
der Rechte der Bewohner an der Sozialversicherung. Das ganze Saargebiet sollte in
das französische Zollgebiet eingegliedert werden und der französische
Staat das Recht haben, sich bei seinen Käufen und Verkäufen seiner
eigenen Währung zu bedienen. Unnötig zu sagen, daß der
französische Staat die sämtlichen Gruben frei von allen Schulden und
Lasten erhielt und daß das Reich die Pflicht hatte, für alle Belastungen
aus der Vergangenheit aufzukommen.
Bereits am 13. Mai 1919 verweigerte Graf
Brockdorff-Rantzau, der Vorsitzende der deutschen Friedensdelegation, in einer
Note an Clemenceau, den Präsidenten der alliierten Friedenskonferenz, unter
deutlichem Hinweis auf die 14 Punkte Wilsons namens der Reichsregierung, ein
von einer rein deutschen Bevölkerung bewohntes Gebiet "an eine andere
Souveränität zu verschachern, als ob diese bloße
Gegenstände oder Steine in einem Spiel wären". Das deutsche Reich
würde aller Wahrscheinlichkeit nach in 15 Jahren nicht in der Lage sein, die
Saargruben zurückzukaufen, angesichts der hohen
Entschädigungsforderungen des Versailler Vertrages, überdies aber
würde die Reparationskommission eine solche Verwendung deutschen
Goldes schwerlich gestatten. Die deutsche Delegation erbot sich ferner, an Stelle
des "rohen und unangemessenen Ersatzes durch die Überweisung des
Saarkohlenbeckens" den Ausfall in der Förderung der zerstörten
nordfranzösischen Gruben bis zu deren Wiederherstellung durch deutsche
Kohlen, und zwar nicht nur von der Saar, sondern auch von der Ruhr zu
liefern.
Zunächst erfolgte keine schriftliche Antwort der Gegenseite; wohl aber
nahm ein damals noch unbekannter Mann, Herr Massigli, jetzt
Generalsekretär der Reparationskommission und Vorsteher der
Völkerbundsabteilung im französischen Außenministerium, die
Beziehungen zu einem ihm von früher her bekannten deutschen Journalisten
auf. Er ließ durchblicken, daß er von Tardieu entsandt sei,
der - wie später bekannt geworden
ist - mit Loucheur den französischen Ministerpräsidenten
Clemenceau in der Saarfrage beraten hat. Herr Massigli erklärte, daß
unsere Note auf der Gegenseite nicht befriedigt habe; ob wir nicht in der Lage
seien, Vorschläge zu machen, wie der Wiederaufbau in Frankreich durch ein
anders geartetes System sichergestellt und gleichzeitig den Franzosen eine
größere Garantie für die Kohlenlieferungen gewährt
werden könne. In mehrfachen Verhandlungen, an denen ich teilnahm, wurde
dann [86] ein Plan entworfen, der der französischen
Regierung eine Beteiligung an einer Reihe von Kohlenzechen des Ruhrgebietes,
vielleicht auch an einzelnen Kohlengruben des Saargebietes, gewähren
sollte, so daß die Franzosen durch eine Mitverwaltung dieser Zechen die
größtmöglichste Sicherung ihres Kohlenbedarfes erhalten
würden. Des weiteren wurden an Stelle des gesamten Reparationskomplexes
ein System gleichwertiger Garantien wirtschaftlichen Charakters vorgeschlagen.
Bezüglich der Kohlenlieferungen sollte eine gemeinsame Kommission aus
Vertretern Deutschlands, Frankreichs und Belgiens eingesetzt werden, welche die
Erfüllung dieser Abmachung zu überwachen hätte; auch die
Interessen Italiens sollten hierbei berücksichtigt werden.
Diese Vorschläge, die Graf Brockdorff-Rantzau als solche der deutschen
Sachverständigen überreichte, wurden acht Tage später von den
Alliierten mit der Begründung abgelehnt, "daß diese Beteiligung an
Kohlengruben eine Vermischung deutscher und französischer Interessen
schaffen würde, die in dem damaligen Zeitpunkte nicht ins Auge
gefaßt werden könnte". Nur hinsichtlich des § 36
des Saarstatuts, der
kategorisch den Übergang des gesamten Saargebietes an Frankreich
festsetzte, wenn das Reich die Saargruben nicht zurückkaufen könne,
wurde eine andere Fassung zugestanden, wonach Deutschland in diesem Falle
berechtigt sein sollte, im Einverständnis mit der Reparationskommission
eine erste Hypothek auf seinen Besitz oder seine Einkünfte zu bestellen.
Falls aber das Deutsche Reich ein Jahr nach dem dafür festgesetzten
Zeitpunkte die Zahlung nicht geleistet haben sollte, so werde die
Reparationskommission die Angelegenheit in Übereinstimmung mit den ihr
vom Völkerbunde erteilten Weisungen, nötigenfalls durch Verkauf
des in Frage stehenden Teiles der Gruben, ordnen. Aus den
Veröffentlichungen, die Baker, der Sekretär des Präsidenten
Wilson bei der Friedenskonferenz, über die Verhandlungen der Alliierten
vor und während der Versailler Konferenz herausgegeben hat, geht hervor,
daß die Franzosen in den allerletzten Tagen der Abfassung der
Bestimmungen des Versailler Vertrages an einzelnen Stellen durch
Fälschung des Sinnes versuchten, für sich noch etwas Besonderes
herauszuholen. Baker weist dabei ausdrücklich auf die eben behandelte
Frage des Rückkaufes der Saargruben hin. Es ist daher festzustellen,
daß der deutschen Delegation auf diesem Gebiete ein, wenn auch
bescheidener Erfolg beschieden war.
Im großen und ganzen bewiesen aber diese Vorgänge, daß die
alliierten und assoziierten Mächte nicht gewillt waren, hinsichtlich des
Saargebietes irgendeine wesentliche Änderung des Vertragsentwurfes durch
Verhandlungen zuzulassen, trotzdem gerade Herr Tardieu durch die Entsendung
des Herrn Massigli diesen Eindruck [87] bei der deutschen Delegation zu erwecken
versucht hatte, offenbar nur zu dem Zwecke, um Uneinigkeit in unseren Reihen
herbeizuführen. Es mußte daher nunmehr in der großen
Antwort, die die deutsche Delegation zu den Friedensbedingungen hinsichtlich
aller Bestimmungen, also auch des Saargebietes, erteilte, der Versuch gemacht
werden, durch eine scharfe präzise Kritik der in Aussicht genommenen
Bestimmungen eine Klarstellung der Auslegung durch die alliierten und
assoziierten Mächte selbst herbeizuführen, auf der man vielleicht
später einmal fußen könnte. Infolgedessen wurde seitens der
beiden mit den Verhältnissen im Saargebiet besonders vertrauten Mitglieder
der Delegation, dem jetzigen Oberberghauptmann Flemming, damals
vortragendem Rat im preußischen Handelsministerium, und mir, eine
Übersicht über die Geschichte, die völkische
Zusammensetzung, den Kohlenbergbau usw. des Saargebietes gegeben. Es wurde
darauf hingewiesen, daß das Saargebiet seit über 1000
Jahren - seit dem Vertrage von Mersen im Jahre
870 - deutsch sei, daß Frankreich in einem
Zeitraum von 1048 Jahren das Land noch nicht 68 Jahre besessen habe, daß,
als im Jahre 1814 ein kleiner Teil des jetzt begehrten Gebietes bei Frankreich
blieb, die Bevölkerung schärfsten Widerspruch erhoben und die
Wiedervereinigung mit ihrem deutschen Vaterlande verlangt
habe, - einem Verlangen, dem im zweiten Pariser Frieden Rechnung
getragen worden
sei - und daß unter den 850 000 Einwohnern im Jahre 1918 noch nicht
100 Franzosen gewesen seien. (Wir wußten damals noch nicht, daß
Tardieu und Loucheur mit den angeblich vorhandenen 150 000 Saarfranzosen in
der Vorfriedenskonferenz versucht hatten, Eindruck auf Wilson zu machen.) Es
wurde weiter darauf hingewiesen, daß die Bevölkerung des
Saargebietes, da ihr jede freie Meinungsäußerung von der besetzenden
Macht unmöglich gemacht werde, durch die aus dem Gebiet
gewählten Abgeordneten ihren Willen, auch weiterhin Glieder des
geschlagenen und verarmten Reiches zu bleiben, wiederholt und
nachdrücklich öffentlich kundgegeben hätte. Wir haben dann
weiter auf die Bemühungen der französischen
Okkupationsbehörden hingewiesen, die durch die Hungerblockade und die
Anstrengungen des Krieges geschwächte Bevölkerung mit allen
Mitteln so weit zu bringen, schon jetzt die französische
Staatsangehörigkeit zu erwerben. Wir wiesen darauf hin, daß in der
für das Saargebiet vorgesehenen Regierungsform keine irgendwie geartete
Sicherung gegen diese Bestrebungen Frankreichs gegeben wäre, daß
die Regierungskommission durch ihre unumschränkten Vollmachten und
ihre Zusammensetzung aus nur einem Saarbewohner und vier Ausländern
keine Gewähr gegen die oft beobachteten
Unterdrückungsbestrebungen der Franzosen biete und daß dieses jeder
parlamentarischen Kon- [88] trolle entbehrende System, das noch nicht einmal
einen Schutz gegen Ausweisung gebe, die Saarbevölkerung im wahrsten
Sinne wehr- und rechtlos mache. Zum Schlusse wurde gesagt, daß, wenn
man die Bevölkerung eines Teilgebietes von ihrem Vaterlande, trotz des
feierlichen Protestes ihrer Vertreter, in dieser Weise abtrenne, ein neuer
Konfliktstoff in die Beziehungen zwischen dem deutschen und dem
französischen Volke getragen würde. Die alliierten und assoziierten
Mächte wurden gebeten, die vorgeschlagene Lösung der Saarfrage
nochmals einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
In diesen Darlegungen wurde, von der hohen Warte einer möglichen
Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich, die ich schon damals
genau wie heute als eine Lebensfrage für beide Völker betrachtet
habe, die vorgeschlagene Lösung in aller Deutlichkeit kritisiert. Ganz ohne
Wirkung ist diese kurze und scharfe Kritik nicht geblieben. So hat Professor J. M.
Keynes von der Universität Cambridge, der auf englischer Seite
Sachverständiger war und damals sein Amt niederlegte, weil er die
Friedensbedingungen der alliierten und assoziierten Mächte nicht billigte, in
seinem Buche über die wirtschaftlichen Folgen der Friedensverträge
auszugsweise die deutschen Darlegungen als die einzige Betrachtungsweise
angeführt, die den europäischen und besonders den
deutsch-französischen Problemen gerecht würde. Aber auch die
alliierten und assoziierten Mächte bemühten sich in ihrer Antwortnote
vom 16. Juni 1919, die Bedenken, die von deutscher Seite angeführt waren,
zu zerstreuen. Es wurde darauf hingewiesen, daß sie "die größte
Sorgfalt darauf verwendet hätten, den Bewohnern des Saargebietes jeden
materiellen und moralischen Schaden zu ersparen; ihre Rechtslage werde zudem
weiter verbessert werden". Es wurde betont, daß das ganze System der
Zivil- und Strafgesetzgebung sowie die Steuergesetzgebung, daß die
örtlichen Vertretungen, die religiösen Freiheiten, die Schulen und die
Sprache, daß alle bestehenden Bürgschaften zum Schutze der
Arbeiter erhalten bleiben und die neuen Gesetze den vom Völkerbund
angenommenen Grundsätzen entsprechen würden. Es wurde
besonders hervorgehoben, daß die Regierungskommission nicht der
französischen Regierung, sondern dem Völkerbunde verantwortlich
sei, was eine genügende Bürgschaft gegen jeden Mißbrauch der
ihr anvertrauten Macht biete. Allerdings wurde die Fiktion der national gemischten
Bevölkerung nicht aufgegeben; denn nur so war ein Schein des Rechtes
für die ganze Konstruktion des Saarstatuts zu schaffen. Der
Schlußsatz betonte, daß die deutsche Note an keiner Stelle die
Tatsache berücksichtige, daß die Einwohner des Saargebietes nach
Ablauf von 15 Jahren in voller Freiheit das Recht haben würden,
zu wählen, unter welcher Souveränität sie zu leben
wünschten.
[89] Da diese Erklärungen der alliierten und
assoziierten Mächte vor Annahme des Vertrages von Versailles der
deutschen Regierung gegeben worden sind, und zwar als Antwort auf die
ausgesprochenen Bedenken hinsichtlich der Saarlösung, so sind sie als eine
Auslegung des Versailler Vertrages durch die Verfasser zu betrachten, auf die in
der späteren Zeit des öfteren zurückgegriffen wurde, und die
auch als eine Bürgschaft für die Folgerungen anzusehen sind, die aus
der Abstimmung der Saarbevölkerung seitens des Völkerbundsrates
zu ziehen sein werden.
War es auch nicht viel, was in Versailles für die Saarbevölkerung
erreicht werden konnte, konnte besonders die Abtrennung des Saargebietes in
politischer und wirtschaftlicher Hinsicht mit allen ihren schädlichen Folgen
für die Saarbevölkerung nicht abgewendet werden, so blieb noch die
Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß bei den Verhandlungen der
Nationalversammlung in Weimar die gewählten Vertreter des Saargebietes
in Übereinstimmung mit dem Willen seiner Bevölkerung durch
Ablehnung des Versailler Vertrages gegen die Abtrennung des Saargebietes vom
Deutschen Reich protestierten, auch wenn ihre Fraktionen, wie dies z. B. bei
der sozialdemokratischen Fraktion der Fall war, durch Fraktionszwang die
Annahme des Vertrages von Versailles forderten. So gaben die drei Vertreter des
Saargebietes, B. Koßmann von der Zentrumspartei, O. Pick von der
Deutschdemokratischen Partei und V. Schäfer von der
Sozialdemokratischen Partei ihre Stimme gegen die Annahme des Versailler
Vertrages ab. Nachdem die Nationalversammlung die Annahme des Versailler
Vertrages beschlossen hatte, wurde er von der deutschen Regierung am 28. Juni
1919 ratifiziert. Die alliierten und assoziierten Mächte ließen sich
jedoch noch mehr als ein halbes Jahr Zeit, bis sie (unter Ausscheiden der
Vereinigten Staaten von Amerika) auch ihrerseits den Vertrag annahmen.
Die Zeit zwischen der Besetzung des Saargebietes durch französische
Truppen, d. h. vom November 1918 bis zum 10. Januar 1920, dem Tage der
Ratifikation durch die Alliierten, benutzten die französischen
Besatzungstruppen, um im Saargebiet möglichst großen Einfluß
zu gewinnen und durch Erpressungen und Intrigen die Bevölkerung zur
Preisgabe ihrer Rechte zu zwingen. Man wollte möglichst viele Macht,
sowohl auf politischem wie auf wirtschaftlichem Gebiete, in die Hände der
Franzosen bringen, um in die Völkerbundsverwaltung mit möglichst
starker französischer Macht im Saargebiet hinüberzuwechseln. Also
das, was bei Wilson nicht zu erreichen war, suchte man durch Schaffung von
vollendeten Tatsachen vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Versailles
sicherzustellen.
Es war den Franzosen inzwischen klar geworden, daß der Widerstand der
Bevölkerung zum erheblichen Teile dazu beigetragen hatte, [90] ihnen die Annektion des Saargebietes in
Versailles zu vereiteln. Schon im Dezember 1918 hatten Vertreter der politischen,
kulturellen und wirtschaftlichen Kreise des Saargebietes auf dem Umwege
über die Waffenstillstandskommission dem Präsidenten Wilson
nachstehende Kundgebung der Saarbrücker Bürgerschaft zugehen
lassen:
"Unser Wille zum Deutschen Reich"
Ein Bekenntnis der Saarbrücker Bürgerschaft.
Wir Einwohner des
Stadt- und Landkreises Saarbrücken, eines rein deutschen Gebietes, erheben
feierlichst Einspruch gegen das in verschiedenen französischen Zeitungen
hervorgetretene Verlangen, uns von unserem deutschen Vaterlande zu trennen und
uns Frankreich, einem uns innerlich völlig fremden Staate, einzuverleiben.
Wir wollen auch jetzt in der Zeit des tiefen Unglücks mit unseren deutschen
Brüdern und Schwestern weiter vereint bleiben. Neun Jahrhunderte hindurch
war das Saarbrücker Land ein selbständiges deutsches
Fürstentum, es wurde 1801, zur Zeit der französischen Revolution,
Frankreich einverleibt, kam aber durch den Pariser
Kongreß 1815 wieder an
Deutschland, und zwar an die preußische Rheinprovinz, entsprechend dem
lebhaft und einmütig bekundeten Willen der Bürgerschaft von
Saarbrücken und St. Johann, der in dem anliegenden Beschlusse vom
11. Juli 1815 niedergelegt ist. Eine nochmalige Angliederung des
Saarbrücker Gebietes an Frankreich würde unvereinbar sein mit den
Grundsätzen des Präsidenten Wilson, die nicht nur von Deutschland,
sondern auch von unsern Gegnern als Grundlage für die
Friedensverhandlungen angenommen worden sind. Wir bitten den Herrn
Präsidenten und alle, die einen Frieden der Gerechtigkeit und der
Versöhnung herbeiführen wollen, nicht zu dulden, daß wir von
Deutschland losgerissen werden.
Saarbrücken, im Dezember 1918."
Um möglichst sicher zu gehen, fuhren außerdem Malermeister
Wilhelm Schmelzer und Professor Meyer von Saarbrücken zu dem Obersten
Schaufeler von den amerikanischen Besatzungstruppen nach Trier, um auch auf
diesem Wege die Amerikaner über die Forderung der Bevölkerung,
beim Reiche zu bleiben, zu unterrichten. In Berlin hatte sich ferner ein
Saargebietsschutz aus den im Reiche wohnenden Saarländern gebildet, der
ebenfalls durch Wort und Schrift, im Ausland und Inland, die Wahrheit über
das Saargebiet verbreitete; aus ihm ging später der Bund der Saarvereine
hervor.
Die Franzosen beantworteten diese Tätigkeit mit Steigerung ihrer
Bedrückungen. Um die Bevölkerung führerlos zu machen und
einzuschüchtern, wurden Verwaltungsbeamte, Industrielle, Werksdirektoren,
Bergbeamte, Redakteure, Vertreter der freien Berufe und vor allem auch mehrere
hundert Arbeiter ausgewiesen. In erster Linie hatte man es damit auf den Kreis
Saarlouis abgesehen, hier hoffte man am ehesten Erfolge zu erzielen. An die Stelle
der ausgewiesenen Verwaltungsbeamten wurden zum Teil Franzosen und solche
Leute gesetzt,
die - wie der Arzt Dr. Hector aus Pachten - frankophile Gesinnung
bekundet hatten. Dabei hatten es die Franzosen in der [91] Hauptsache auf Leute abgesehen, die mangels
persönlicher Leistung entweder beruflich oder im öffentlichen Leben
zurückstanden und denen sie goldene Berge versprachen, wenn sie sich
ihnen zur Verfügung stellten. Die Versuche, auch das kirchliche Leben des
Saargebietes von Deutschland abzutrennen, mißlangen; die Geistlichkeit
beider Konfessionen und die Laienvertretungen lehnten ab. Rücksichtslos
wurden die Machtmittel der Besatzungstruppen hinsichtlich der Kohlenverteilung
ausgenutzt, so daß die Industrie, vor allem die Hüttenwerke, nur
äußerst schwach betrieben werden konnte. Die Arbeiterschaft wurde
durch bezahlte Kreaturen gegen alles, was deutsch war, aufgehetzt und auch ihr
eine goldene Zukunft versprochen. Weißbrot, Speck und andere lang
entbehrte Nahrungsmittel hat man der ausgehungerten Bevölkerung als
besondere Wohltaten Frankreichs serviert. Eine Zeitung, der Neue
Saar-Kurier, die anfangs deutsch und französisch gedruckt wurde und die
mit den überreichen Mitteln des französischen Propagandafonds in
zahlreichen Ortschaften des Saargebietes ihre Ableger und Lesestuben errichtete,
wurde zur Vergiftung der öffentlichen Meinung und zur Verbreitung der
französischen Tendenzmärchen gegründet. Die Leitung dieses
skrupellosen Feldzuges lag in den Händen des Majors Richert und des
Kommandanten Rich; letzterem, als dem Abgesandten des damaligen
französischen Wiederaufbauministers Loucheur, lag auch die
planmäßige Bedrängung der Industrie ob; er sollte sie den
französischen Wünschen gefügig machen, die darauf
hinausliefen, daß 60% des Kapitals aller größeren
saarländischen Hütten und Fabriken in die Hände
französischer Gesellschaften gelangen sollten. Das einfachste Mittel zur
Erreichung dieses Zieles war, daß man die Kohlenlieferungen an die
Hüttenwerke von Zeit zu Zeit ganz sperrte, wohl wissend, daß in
damaliger Zeit eine andere Möglichkeit zum Betriebe der Werke nicht
gegeben war. Eine gewaltige Garnison von mehreren Divisionen, die in den
vorhandenen Kasernen nicht unterzubringen war und infolgedessen auch in
Privatquartieren lag und mit ihren übermäßigen Forderungen an
die Dragonaden Ludwigs XIV. erinnerte, sollte die Bevölkerung vollends
einschüchtern. Der ständige Hinweis auf die Machtlosigkeit
Deutschlands und die Herabsetzung seiner neuen politischen Verhältnisse
sollte die Hoffnungslosigkeit jeden Widerstands dartun. Dazu eine möglichst
vollständige Abschließung des Saargebietes und der besetzten Gebiete
von der übrigen Welt, um ja keine fremden Einflüsse aufkommen zu
lassen. So wurde der Bevölkerung ständig die eigene Rechtlosigkeit
und die Übermacht des französischen Staates vor Augen
geführt.
Ein außerordentlich wichtiges Mittel zur Gefügigmachung war es,
ständig Mißtrauen gegen den Völkerbund in der
Bevölkerung zu er- [92] wecken. Die Franzosen verbreiteten daher,
daß dieser ganz gewiß niemals etwas gegen Frankreich unternehmen
würde, daß die französische Vorherrschaft in ihm derartig
sichergestellt sei, daß irgendeine Hoffnung, dort Schutz gegen die
französische Übermacht zu erlangen, aussichtslos sei. Als dann in der
Sitzung des Völkerbundsrates vom 13. Februar 1920 in London zum
Präsidenten der Regierungskommission der Franzose Victor Rault, zu ihren
Mitgliedern der belgische Major Lambert, der dänische Graf
Moltke-Huitfeld und der Saarländer Alfred von Boch ernannt wurden,
während das fünfte Mitglied erst später bekanntgegeben
worden sollte, da wiesen die Franzosen überall im Saargebiet darauf hin,
daß diese Wahl ja schon beweise, daß sich unter der Verwaltung der
Regierungskommission dank der aus Rault, Lambert und
Moltke-Huitfeld bestehenden profranzösischen Mehrheit die Macht
Frankreichs gegenüber der Besatzungszeit ganz gewiß nicht
ändern werde; Frankreich habe die Vorherrschaft im Völkerbund, da
England an allen Ecken und Enden der Welt solche politischen Schwierigkeiten
habe, daß es, selbst wenn es wollte, was aber nicht wahrscheinlich sei, nichts
zugunsten der Saarbevölkerung werde tun können. Die spätere
Wahl eines Kanadiers anstelle eines Engländers zum fünften Mitglied
der Regierungskommission schien diesem Gerede insofern recht zu geben, als
England dadurch bewies, daß es Großbritanniens Einfluß im
Saargebiet nicht gegen die Franzosen einsetzen wolle. Die Franzosen jedenfalls
deuteten diese Wahl so. Also war einzig die Hoffnung der Saarbevölkerung
auf Herrn Alfred von Boch und seinen untadeligen Charakter gegründet,
wenn auch jedermann sich klar war, daß er allein das Schicksal nicht wenden
könne. Diese erste Zusammensetzung der Regierungskommission hat in
weiten Kreisen des Saargebietes die letzte Hoffnung auf die Möglichkeit
eines Widerstandes gegen die französische Macht vernichtet. Durch die
künstlich geschaffenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren viele
große Unternehmungen in Bedrängnis geraten und ihre Leiter und
Besitzer hoffnungslos geworden, in absehbarer Zeit einen Ausweg zu finden. Sie
gestanden den Franzosen die verlangte Beteiligung an ihrem Kapital zu. Nicht nur
der größte Teil der Hütten, sondern auch ein
beträchtlicher Teil der übrigen Industrie, verfiel dem
französischen Einfluß.
Als dann die Regierungskommission mit schönen Phrasen ihren Dienst
antrat, wurde es bald sichtbar, daß dahinter nicht der Wille stand, irgendeine
der Versprechungen der alliierten und assoziierten Mächte in der Note vom
16. Juni 1919 wie auch der eigenen Proklamation zu halten. Infolgedessen
mußten die Dinge sehr rasch zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen
der Regierungskommission und der Saarbevölkerung führen. Die
Verhandlungen mit der Beamtenschaft über deren Grundrechte klafften so
weit auseinander, daß [93] alle Bemühungen der Beamten, zu einer
vernünftigen Verständigung zu kommen, aussichtslos wurden. Die
brutale Haltung des Herrn Rault, der der Beamtenschaft jede Sicherstellung ihrer
Beamtenrechte verweigerte, führte am 6. August 1920 zum Streik der
gesamten Beamten und Arbeiter aller staatlichen und kommunalen Verwaltungen
und Betriebe. Die Verhängung des Belagerungszustandes und der
Übergang der gesamten Macht an den französischen
Kommandierenden General wurde sofort von der Regierungskommission
ausgesprochen. Herrn Alfred von Boch legte sein Amt nieder. Die
Saarbrücker Zeitung, die Saarbrücker Landeszeitung (die beiden
größten Blätter des Saargebietes) sowie andere Zeitungen
wurden für die Dauer je eines Monats verboten. Die französischen
Truppen verfolgten die streikenden Beamten, besonders die Eisenbahner, durch das
ganze Saargebiet, um durch deren Verhaftung den Widerstand zu brechen. Eine
große Zahl Bewohner des Saargebietes wurde ausgewiesen und über
den Rhein geschafft; einige wurden vor das französische Kriegsgericht
gestellt, das harte Strafen verhängte. Hatte auch der Streik der
Regierungskommission gezeigt, daß sie der Beamtenschaft nicht alles bieten
konnte, so führte er doch nicht zu einem direkten Erfolge und mußte
abgebrochen werden. Die Beamtenschaft des Saargebietes richtete ihre
Wünsche unter dem 3. September 1920 in einer Eingabe an den
Völkerbundsrat, erhielt aber keine Antwort. Jedoch wurde in der Sitzung des
Völkerbundsrates vom 18. September 1920 die
Rücktrittserklärung des Herrn Alfred von Boch angenommen und an
seine Stelle Dr. Hector zum Mitglied der Regierungskommission gewählt.
Gerade durch diese Haltung des Völkerbundsrates wurde der
Bevölkerung vor Augen geführt, daß sie dort nichts zu hoffen
habe.
Bald darauf ging der französische Staat einen Schritt weiter, indem er die
Bezahlung der Saarkohle in der französischen Währung verlangte,
auch die Entlöhnung der Bergleute in Franken durchführte.
Angesichts des ständigen Fallens der deutschen Währung hatten die
Bergleute dadurch eine finanzielle Ausnahmestellung vor der übrigen
Arbeiterschaft des Saargebietes. Im Dezember 1920 folgten dann die
Hüttenwerke auf diesem Wege nach.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die infolge der klaffenden Unterschiede
zwischen den auf dem deutschen Markte für die Saarerzeugnisse in Mark
erzielbaren Verkaufspreisen und den in dem verhältnismäßig
stabilen Franken erwachsenden hohen Selbstkosten im Saargebiete sich auftaten,
führten zu sich ständig wiederholenden Krisen. Streiks und
Aussperrungen waren an der Tagesordnung. Die Regierungskommission, die
immer wieder um Abhilfe gebeten wurde, zeigte sich hilflos und unfähig.
Als daher auf der Völkerbundsversammlung des September 1921 Lord
Robert Cecil in einer herben [94] Kritik an den Leistungen des Völkerbundes
die Verwaltung des Saargebietes als "das einzige Aktivum des
Völkerbundes" bezeichnete, da entschlossen sich die führenden
Kreise der deutschen Saarwirtschaft, und zwar sowohl der Arbeiter wie des
Handels und der Industrie, bewaffnet mit einer großen Denkschrift, die in
vier Sprachen gedruckt war, nach Genf zu reisen und in den Kreisen der
Völkerbundsstaaten die Wahrheit über die Zustände im
Saargebiet zu verbreiten. Silvester 1918 war ich (nach vorheriger Verhaftung durch
die amerikanischen Besatzungstruppen, die von den Franzosen veranlaßt
worden war) auf Beschluß des Obersten Alliierten Kriegsrates aus dem
besetzten Gebiet ausgewiesen worden und erst im Sommer 1921 nach Hause
zurückgekehrt. Dem Ersuchen, der beschlossenen Genfer Delegation
beizutreten, habe ich selbstverständlich entsprochen. Sie bestand aus nicht
weniger als 18 Mitgliedern, um durch die Zahl der Beteiligten eine Ausweisung,
wenn sie etwa erfolgen sollte, zu einer möglichst großen Sache und
dadurch vielleicht unmöglich zu machen. Die Versuche in Genf, mit den
Vertretern der Großmächte in Fühlung zu kommen,
mißlangen zuerst vollständig. Überall fanden wir verschlossene
Türen. Endlich erhielt ich aus London einen Empfehlungsbrief an Lord
Arthur Balfour, den Führer der englischen Delegation, von seinem Bruder.
So gelang es, Eingang bei Lord Balfour zu erhalten und ihm unsere Schmerzen
vorzutragen. Kaum hatte Balfour uns angehört, als sich wie durch ein
"Sesam tue dich auf" uns auch die Pforten zu den anderen maßgebenden
Mitgliedern des Völkerbundsrates öffneten. Von Zuhause kam
inzwischen die Mitteilung, daß den Franzosen die Tatsache unseres
anfänglichen Mißerfolges bekanntgeworden war und daß sie
diese innerhalb der Bevölkerung weidlich ausnutzten. Sie veranstalteten
sogar durch gekaufte Subjekte Straßenumzüge gegen uns, zu denen
die unter dem Belgier Lambert stehende Eisenbahnverwaltung den Arbeitern
Dienstfreiheit und Bezahlung des Lohnausfalles gewährte. Umso
größer war aber das Erstaunen allerseits, als wir bei unserer Heimkehr
berichten konnten, daß wir überall, mit Ausnahme bei den Franzosen,
Zutritt und freundliche Aufnahme gefunden hatten. Zwar unsere mitgebrachte
umfangreiche Denkschrift hat wohl niemand in Genf gelesen, wohl aber eine ganz
kurze, die wir eiligst dort verfaßt hatten. Die Lehren aus dieser ersten
Delegation ließen bei allem Skeptizismus, der vor übertriebenen
Hoffnungen bewahrte, erkennen, daß der Weg der Beschwerde an den
Völkerbundsrat nicht aussichtslos war, wenn man nur mit
äußerster Sorgfalt und mit beweisbaren Anklagen gegen die
Regierungskommission vorging und dabei die Nichteinhaltung der
Schutzbestimmungen, wie sie sich aus dem Versailler Vertrage und der Note der
alliierten und assoziierten Mächte vom 16. Juni 1919 ergaben, in den
[95] Vordergrund stellte. Für die
Völkerbundsratstagung vom Januar 1922 wurde ein umfangreiches
Beschwerdematerial zusammengestellt und durch die Regierungskommission an
den Völkerbundsrat übersandt. Eine Delegation, die fortan sehr viel
kleiner gehalten wurde, nutzte die gewonnene Bekanntschaft mit den einzelnen
Ratsmitgliedern zur Erläuterung der Beschwerden aus. Seit dieser Tagung
sind zu fast sämtlichen Sitzungen des Völkerbundsrates immer und
immer wieder Denkschriften in der Gesamtzahl von 31 eingereicht worden, bis
durch den Eintritt des Reiches in den Völkerbund im September 1926 ein
Verfechter der Saarinteressen im Völkerbundsrate selber gewonnen wurde.
Von September 1921 ab waren unermüdlich bei allen Tagungen des Rates
und der Völkerbundsversammlung, ja bei allen großen Konferenzen,
wie z. B. der Genueser Konferenz im Mai 1922, Saarvertreter zugegen in
der Hoffnung, irgend etwas zur Verbesserung der Lage zu erreichen. Oft genug
schien es, als ob überhaupt nichts erzielt worden sei; waren doch vielfach
greifbare Ergebnisse nicht sichtbar. Aber die stets wachsende Vertrautheit mit den
Personen und die ständige Beobachtung der Weltentwicklung ließen
immer wieder neue Wege erkennen, wie die gewonnenen Beziehungen zugunsten
des Saargebietes benutzt und weiter verbessert werden konnten. Bei dieser
Gelegenheit drängt es mich, zu bekunden, daß vom ersten Tage
unserer Bekanntschaft an das norwegische Mitglied der
Völkerbundsversammlung Fridtjof Nansen uns nicht nur bereitwilligst
angehört, sondern uns auch die Bekanntschaft mit Lord Robert Cecil
vermittelt hat. Durch alle Jahre unseres Kampfes um die Anerkennung unserer
Delegation in den Kreisen des Völkerbundes ist Herr Nansen uns ein treuer
und zuverlässiger Freund geblieben. Auch bei der Beurteilung der
Persönlichkeiten des Völkerbundssekretariats und derjenigen
Staatsmänner, die im Völkerbund eine Rolle spielen, hat er uns durch
freundliche Fingerzeige, die sich als außerordentlich wertvoll erwiesen
haben, stets unterstützt. Getragen wurde die gesamte Arbeit von den im
interparteilichen Ausschuß zusammengeschlossenen Parteien des Zentrums,
der Liberalen Volkspartei, der Demokraten und der Sozialdemokratischen Partei,
später auch von der Deutschnationalen Volkspartei und der
Wirtschaftspartei.
Die Bemühungen galten auf Grund der Erfahrung, daß die
Ratsmitglieder von wirtschaftlichen Dingen nichts wissen wollen, vorzugsweise
der Erreichung politischer Ziele. Jahrelang galt der Kampf vornehmlich der
Beseitigung des französischen Militärs aus dem Saargebiete, dessen
Anwesenheit in offenkundigem Widerspruch zum Versailler Vertrag stand; sollte
doch im Saargebiet die Ordnung und Sicherheit nur durch eine örtliche
Gendarmerie aufrechterhalten werden. Diese Gendarmerie mußte jedoch erst
geschaffen werden. [96] Unter den nichtigsten Vorwänden suchte
die Regierungskommission diese Schaffung zu hintertreiben, bis sie 1924 vom
Völkerbundsrate gezwungen wurde, das Landjägerkorps von 37 auf
1000 Mann zu bringen. Die französischen Truppen wurden allmählich
bis auf ein Regiment Infanterie, ein
Jäger-Bataillon, ein Kavallerie-Regiment und eine reitende Abteilung
Feldartillerie zurückgezogen. Die Saarvertreter ließen aber nicht
locker, und auch diese Truppen waren bis auf das
Infanterie-Regiment entfernt, als im Frühjahr 1926 die Forderung des
französischen Generalstabs nach einer militärischen Sicherung der
saarländischen Bahnlinien auftauchte, die selbst im Völkerbundsrate
mit einer ebenso merkwürdigen wie unberechtigten Ehrfurcht behandelt
wurde. Zunächst war daher kein Fortschritt zu erreichen. Erst als das
Deutsche Reich Mitglied des Völkerbundsrates war, wurde der Bahnschutz
in Höhe von 800 Mann, bestehend aus Franzosen, Belgiern und
Engländern, im Jahre 1927 eingesetzt. (Das englische Truppenkontingent hat
im Verfolg der Beschlüsse der ersten Haager Konferenz im September 1929
das Saargebiet verlassen.) Abschließend läßt sich sagen,
daß es gelungen ist, die Besatzungstruppen um ungefähr 10 000 Mann
zu vermindern und die vollständige Unabhängigkeit der
Bevölkerung von den französischen Militärs, deren
Kriegsgerichten, Belagerungszustand usw. sicherzustellen.
Der zweite Kampf galt der Zusammensetzung der Regierungskommission und der
Verhinderung des Mißbrauchs ihrer Amtsgewalt; es wurde eine wirkliche
Volksvertretung erstrebt, die den hohen Grundsätzen des
Völkerbundes von Demokratie und Selbstbestimmung entsprach. Bereits die
erste Denkschrift vom Dezember 1921 hatte diesen Gegenstand behandelt. Die
Befragung der Bevölkerung, die bei Gesetzesänderungen der
Regierungskommission durch den Vertrag von Versailler zur Pflicht gemacht war,
wurde dadurch praktisch wirkungslos, daß von der Regierungskommission
der Stadtverordnetenversammlung von Saarbrücken und den sieben
Kreistagen, jeder Korporation für sich, die Gesetzesvorlagen zur
Begutachtung vorgelegt
wurden, - ein System, das hoffnungslos gewesen wäre, auch wenn die
Regierungskommission den guten Willen zur Zusammenarbeit gehabt hätte.
Infolgedessen wurde eine einheitliche Volksvertretung gefordert. Sie wurde in der
Sitzung des Völkerbundsrates vom März 1922 beschlossen. Hierbei
setzten es die Franzosen immerhin durch, daß die Mitglieder der
Regierungskommission, die jedes Jahr vom Völkerbundsrate neu zu
wählen sind, auf fünf Jahre die Sicherheit ihrer Wiederwahl
erhielten.
Im Sommer 1922 fanden die Wahlen zum ersten Landesrat statt. Noch ehe die
neugewählten Vertreter zu ihrer ersten Sitzung zusammentraten, hielten sie
es für ihre loyale Pflicht, den Völkerbunds- [97] rat durch die Bitte, das saarländische
Mitglied Dr. Hector nicht mehr zu bestätigen, da er nicht das Vertrauen der
Bevölkerung genieße, darauf hinzuweisen, daß der Landesrat
nicht mit diesem Manne zusammenarbeiten wollte. Im September 1922 wurde
diese Forderung erneut ausgesprochen und der Beweis dafür angeboten,
daß Dr. Hector in seiner Eigenschaft als Bürgermeister von
Frankreichs Gnaden Eingaben der Stadtverordnetenversammlung Saarlouis an die
französische Regierung inhaltlich in übelster Weise verfälscht
hatte. Es gelang zunächst, Lord Arthur Balfour dafür zu gewinnen,
unser Material prüfen zu lassen. Die Franzosen aber setzten in der
Ratssitzung, in der Balfour diesen Wunsch aussprach, durch, daß das
Mitglied des Völkerbundssekretariats Dr. van Hameln, der auch später
in Danzig, obwohl Holländer, ein denkbar schlechtes Andenken hinterlassen
hat, mit dieser Prüfung betraut wurde. Er kam auffallend rasch zu dem
Ergebnis, daß es sich nur um eine "freie Übersetzung" und nicht, wie
behauptet, um die betrügerische Umwandlung wirtschaftlicher Forderungen
der Stadt Saarlouis in eine Ergebenheitsadresse an Frankreich handele. Unser
anfänglicher Erfolg wurde zunächst ein Mißerfolg: Dr. Hector
wurde wieder bestätigt, und Lord Arthur Balfour warnte in
öffentlicher Völkerbundsversammlung vor "den Leuten aus dem
Saargebiet, die in Genf von Haus zu Haus gingen und Mißtrauen gegen die
Saarregierung zu säen suchten!" In einem sofortigen Brief wurde gegen sein
Verhalten protestiert und die Anklage aufrechterhalten. Die Saarpresse nahm sich
hierauf mit aller Energie des Falles Hector an. Besonders waren es die
Saarbrücker Zeitung und die Volksstimme, die in außerordentlich
scharfen Worten Hector des Landesverrates bezichteten. Rault kam seinem
Schützling Hector zu Hilfe und wies die beiden Redakteure der
Volksstimme (Rausch und Lehmann) aus, da beide nur eine vorübergehende
Aufenthaltserlaubnis für das Saargebiet besaßen. Gegen den
Redakteur Adolf Franke von der Saarbrücker Zeitung dagegen wurde ein
Beleidigungsprozeß angestrengt. Er wurde vor der Strafkammer des
Landgerichtes Saarbrücken im März 1923 verhandelt. Dabei wurde
nachgewiesen, daß Hector als Bürgermeister von Saarlouis auch noch
andere Briefe landesverräterischen Inhalts an Clemenceau geschrieben hatte.
Hector leugnete als Zeuge unter Eid die Existenz dieser Briefe. Eine sofortige
Untersuchung stellte aber ihre Existenz in dem Archiv der Stadt Saarlouis fest.
Hector war damit des Meineids überführt, Franke wurde
freigesprochen, Hector mußte sein Amt als Mitglied der
Regierungskommission niederlegen; auf seinen Vorschlag (!) wurde der
frühere Lotterieeinnehmer Julius Land aus Saarlouis provisorisch zum
Mitglied der Regierungskommission gemacht, bis er bald darauf vom
Völkerbundsrat endgültig ernannt wurde. Von dem Ausgang des
Falles [98] Hector habe ich Lord Arthur Balfour unterrichtet;
er ist seit dieser Zeit ein Freund von uns geblieben.
In den Kampf um das saarländische Mitglied der Regierungskommission
schlugen die großen Wellen der Ruhrbesetzung im Jahre 1923 hinein. Der
passive Widerstand legte immer mehr den gesamten Verkehr im besetzten Gebiet
lahm. Die Bergleute des Saargebietes traten wegen Lohnforderungen, die von der
französischen Bergverwaltung kurzerhand abgelehnt worden waren,
geschlossen in den Streik. Die Regierungskommission, die den
Belagerungszustand nach dessen mißbräuchlicher Benutzung im Jahre
1920 nicht mehr ohne weiteres verhängen durfte, erließ eine
Notverordnung, durch die sie der Bevölkerung jedes Recht der
Meinungsäußerung unterband, die Zeitungen unter Zensur
stellte, - sie nach Belieben unterdrücken, die Bewohner "verbannen",
sie wegen übeler Nachrede der Regierungskommission, des
Völkerbundes und der Mitgliedsstaaten des Völkerbunds mit
allerschwersten Strafen belegen
konnte - kurzum: nach dieser Verordnung hätte sie mit
schrankenloser Gewalt gegen die Bevölkerung vorgehen können.
Unverzüglich reichten die politischen Parteien eine Beschwerde an den
Völkerbundsrat ein, in der sie darauf hinwiesen, daß die Verordnung
mit dem Geiste des Völkerbundes und des Saarstatuts unvereinbar,
überdies durch nichts gerechtfertigt sei, und außerdem der
Rechtsgültigkeit entbehre, weil die vorgeschriebene vorherige Befragung der
Bevölkerung unterlassen worden war. Bei der nächsten Ratstagung
wurde durch den englischen Vertreter Sir Edward Wood, den jetzigen
Vizekönig von Indien, und durch den schwedischen
Ministerpräsidenten Branting die Frage dieser Notverordnung und des
Bergarbeiterstreiks aufgegriffen mit dem Erfolge, daß Rault in die Enge
getrieben wurde und mildeste Handhabung der Notverordnung versprechen
mußte. Unser Versuch, den Bergarbeiterstreik durch die Vermittlung des
Völkerbundsrates zu beenden, mißlang zunächst. Dafür
fand sich aber ein neuer Weg zu einem Ausgleich über das Internationale
Arbeitsamt, - ein Weg, der schließlich auch wegen der Verurteilung
der französischen Methoden durch Branting aussichtsvoll wurde. Geholfen
hat dabei sehr, daß im englischen Parlament am 14. Mai 1923 als
Rückwirkung des Ruhreinfalles, mit dem England nicht einverstanden war,
scharfe Angriffe von allen Seiten wegen der Notverordnung auf die
Regierungskommission und die Franzosen erhoben worden waren. Auch dies
ließ es den Franzosen angezeigt erscheinen, den Bergarbeiterstreik nach
100tägiger Dauer durch eine Lohnerhöhung zu beenden. Dadurch
wurde eine außerordentliche Stärkung der Bergarbeitergewerkschaften
gegenüber der Macht des französischen Staates, die gerade damals
gegenüber dem Reich übergroß erschien,
herbeigeführt, - ein Erfolg, der sich durch [99] die kluge und maßvolle Haltung der
Führer der Gewerkschaften bisher erhalten hat.
Eine andere Phase des Abwehrkampfes galt dem Versuche Frankreichs, das
Saargebiet und seine Bewohner zu isolieren, d. h. ihrem Verkehr nach
auswärts gewisse Beschränkungen aufzuerlegen. So wurde
versuchsweise drei anderen Herren und mir durch Verfügung der
Interalliierten Rheinlandkommission vom 13. Mai 1923 die Durchreise durch das
besetzte Gebiet wegen angeblicher Gefährdung der Besatzungstruppen
verboten; durch Frankreich konnte ich nicht reisen wegen meiner Verurteilung
vom Kriegsgericht in Amiens vom 24. Dezember 1919 zu 10 Jahren Zuchthaus, 15
Jahren Landesverweisung und 10 Millionen Franken
Geldstrafe, - einer Verurteilung angeblich wegen Raub, Diebstahl und
Einbruch im Zusammenhang mit dem Abtransport von Werkzeugmaschinen, die
im Auftrage der deutschen Heeresverwaltung erfolgt war. Ein Gesuch an die
Regierungskommission, mir die Durchreise durch das besetzte Gebiet zu erwirken,
um im Auftrage der politischen Parteien zur Völkerbundstagung zu fahren,
war unter dem Eindruck der letzten großen Mißerfolge von Erfolg
begleitet. Aber schon wieder zu der Völkerbundsversammlung im
September 1923 wurde mir die Durchreise durch das besetzte Gebiet versagt,
trotzdem die Fraktionen des Landesrates unterm 8. Juni eine Denkschrift wegen
meiner Internierung im Saargebiet und deren Aufhebung an den
Völkerbundsrat gerichtet hatten. Durch die Absperrung infolge des
Ruhreinbruchs war aber auch der Absatz der Waren von der Saar durch das
besetzte Gebiet behindert. Infolgedessen wurde ein juristisches Gutachten,
ausgearbeitet von hervorragenden englischen Juristen, in Sachen des freien
Durchgangsrechts für die Saareinwohner und für die
saarländischen Waren durch die besetzten Gebiete, die uns auf Grund des
Versailler Vertrages sichergestellt war, dem Völkerbundsrate eingereicht.
Auf der Ratstagung im Dezember 1923 wurde diese Frage zwar nicht offiziell
behandelt, aber Lord Robert Cecil machte dem Präsidenten Rault klar,
daß die Angelegenheit in der nächsten Tagung des
Völkerbundsrates auf die Tagesordnung käme, wenn sie bis dorthin
nicht geregelt wäre. Die deutsche Regierung stellte den für diese
Verhandlung erforderlichen formellen Antrag mit dem Erfolge, daß die
Regierung des Herrn Poincaré das gegen mehrere Bewohner des Saargebietes
einschließlich meiner Person erlassene Durchreiseverbot nach 9monatiger
Dauer durch die Interalliierte Rheinlandkommission aufheben ließ. Auf der
Ratstagung war daher nur noch die Feststellung dieser Aufhebung und ihre
Sanktionierung zu verkünden. Damals erklärte das schwedische
Mitglied Herr Branting, daß ich mit der getroffenen Regelung einverstanden
sei, worauf Herr Hanotaux, das französische Mitglied, die
Bemer- [100] kung machte: "Es ist dies das erstemal,
daß Herr Röchling mit etwas zufrieden ist!" Auch dieser Kampf um
das Recht führte zu vollem Erfolge, wenn auch die Schäden, die wir
durch die Internierung erlitten hatten, sehr erheblich waren und sich noch lange
bemerkbar gemacht haben.
In der Ratstagung vom Juli 1923 setzte es Lord Robert Cecil, der damals zum
erstenmal die englische Regierung vertrat, durch, daß die gesamte
Regierungskommission vom Völkerbundsrate über die
Verhältnisse im Saargebiet verhört wurde. Dieses Verhör
dauerte 1½ Tage und hatte das Ergebnis, daß als Erster Julius Land
und dann auch Graf
Moltke-Huitfeld als Mitglieder der Regierungskommission bei den nächsten
Wahlterminen nicht mehr gewählt wurden. Sie wurden ersetzt durch den
Saarländer B. Koßmann und den spanischen Oberst Espinosa de los
Monteros, einen ausgezeichneten Mann,
der - in Wien in der deutschen Kultur erzogen - ein
außergewöhnliches Verständnis für uns Deutsche hatte.
Ich werde nie vergessen, wie mir Espinosa einst auf dem Quai du Mont Blanc in
Genf, als es wieder einmal bei uns drüber und drunter ging, sagte, das
deutsche Volk habe eine ungeheuer schwere Krankheit durchgemacht, sei aber
Rekonvaleszent und werde seine alte Kraft und Stärke bald wieder erlangen.
Dann sagte er wörtlich: "Aber an den Spruch muß das deutsche Volk
immer denken, der auf dem
Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Koblenz steht und der lautet: Nimmer wird das Reich
vergehen, wenn Ihr einig seid und treu!" Daß ein Mann dieser Gesinnung
schon nach einem halben Jahre seiner Tätigkeit als Mitglied der
Regierungskommission einem tückischen Leiden in einem
französischen Badeorte erliegen mußte, war ein besonders harter
Schlag. Was wunder, daß in der Saarbevölkerung die Meinung
aufkam, er sei von den Franzosen vergiftet worden; die Leute wollten sich dies
absolut nicht ausreden lassen. Aber auch der tapfere und aufrechte Kanadier R. D.
Waugh legte im Sommer 1924 sein Amt nieder, um in seine Heimat
zurückzukehren. Sein Nachfolger wurde der Kanadier George Washington
Stephens, ein Mann von jovialem liebenswürdigem Wesen, der bald in allen
Kreisen der Bevölkerung persönliche Freunde gewann. Als dann im
Jahre 1926 der französische Präsident Victor Rault unseeligen
Angedenkens, der vollkommen abgewirtschaftet hatte, das Saargebiet
verließ, wurde sein Nachfolger Stephens. Nachdem an Stelle von Espinosa
der Tscheche Vezensky, bis dahin Richter am Obergericht in Saarlouis, ernannt
worden war, hatten immer noch die Franzosen und ihre Freunde die absolute
Mehrheit in der Saarregierung. Daher nannte sich Stephens oft den
Präsidenten der Minorität. Der Neffe von Herrn Rault, Herr Morize,
der bisherige Generalsekretär der Regierungskommission, wurde der
Nachfolger seines Onkels und [101] übernahm das Finanzministerium. Im
vergangenen Jahre schied auch der Belgier Lambert aus und wurde durch den
ausgezeichneten Finnländer Dr. von Ehrnrooth ersetzt. Stephens
aber - den Anstrengungen seiner Tätigkeit bei den Intrigen der
Franzosen gesundheitlich nicht mehr
gewachsen - stellte sein Amt zur Verfügung. Er wurde durch den
Engländer Sir Ernest Wilson ersetzt. Erst nach so vielem Stellenwechsel
entspricht jetzt endlich die Zusammensetzung der Regierungskommission
ungefähr dem Sinne und einer loyalen Auffassung des Saarstatuts; so
hätte sie von Anfang an sein sollen: daß nämlich die deutschen
und französischen Interessen einigermaßen gleichmäßig
unter neutralen Schiedsrichtern zur Geltung kommen. Hierzu waren rund 9 Jahre
notwendig. Wieviel Vergiftung der
deutsch-französischen Atmosphäre wäre vermieden worden,
wenn die Alliierten, die bei Ernennung der ersten Regierungskommission im Jahre
1920 die Macht im Völkerbunde hatten, diese loyal und anständig
gehandhabt hätten. Zwar hätten sie ganz gewiß niemals den
Erfolg gehabt, daß sich die Saarbevölkerung von ihrem Mutterlande
hätte abtrennen lassen. Aber eins wäre möglich gewesen:
Daß die jetzige Atmosphäre des Mißtrauens, ja vielfach des
Hasses, die heute im Saargebiet gegen Frankreich herrscht, gar nicht erst Platz
gegriffen hätte. Wir haben in 10 Jahren gelernt, durch straffen
Zusammenschluß uns zu wehren. Man muß sagen, daß die
Schule, die die Saarbevölkerung durchgemacht hat, sie manches gelehrt hat;
gelehrt auch, was Versprechungen der Franzosen wert sind, zum mindesten der
Franzosen, die man als Exponenten der französischen Politik an die Saar
geschickt hat.
Der Landesrat, der im Sommer 1922 zum erstenmal zusammentrat, mußte
sich genau so gut seine Position erkämpfen, wie es auf allen Gebieten hat
geschehen müssen. Er hatte ja nur das Recht, von der
Regierungskommission "angehört" zu werden. Daraus schloß diese
oder doch wenigstens ihre französische Mehrheit, daß sie nicht die
geringste Verpflichtung habe, die Gutachten des Landesrates auch zu
berücksichtigen. Zunächst mußte dafür gesorgt werden,
daß der Landesrat als gewählte Vertretung der Bevölkerung
nicht wegen seiner Machtlosigkeit in Mißkredit bei den Wählern
geriet. Er mußte daher in erster Linie als Sprachrohr der Nöte und
Leiden aller Klassen auftreten und verhindern, daß irgendeine der wichtigen
Fragen, die die Bevölkerung bewegten, in Vergessenheit geriet. Durch
allerfleißigste und sorgfältigste Mitarbeit an allen
Gesetzentwürfen, die ihm zugingen, und durch wesentliche
Verbesserungsvorschläge bewies er Willen und Fähigkeit zur
Mitarbeit. Der Versuchung, unter Eklat die Mitarbeit einzustellen, gab er nicht
nach, trotzdem Erfolge seiner Arbeit oft von vornherein unmöglich waren.
Naturgemäß wurden auch die Genfer Delegationen
nun- [102] mehr in der Hauptsache aus Mitgliedern des
Landesrates zusammengesetzt, da diese aus politischen Wahlen durch die
Wählerschaft des gesamten Saargebietes hervorgegangen waren und daher
Recht und Pflicht hatten, im Namen der gesamten Saarbevölkerung zu
sprechen. Der Kampf um den Einfluß des Landesrates bei der
Regierungskommission ist noch in vollem Gange. Das Ziel, daß die
Vorschläge des Landesrates von der Regierungskommission in
entsprechender Weise gewertet werden, ist keineswegs erreicht. Wenn auch hier
und da einmal ein kleiner Erfolg erzielt ist, so ist jedenfalls noch
außerordentlich viel zu tun und eine große Strecke Weges
zurückzulegen. Ein anderes Ziel ist, daß die Vertreter des Landesrates
ebenso wie die Mitglieder der Regierungskommission von dem
Völkerbundsrate offiziell gehört werden sollen. Einmal schien dieser
Wunsch der Erfüllung nahe, als der Schwede Branting im Jahre 1925 in
öffentlicher Ratstagung vorschlug, die anwesenden Vertreter der
Bevölkerung zu hören. Der Vorschlag ist aber damals durchgefallen,
und man ist auch in der späteren Zeit nicht weitergekommen.
Zusammenfassend darf gesagt werden, daß es dem Landesrat trotz vieler
Mißerfolge gelungen ist, das Vertrauen der Wähler zu behalten. Es
besteht kein Zweifel, daß er auch bei der Regierungskommission auf die
Dauer den erforderlichen Erfolg haben wird.
Ein Kampf, der durch Jahre hindurch mit besonderer Erbitterung geführt
wurde, galt der Abwehr des Franzosen und ihrer Trabanten in der Schulabteilung
der Regierungskommission; sie wollten die deutschen Schulen in ein
französisierendes Fahrwasser bringen. So wurde in den Lehrplan der
französische Sprachunterricht fakultativ
aufgenommen, - eine Neuerung, gegen die sich von Anfang an ein
großer Teil der Lehrerschaft aus rein pädagogischen
Erwägungen wandte. Durch diese Überlastung litt die
gründliche Ausbildung in den normalen Fächern, denn für die
teilnehmenden Kinder darf die Gesamtstundenzahl je Woche nicht erhöht
werden; es mußte also die Unterrichtserteilung in deutschen Fächern
gekürzt werden. Die dadurch verursachten auffallenden Mißerfolge in
der Ausbildung der Schüler veranlaßten die Bevölkerung, ihre
Kinder diesem Unterricht fernzuhalten, zumal immer wieder versucht wurde, aus
der Teilnahme am französischen Unterricht Sympathien für
Frankreich (selbst für das eroberungssüchtige Frankreich, wie es bei
uns auftritt) zu konstruieren und damit politische Geschäfte zu machen.
Weite Kreise im Saargebiet würden sicherlich gern ihre Kinder in der
französischen Sprache ausbilden lassen, wenn die Franzosen nicht selbst
jeden derartigen Versuch durch ihre politische Giftmischerei vernichteten.
Die Schulen, die der französische Staat im Saargebiete unterhält,
tragen in besonderem Maße zur Vergiftung der
deutsch-französischen [103] Beziehungen bei. Der französische Staat
legt den § 14 des Saarstatuts, wonach er "als Nebenanlagen der Gruben
Volksschulen oder technische Schulen für das Personal der Gruben und die
Kinder des Personals gründen und den Unterricht darin in
französischer Sprache nach einem von ihm festgesetzten Lehrplan durch von
ihm ausgewählte Lehrer erteilen lassen darf", dahin aus, daß in den
Kreis dieser Schulen nicht nur das französische, sondern sein gesamtes
Personal, also auch die deutsche
Arbeiter- und Beamtenschaft, einbezogen wird. Trotzdem § 28 des Saarstatuts den
Einwohnern des Saargebietes die Beibehaltung ihrer Schulen und ihrer Sprache
garantiert, ist die Regierungskommission der Auffassung des französischen
Staates beigetreten und hat sogar verordnet, daß die deutschen Kinder des
Saargebietes - gleichgültig, ob ihre Eltern zum Grubenpersonal
gehören oder
nicht - ihre gesetzliche Schulpflicht in diesen Schulen des
französischen Staates erfüllen können. Die französische
Grubenverwaltung kann ihrerseits der Versuchung nicht widerstehen, die ihr auf
diese Weise eingeräumte günstige Position auszunutzen, indem sie
durch allerhand Druck, z. B. bei der Arbeitereinstellung, Zuteilung von
Werkswohnungen, Verlegung an schlechte Arbeit usw. usw., die Bergleute willens
zu machen sucht, gegen die eigene Überzeugung ihre Kinder den
französischen Schulen zuzuführen. Dabei sind die
französischen Schulen derartig schlecht, daß die Bevölkerung
sie als Idiotenschulen bezeichnet. Die Kinder lernen weder deutsch noch
französisch ordentlich lesen und schreiben, werden also als geistige
Krüppel in den Lebenskampf hinausgeschickt. Sie werden damit ganz
minderwertig für diesen vorbereitet. Die Absicht ist leicht erkenntlich: Am
liebsten möchten die Franzosen die Saarbevölkerung degeneriert
haben, damit sie später leichteres Spiel mit ihr hätten. Gegen dieses
Bestreben, die Qualität des deutschen Volkes herabzudrücken, und
gegen die unanständige Manier im nationalen Kampfe, die Notlage von
Untergebenen zu mißbrauchen, hat die Bevölkerung sich energisch zur
Wehr gesetzt und erreicht, daß in der Ratstagung vom Dezember 1924 in
Rom die Regierungskommission sich hat verpflichten müssen,
darüber zu wachen, daß keine Bedrückung der Bergleute
stattfinde, um sie zu zwingen, ihre Kinder in die Franzosenschulen zu schicken.
Aber trotz vielfacher Beschwerden bei der Regierungskommission sind die
Bedrückungsversuche immer noch nicht verschwunden.
Die wirtschaftliche Lage des Saargebietes ist durch die Eingliederung des Gebietes
in das französische Zollgebiet infolge des Versailler Vertrages entscheidend
beeinflußt worden. Dem Saargebiet wurde nur bis zum 10. Januar 1925 die
zollfreie Einfuhr seiner erzeugten Waren nach dem Deutschen Reiche
gewährt. Von da ab sollte das Saargebiet lückenlos den
französischen Zollgesetzen [104] unterworfen und in seinem Verkehr mit dem
deutschen Reiche nach französischen Handelsverträgen behandelt
werden, etwa genau so wie
Ost-Oberschlesien zu Polen gehört und Danzig in den polnischen
Zollgürtel eingeschlossen ist. Die französische Volkswirtschaft hat
sich aber infolge der Annektion von
Elsaß-Lothringen mit seiner sehr großen, von Deutschen entwickelten
Industrie grundlegend geändert. Während im alten Frankreich die
Eisen- und die Textilindustrien, auch die keramische Industrie, so aufgezogen
waren, daß sie in der Hauptsache den französischen Inlandsbedarf
deckten, kamen nun die gleichen Industrien aus
Elsaß-Lothringen hinzu. Der Markt wurde übersättigt. Es gab
Absatzschwierigkeiten, die man durch gegenseitiges Unterbieten zu beheben
suchte, was wieder zu Lohndruck und damit zu Streiks und Aussperrungen
führte. Kurzum, das Durcheinander auf den französischen
Märkten wurde von Tag zu Tag größer, als das Saargebiet am
10. Januar 1925 durch die Sperrung der Zollgrenze gegen das Deutsche Reich von
seinen angestammten Märkten vertrieben schien. Betroffen wurden davon
alle Industrien des Saargebietes. Es war klar, daß es weder auf dem
französischen Markt noch auf dem Weltmarkt, von dem es durch
große Bahnstrecken entfernt liegt, einen Ausgleich für das verlorene
Paradies des deutschen Marktes finden konnte; denn für den Weltmarkt
waren die hohen Selbstkosten ebenso untragbar wie für den
französischen Markt. Sehr rasch machten sich die Folgen dieser Tatsache
durch Füllung der Läger und Schließung der Betriebe
bemerkbar. Die Abhilfe wurde immer dringender. Am 3. Mai 1925 besuchte eine
Abordnung der Handelskammer, des Zentrums und der
Deutsch-saarländischen Volkspartei (der Vereinigung der Volkspartei und
der Demokraten) den damaligen Reichskanzler Dr. Luther. In wenigen Minuten
wurde dort der Ausweg gefunden, daß das Deutsche Reich bis auf weiteres
den sämtlichen Hütten und Fabriken des Saargebietes,
gleichgültig ob ihr Kapital in deutschen oder vorwiegend
französischen Händen war, die Zölle gegen Sicherheitsleistung
stunden werde. Die Gleichstellung der Unternehmungen deutschen und
französischen Kapitals wurde mit Rücksicht auf deren Arbeiter und
Angestellten gewährt, die ja zu 99,9% Deutsche
sind, - wie überhaupt die gesamte Aktion in der Hauptsache mit
Rücksicht auf die Arbeiter und Angestellten des Saargebietes vom Reich in
die Wege geleitet wurde. Der Erfolg dieser Maßnahme, von der auch die von
Franzosen geleiteten
Werke - zuerst nur zögernd, dann aber in vollem
Umfange - Gebrauch machten, war der, daß die drohende
Wirtschaftskrise, die fürchterliche Ausmaße genommen hätte,
ausblieb, daß aber dafür die sämtlichen Unternehmungen in
zunehmendem Maße bis zu außerordentlich beträchtlichen
Summen Schuldner des deutschen Reiches
wurden, - ein Umstand, der be- [105] sonders den französischen Direktoren und
Aufsichtsräten sehr erhebliches Alpdrücken bereitete. Als nun
gleichzeitig im Sommer 1926 die französische Inflation die in Reichsmark
erfolgten Zollstundungen zu ungeheuerlichen Frankensummen steigen ließ,
wurden die Sorgen der französischen Direktoren immer größer.
Infolgedessen drückten die Franzosen sehr energisch auf ihre Regierung, sie
solle Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland wegen der Saar anbahnen.
Dieser Kampf muß recht mühsam gewesen sein, denn erst im
Frühjahr 1927 wurden diese Verhandlungen begonnen. Sie führten
zwar zu einem Handelsvertrag zwischen dem Reich und Frankreich, aber nicht zu
einem solchen, der den besonderen Verhältnissen der Saar Rechnung trug.
Erst Anfang des Jahres 1928 wurde man auch hinsichtlich der Saar einig, und zwar
brachte der Vertrag die praktische Anerkennung, daß das Saargebiet, um
leben zu können, den Absatz nach Deutschland haben müsse. Die
gestundeten Zölle wurden auf Anforderung der französischen
Regierung vom Deutschen Reich gestrichen und diejenigen Beträge, die
nach dem 10. Januar 1925 gezahlt worden waren, zurückerstattet. Das Ganze
war ein voller Erfolg für die Saar; denn während im Jahre 1924 und
1925 die französische Regierung ständig versuchte, gleiche
Konzessionen für das Saargebiet und
Elsaß-Lothringen auf handelspolitischem Gebiete vom Reiche zu erzwingen,
wurde die Saar nunmehr als reines Sondergebiet behandelt, das zollfreie Einfuhr
nach dem Reiche erhielt und dem für eine Reihe seiner Bedürfnisse in
bescheidenen Grenzen Zollermäßigungen für die Einfuhr
deutscher Waren zugebilligt wurden. Auf letzterem Gebiete ist die Regelung noch
absolut unbefriedigend, denn sowohl das Saargebiet wie die diesem benachbarten
deutschen Landesteile der Rheinpfalz, der Mosel und der Nahe leiden stark unter
dieser Verhinderung der normalen Einfuhr deutscher Waren nach dem
Saargebiet.
Wenn auch eine Besserung durch die ermäßigten Zölle
gegenüber dem vorherigen Zustand eingetreten ist, so überwiegen
doch noch die französischen Waren im
Saargebiet, - Waren, die weder ihrer Güte noch ihrer ganzen Art nach
unseren Ansprüchen genügen. Die Saarbevölkerung nimmt auf
alle Fälle die deutschen Waren, auch wenn sie etwas teuerer sind als die
französischen; aber sie kann natürlich keine deutschen Waren kaufen,
die durch die übermäßigen französischen Maximalzölle
stark verteuert sind. Infolgedessen wendet sie sich mit Vorliebe anderen
ausländischen Waren zu, z. B. bei den Autos. Lange Zeit sah man
viele italienische Wagen, während neuerdings die amerikanischen stark
vertreten sind. Die deutschen Marken kommen bei einem Wertzoll
zuzüglich Luxussteuer von zusammen 45% zur Einfuhr kaum in Frage. Es
ist dies besonders bedauerlich, weil die deutsche Autoindustrie den Markt des
Saar- [106] gebietes kaum entbehren kann. Genau so sind
andere Industrien des besetzten Gebietes und Deutschlands durch die
Abschnürung des großen Verbrauchsmarktes des Saargebietes schwer
geschädigt. Es wird eine Aufgabe der nächsten Jahre sein, zu
erreichen, daß auch die deutschen Waren im Saargebiet durch
vernünftige Zollbehandlung wieder konkurrieren können. Was an uns
liegt, wird in dieser Hinsicht geschehen.
Die zweite grundlegende Änderung der Saarwirtschaft, die infolge des
Versailler Vertrages eintrat, war der schon mehrfach behandelte Übergang
der sämtlichen Saargruben in die Hände des französischen
Staates. Während Preußen und Bayern als die Hauptbesitzer der
Saarkohlengruben Verständnis für die wirtschaftlichen
Bedürfnisse der im Saargebiet angesiedelten Industrien hatten und wenn
auch nicht immer gerade schon auf die erste Anregung hin, so doch auf Grund
einer vernünftigen Verhandlung, bereit waren, die Kohlenpreise zu
ermäßigen, so daß die örtliche Industrie
lebensfähig blieb, hat der französische Staat von Anfang an das
Saargebiet als eine Reparationsprovinz angesehen, aus der er durch hohe
Kohlenpreise und niedrige Löhne einen möglichst großen Ertrag
herausziehen wollte. Das hat natürlich zu schweren Auseinandersetzungen
geführt, da besonders die Arbeiterschaft nicht bereit war, sich diesen
Wünschen der leitenden Ingenieure des französischen Staates zu
fügen. Außer dem 100tägigen Bergarbeiterstreik im Jahre 1923
hat es eine große Zahl von kleineren und größeren Streiks
gegeben, die im Monat Januar 1929 durch eine dreiwöchige mit
großer Einigkeit und Klugheit durchgeführte passive Resistenz der
Bergleute ergänzt wurde. Da die Ziele der Gewerkschaften nie unbillig
waren, so haben sie praktisch keinen einzigen ernsthaften Mißerfolg erlitten
und haben sich gegenüber dem stärksten Arbeitgeber in Europa, dem
französischen Staate, auch in den Zeiten seiner höchsten politischen
Macht durchzusetzen vermocht.
Die Kämpfe um den Kohlenpreis waren ebenfalls außerordentlich
scharf. Am allermeisten wurde das Röchlingsche Unternehmen vom
französischen Staate durch übermäßige Kohlenpreise
geschädigt, die viel höher waren als die den übrigen
Hütten berechneten. Im Herbst 1924 waren die Verhältnisse derartig
ungünstig geworden, daß ich gezwungen war, die Völklinger
Hütte zu schließen und keine weiteren Kohlen mehr abzunehmen.
Hierdurch trat Kohlenüberfluß ein; die gesamte Kohle, die wir nicht
abnahmen, wurde auf Halde gestürzt. Nach einem Monat war der
französische Staat bereit, uns dieselben Kohlenpreise zuzubilligen wie den
übrigen Saarhütten. Und als wir nach 50tägigem
Betriebsstillstand unsere Betriebe wieder eröffneten, wurden die
Kohlenpreise für die sämtlichen Saarhütten, also auch
für uns, nicht unerheblich ermäßigt. Zwar sind die
Saar- [107] kohlenpreise auf sämtlichen
Verbrauchsgebieten noch bedeutend höher als die der übrigen
deutschen Kohlengebiete; aber seit dem Jahre 1924 ist der Unterschied geringer,
wenn auch immer noch viel zu hoch. Unter den wirtschaftlichen Folgen dieser
Kämpfe leiden wir heute noch.
Seit Jahren streiten Saarbevölkerung und französische
Grubenverwaltung um die Steuern, die die Grubenverwaltung zu zahlen hat.
Wenn der französische Staat wirklich die Steuern zahlen würde, die er
nach der Bestimmung des Versailler Vertrages zu zahlen hat, so müßte
er ungefähr ein Drittel der Ausgaben der Regierungskommission und der
Kommunen des Saargebietes tragen. Da er sich dem entziehen wollte, schloß
er mit der ihm willfährigen Regierungskommission einen Vertrag ab, auf
Grund dessen er wesentlich weniger wie die Hälfte seiner Steuerschuld zu
zahlen braucht. Die mathematische Formel für diese Berechnung wurde
auch gefunden. Im vorliegenden Fall war zu beweisen, daß das
Vermögen des französischen Staates zu dem des gesamten
Saargebietes plus französischen Saargruben nicht wie 3 : 1, sondern etwa wie
7 : 1 war. Das war nun auf Grund der bei den Steuerbehörden vorhandenen
Unterlagen und der eigenen vor der Reparationskommission vertretenen
Auffassung der französischen Regierung über den Wert der
Saargruben schlechterdings unmöglich. Daher wandte man einen Kniff an
und führte einfach in die Rechnung als Vermögen der
Saarbevölkerung nicht nur die gesamten Liegenschaften, den
Wertpapierbesitz und das bare Geld, sondern auch noch mit einem sehr hohen
Betrage die kapitalisierte Arbeitskraft der Bevölkerung ein, erhöhte
dadurch künstlich den Besitz der Saarbevölkerung gewaltig und
erreichte damit den gewollten geringeren Steuerbetrag! Der Völkerbundsrat
hat leider milde lächelnd mit freundlicher Nachsicht gegen die Franzosen
diese Intelligenzleistung gutgeheißen.
Recht übel ist eine andere Tatsache: der französische Staat hat in
demjenigen Teile des Saargebietes, das die großen unerschlossenen
Kohlenreserven des Landes enthält, dem an der lothringischen Grenze
gelegenen Warndt, an französische Bergbaugesellschaften, nämlich
der Gesellschaft Sarre et Moselle und der Firma de Wendel, Kohlenfelder an der
Landesgrenze auf 99 Jahre verpachtet. Die Gesellschaft Sarre et Moselle hat nun
außerhalb des Saargebietes in der Gemarkung Merlenbach dicht bei dem
Grenzstein, der die Landesgrenze festlegt, den neuen Schacht Remeaux
niedergebracht, die Landesgrenze unterfahren und raubt seit Jahren Kohlen aus
dem Saargebiet aus. Dabei besitzen die beiden französischen Gesellschaften
in den eigenen Kohlenfeldern einen Kohlenreichtum, wie er in Europa nicht einmal
in Oberschlesien gefunden wird. Sie haben es also nicht nötig, dem Nachbar
Kohlen wegzunehmen, für die sie noch nicht [108] einmal Kommunalsteuern entrichteten. Es zeigt
die Einstellung unserer Regierungskommission, daß sie dieses
zuläßt und auch gegen die Durchörterung der Landesgrenze
nichts einzuwenden hatte.
In den 10 Jahren seit Unterzeichnung des Vertrages von Versailles hat das
Saargebiet eines kennen gelernt: die Franzosen und die Ziele ihrer Politik. Ihr
großes Ziel war von jeher die Zerstückelung Deutschland; um dieses
zu schwächen, wollten sie die Abtrennung des linken Rheinufers,
d. h. die Schaffung eines rheinischen Pufferstaates oder ähnliches.
Insbesondere galten ihre Bemühungen durch Jahrhunderte hindurch dem
Besitze des Saargebietes und seiner Kohlenschätze. Die jetzige Schaffung
des saarländischen Völkerbundgebietes ist eine Konzession der
übrigen Nationen, die im Kriege gegen die Mittelmächte gestanden
hatten, an diese gemeingefährliche Habgier einer
verhältnismäßig kleinen französischen Gruppe. Zu
maßgebendem Einfluß auf die französische Außenpolitik
ist diese noch immer gelangt, wenn Poincaré in führender Stellung war,
z. B. 1923. Erst die Tatsache, daß damals das deutsche Volk unter
Vernichtung seiner Währung der Welt zeigte, es wolle lieber alles erdulden,
lieber den passiven Widerstand in den besetzten Gebieten bis zu den
äußersten Folgerungen durchführen, als sich den Franzosen
beugen, hat in Frankreich den Umschwung in der Gesinnung des Volkes
herbeigeführt. Zwei Geistesströmungen ringen heute im
französischen Volke um die Obhand: Auf der einen Seite Politiker wie
Poincaré, die auf nichts mehr erpicht sind, als die Zwietracht zwischen
Deutschland und Frankreich zu verewigen; auf der anderen Seite die friedlichen
Franzosen, die durch den gewaltigen Aderlaß des Krieges müde und
durch den Gebietszuwachs von
Elsaß-Lothringen satt geworden sind und die die Verständigung mit
Deutschland suchen. Wir wünschen von Herzen, daß Vernunft und
Friedfertigkeit siegen mögen über Haß und Unverstand.
Für uns im Saargebiet zeichnen sich am Horizont als eines der Ergebnisse
der Haager Konferenz vom Frühjahr 1929 Verhandlungen über eine
Rückgliederung des Saargebietes an das Reich vor 1935 ab. Die Stellung der
Saarbevölkerung zu den hierdurch aufgeworfenen Fragen ist klar und
eindeutig: Entsprechend
dem deutschen Charakter der Bevölkerung erwarten
wir die unversehrte Rückkehr des ganzen Saargebietes unter die
uneingeschränkte Hoheit des Deutschen Reiches. Hinsichtlich der
Saarkohlengruben kommt für uns nichts anderes in Frage, als was
darüber im Vertrage von Versailles vorgesehen ist, nämlich den
Rückkauf seitens des Reiches und die Wiedereinsetzung der früheren
Besitzer, des preußischen und bayerischen Staates, in ihre alten Rechte.
Insbesondere kommt für die Saarbergleute, die die Franzosen und ihre
Methoden gründlich kennen gelernt haben, aber auch für die
übrige Bevölkerung, eine [109] Übereignung der Kohlengruben an eine
französisch-deutsche oder internationale Gesellschaft nicht in Frage. Sind
diese beiden
Kardinalfragen - Wiederherstellung der vollen Souveränität des
Reiches und restlose Rückgabe der Gruben an die deutsche
öffentliche
Hand - befriedigend gelöst, so wird die Verständigung
über die sonstigen wirtschaftlichen Fragen nicht schwierig sein. Wir sind
uns bewußt, daß eine vorzeitige Entlassung des Saargebietes aus dem
französischen Zollsystem einen Anspruch Frankreichs auf
Entschädigung rechtfertigt, und wir sind auch grundsätzlich zu einer
Verständigung über die wirtschaftlichen Fragen bereit. Diese
Verständigung ist überdies notwendig und vernünftig; denn die
Saar-Eisenindustrie braucht die lothringischen Minetteerze zur Aufrechterhaltung
ihrer Betriebe, und das kohlenarme Frankreich kann auch in Zukunft der Saarkohle
zur Versorgung der neuerbauten zahlreichen Kokereien in Lothringen und der
großen kommunalen Gaswerke nicht entbehren. Ähnlich liegen die
Dinge auf anderen Gebieten, und wir sind deshalb guten Muts: Sind erst die
politischen Fragen klar und eindeutig entschieden, so ist es uns um die
wirtschaftliche Verständigung nicht bange.
Nur keine Lösung, die den Franzosen die Möglichkeit eines
politischen Einflusses im Saargebiet beläßt! Dann tausendmal lieber
den Fortbestand des heutigen Zustandes bis zum Jahre 1935! Wir haben in den
zurückliegenden elf Jahren gelernt, uns zur Wehr zu setzen und ohne
Rücksicht auf Parteistellung, Konfession und Klasse das Saargebiet gegen
die französische Annektionsbegier zu verteidigen. Die Volksbefragung im
Jahre 1935 würde dann den Franzosen und der ganzen Welt beweisen,
daß Frankreich im Saargebiet nichts, aber auch gar nichts zu erhoffen
hat!
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