[Bd. 9 S. 249] 7. Kapitel: Entspannung. 1. Um die Mitte des Mai 1935 beherrschte das französische Prinzip der Kriegsbündnisse geradezu unbeschränkt das europäische Staatensystem. Es war ein Netz gespannt von Paris über Rom nach Belgrad, Bukarest, Prag, Wien, Moskau und Kowno, es war das Netz, dessen eines Ende in den Händen Frankreichs, dessen anderes Ende in den Händen Rußlands lag. Der geringste Anlaß würde genügt haben, die Schließung des Netzes herbeizuführen, d. h. die aufs schwerste und modernste bewaffneten Kriegsmassen aus West und Süd und Ost nach Deutschland vorbrechen zu lassen, wenn, ja wenn nicht noch ein zweites Netz gespannt gewesen wäre, von Moskau über Amsterdam, Brüssel, Paris, Madrid, das allein von Rußland aus bedient werden konnte! Das Gleichgewicht Europas hing von einer sonderbaren gegenseitigen Aufhebung der Kräfte ab! Würde in Paris die Aktion gegen Deutschland proklamiert, würde sie automatisch in Moskau gegen das Bürgertum proklamiert werden. Wie die Dinge standen, mußten sich Flandin und Laval ernstlich fragen, ob ihre Volksfront im Falle einer Aktion auf das Kommando der französischen Bourgeoisregierung oder auf das Kommando der russischen Sowjetregierung hören würde. Von Adolf Hitlers Friedenswillen hing es ab, ob das Gleichgewicht der sich gegenseitig aufhebenden Kräfte erhalten blieb. Mussolini hatte sich durch sein abessinisches Vorhaben zunächst aus Europa zurückgezogen.
Es läßt sich verstehen, daß in solchen kritischen Augenblicken in England, das unter dem Eindruck litt, nicht in den Gang der Dinge bestimmend eingreifen zu können, das Gefühl der Erschöpfung, der Enttäuschung und Vereinsamung sich geltend machte und allzuleicht voreilige Vorwürfe der Friedensstörung gegen Hitler erhoben wurden, wie MacDonald in seiner Unterhausrede vom 2. Mai 1935 tat. Die Äußerungen des Premierministers über die positive Politik
Groß- [250] britanniens waren sehr zurückhaltend, sie gipfelten in folgenden sechs Punkten: 1. Hitlers Vorschlag, Nichtangriffspakte in Osteuropa zu schließen, solle nicht fallen gelassen werden; 2. das Londoner Kommuniqué vom 3. Februar stelle immer noch das unmittelbare Ziel der englischen Außenpolitik dar; 3. die geplanten
deutsch-englischen Flottenbesprechungen würden endgültig stattfinden, und zwar unter genau denselben Bedingungen wie die englischen Flottenbesprechungen mit Amerika und Japan; 4. England bestehe auf der Erklärung Baldwins, keine zweitklassige Stellung in der Luft gegenüber einer zukünftigen deutschen Luftflotte einzunehmen; 5. der
englisch-italisch-französischen Zusammenarbeit messe England große Bedeutung in den Bestrebungen für kollektive Sicherheit bei, von einem militärischen Bündnis könne jedoch keine Rede sein, und jeder Staat, der den Frieden wünsche, sei bei dieser Zusammenarbeit willkommen; 6. England habe keine neuen Verpflichtungen übernommen.
Eden ging aus vom Londoner Kommuniqué, das im wesentlichen zwei Dinge behandele: Sicherheit und Abrüstung; in keiner dieser beiden Fragen habe man in Berlin wesentliche Fortschritte erzielen können. In der Sicherheitsfrage habe Deutschland in bezug auf einen mehrseitigen osteuropäischen [251] Nichtangriffspakt ein Angebot gemacht; es müsse alles getan werden, um den besten Gebrauch von diesem Angebot zu machen. Auch in der Rüstungsfrage hätten sich die englischen Hoffnungen nicht erfüllt; die deutsche Regierung habe ihren Wunsch nach einem Rüstungsabkommen betont. Als er vor einem Jahre Berlin, Rom und Paris besuchte, sei der Paritätsgrundsatz für die drei westlichen Festlandsmächte nirgendwo bestritten worden; Deutschland habe aber damals eine Erhöhung der Zahl von 200 000 auf 300 000 Mann vorgeschlagen; wenn Deutschland jetzt 550 000 Mann für nötig halte, dann werde, ehrlich gesagt, die Parität zwischen den drei westlichen Festlandsmächten auf gleicher Ausbildungsgrundlage unerreichbar sein. Er würdige wohl die Ansicht der deutschen Regierung, daß diese Ziffer angesichts der deutschen Besorgnis in Osteuropa gerechtfertigt sei, aber die Besorgnisse über einen militärischen Angriff Sowjetrußlands, die in Deutschland anscheinend herrschten, könne er nicht teilen. Wenn jetzt die internationale Lage vielleicht mit den Jahren vor dem Kriege verglichen werde, so sei ein solcher Vergleich nur teilweise richtig. Heute gebe es mindestens zwei höchstwichtige stabilisierende Elemente, die vor dem Kriege nicht bestanden: den Völkerbund und die Locarnoverträge. Großbritannien könne Frieden und Sicherheit nicht in der Isolierung finden; auch ein System von Bündnissen sei keine dauerhafte Lösung der Schwierigkeit. Als einzige Lösung verbleibe lediglich ein kollektives Friedenssystem. Das war das Gegenstück zu MacDonalds Ausführungen. Die Lage ist pessimistisch, und zwar durch Deutschlands Verhalten. Gegen die deutsche und die französische Politik wurde vor der Willenserklärung des Führers das politische Prinzip Englands aufgerichtet: der Völkerbund. Der letzte Sinn der Reden MacDonalds und Edens war: es kann alles wieder gut werden, die durch Deutschlands "Schuld" in Europa herbeigeführte Gewitterspannung kann mit einem Schlage zerteilt werden, sobald Deutschland wieder in den Völkerbund zurückkehrt. Die Engländer dachten in den alten Formen: sie sahen den Grund der europäischen Spannung in Deutschland, das nichts tat, als daß es sich auf das Recht der völkischen Selbst- [252] erhaltung berief. Die wahre Ursache der Spannung aber beruhte darin, daß Frankreich, das nicht von seinen alten Gewaltmethoden lassen konnte, und Sowjetrußland, das nicht auf die Weltrevolution verzichten konnte, sich zu einem bedrohlichen Bunde vereinigt hatten.
Der 21. Mai kam. Zunächst wurde das auf die am 16. März wiedererlangte Wehrhoheit gegründete Wehrgesetz verkündet. Es enthält kurz folgendes: Jeder deutsche Mann ist wehrpflichtig, im Kriege ist auch jede deutsche Frau zur Dienstleistung für das Vaterland verpflichtet. Die Wehrmacht besteht aus dem Heere, der Kriegsmarine und der Luftwaffe. Oberster Befehlshaber ist der Führer und Reichskanzler. Der Wehrpflicht unterliegt jeder Mann vom 18. bis 45. Lebensjahre, er hat ein Jahr aktiv zu dienen (im 21. Lebensjahre), in der Reserve (bis zum 35. Lebensjahre) und in der Landwehr (bis zum 45. Lebensjahre) ebenfalls je ein Jahr Gesamtdienstzeit zu leisten. Voraussetzung für den Waffendienst ist die Erfüllung der Arbeitsdienstpflicht. Ebenso ist arische Abstammung Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst. Politische Betätigung wird den Soldaten in jeder Weise streng untersagt. – Dies also war das neue Wehrgesetz, das sich von der früheren Wehrgesetzgebung des Kaiserreiches in einigen Punkten grundsätzlich unterschied: prinzipielle Wehrpflicht aller Männer und Dienstpflicht aller Frauen, arische Abstammung, Voraussetzung der Arbeitsdienstleistung, Fortfall der Vergünstigungen (Einjährigendienst). Abends um 8 Uhr hielt der Führer dann seine große Rede vor dem deutschen Reichstag. Er ging davon aus, daß er mit 38 Millionen Stimmen der einzige gewählte Abgeordnete und Vertreter des deutschen Volkes sei und er somit dem Volke gegenüber verantwortlich sei für alle seine Entschlüsse und Maßnahmen. Die Volkslehre des Nationalsozialismus lehne den Krieg zur Unterjochung und Beherrschung eines fremden Volkstums ab und verlange den Frieden aus tiefinnerster, weltanschaulicher Überzeugung. Deutschland wünsche Ruhe und Frieden, weil es wisse, daß jeder Krieg die Besten verzehre. Wenn er, Hitler, als Führer und Beauftragter der deutschen Nation vor der Welt und seinem Volke die Versiche- [253] rung abgebe, daß er mit der Lösung der Saarfrage keine territorialen Forderungen mehr stellen werde, so sei dies ein Beitrag zum Frieden, der größer sei als manche Unterschrift unter manchem Pakt. Seit einiger Zeit lebe die Welt z. B. in einer förmlichen Manie von kollektiver Zusammenarbeit, kollektiver Sicherheit, kollektiven Verpflichtungen usw., die alle auf den ersten Augenblick konkreten Inhalts zu sein scheinen, bei näherem Hinsehen aber zumindest vielfachen Deutungen Spielraum gäben. Was heiße kollektive Zusammenarbeit? Wer stelle fest, was kollektive Zusammenarbeit sei und was nicht? Sei nicht der Begriff "kollektive Zusammenarbeit" seit 17 Jahren in der verschiedensten Weise interpretiert worden? Er glaube, er spreche es richtig aus, wenn er sage, daß neben vielen anderen Rechten sich die Siegerstaaten des Versailler Vertrages auch das Recht vorweggenommen haben, unwidersprochen zu definieren, was kollektive Zusammenarbeit sei und was sie nicht sei. Wilson habe in seinen 14 Punkten gefordert: Der Friede soll nicht sein ein Friede einseitigen Rechtes, sondern ein Friede allgemeiner Gleichheit und damit des allgemeinen Rechts; es solle sein ein Friede der Versöhnung, der Abrüstung aller und dadurch der Sicherheit aller. Daraus resultiere als Krönung die Idee einer internationalen kollektiven Zusammenarbeit aller Staaten und Nationen im Völkerbunde. Kein Volk als das deutsche habe diese Idee begehrlicher aufgegriffen; als aber im Jahre 1919 dem deutschen Volke der Friede von Versailles diktiert worden sei, sei der kollektiven Zusammenarbeit der Völker damit zunächst das Todesurteil gesprochen worden, denn an Stelle der Gleichheit aller sei die Klassifikation in Sieger und Besiegte getreten. Nun ging Hitler dazu über, die vom deutschen Volke mit "förmlichem Fanatismus" durchgeführte Abrüstung zu schildern und die Verpflichtung der anderen zur Abrüstung aus den Äußerungen der englischen und französischen Staatsmänner zu belegen: Lord Robert Cecil in der Revue de Paris 1924, Nr. 5 und in seiner Rundfunkrede vom 31. Dezember 1930, Paul-Boncour am 8. April 1927 und im Journal am 26. April 1930, Henderson am 20. Januar 1931, Briand am 20. Januar 1931, Vandervelde am 27. Februar 1927 und am [254] 29. Dezember 1930. Die anderen Staaten seien vertragsbrüchig geworden, da sie nicht abgerüstet hätten, trotz der günstigen Umstände. Wann hätte je eine bessere Gelegenheit zur Aufrichtung einer kollektiven Zusammenarbeit kommen können als in der Zeit, da in Deutschland ausschließlich jener politische (demokratische) Geist regierte, der auch der Umwelt die charakterlichen Züge verlieh? Die Zeit sei reif gewesen, nur der Wille sei nicht vorhanden gewesen! Die Angriffswaffen – Flugzeuge, Tanks, Artillerie, Gas und U-Boote – seien weiter entwickelt, verbessert und vermehrt worden. Das sei einseitiger Vertragsbruch, dafür gebe es keine Beschönigung und keine Ausrede. Nicht Deutschland, sondern Frankreich habe am 17. April 1934 die Verhandlungen abgebrochen. Nachdem nun aber nicht nur die Abrüstungsverpflichtung der andern Staaten unterblieben sei, sondern auch alle Vorschläge einer Rüstungsbegrenzung abgelehnt worden seien, habe er, Hitler, als vor Gott und seinem Gewissen verantwortlicher Führer der deutschen Nation, sich verpflichtet gesehen, angesichts der Entstehung neuer Militärbündnisse, sowie der Festsetzung der Friedensstärke des russischen Heeres auf 960 000 Mann und nach Erhalt der Mitteilung, daß Frankreich zur Einführung der zweijährigen Dienstzeit schreite, nunmehr die Rechtsgleichheit Deutschlands, die man ihm international verweigert habe, kraft des Lebensrechtes der Nation selbst wiederherzustellen. Die deutsche Nation sei nicht gewillt, für alle Zeiten als eine zweitklassige oder minderberechtigte angesehen und behandelt zu werden.
"Unsere Friedensliebe ist vielleicht größer als die anderer Völker, denn wir haben am meisten unter diesem unseligen Krieg gelitten. Niemand von uns hat die Absicht, jemanden zu bedrohen. Allein jeder ist entschlossen, dem deutschen Volke die Gleichheit zu sichern und zu erhalten. Und diese Gleichheit ist aber auch die allererste Voraussetzung für jede praktische und kollektive Zusammenarbeit." Dann wandte sich der Führer gegen die üblichen Konferenzmethoden. Es sei so, daß zwei oder drei Staaten sich auf ein bis ins einzelne gehendes Programm festlegten und dann die andern vor die diktatorische Alternative stellten, dieses Programm als unteilbares Ganzes anzunehmen oder abzulehnen. [255] Deutschland werde an keiner Konferenz mehr teilnehmen, an deren Programmaufstellung es nicht von vornherein mit beteiligt gewesen sei. Ebenso bedenklich scheine es, die These der Unteilbarkeit des Friedens als Vorwand für Konstruktionen zu mißbrauchen, die weniger der kollektiven Sicherheit als vielmehr gewollt oder ungewollt der kollektiven Kriegsvorbereitung dienen. (Rußland: Ostpakt!) Deutschland habe keinen anderen Wunsch, als mit allen Nachbarstaaten friedlich und freundschaftlich zu verkehren. Hitler wies auf den Vertrag mit Polen und auf den endgültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen hin.
"Wenn wir aber dem deutschen Volke ein weiteres Blutvergießen ersparen wollen, selbst dort, wo dies mit einem Opfer für uns verbunden ist, dann denken wir nicht daran, unser Blut wahllos für fremde Interessen zu verpfänden. Wir denken nicht daran, für jeden irgendwie möglichen, von uns weder bedingten noch zu beeinflussenden Konflikt unser deutsches Volk, seine Männer und Söhne vertraglich zu verkaufen. Der deutsche Soldat ist zu gut und wir haben unser Volk zu lieb, als daß wir es mit unserm Gefühl von Verantwortung vereinbaren könnten, uns in nicht absehbaren Beistandsverpflichtungen festzulegen." Nicht Beistandsverpflichtungen würden Kriege verhindern. Es würde vielleicht dem Frieden mehr dienen, wenn im Falle des Ausbruchs des Konflikts sich sofort die Welt von beiden Teilen zurückzöge, als ihre Waffen schon von vornherein vertraglich in den Streit hineintragen zu lassen. Ein besonders schwieriger Fall – den, wie wir sahen, die Engländer nicht verstehen wollten – bilde in dieser Beziehung das Verhältnis des nationalsozialistischen Deutschland zum bolschewistischen Rußland. Soweit es sich beim Bolschewismus um eine russische Angelegenheit handle, sei Deutschland an ihm gänzlich uninteressiert; jedes Volk solle nach seiner Fasson selig werden. Soweit dieser Bolschewismus aber Deutschland in seinen Bann ziehe, seien die deutschen Nationalsozialisten seine ingrimmigsten und seine fanatischsten Feinde. Hitler setzte sich hier mit der Auffassung Edens, der bekanntlich die aggressive militaristische Tendenz der Sowjetunion bestritten hatte, auseinander. Er kenne aus fünfzehnjäh- [256] riger Erfahrung den Bolschewismus. Der Nationalsozialismus habe Deutschland und damit vielleicht ganz Europa vor der schrecklichsten Katastrophe aller Zeiten zurückgerissen. Weil die westeuropäischen Völker die unmittelbare und gefahrvolle Wucht des Kampfes mit dem Bolschewismus nicht kennen, deshalb könnten sie vielleicht nicht verstehen, weshalb Deutschland Beistandsverpflichtungen in einem Ostpakt ablehne. Demgegenüber sei aber Deutschland bereit, jedem angrenzenden europäischen Staat mit Ausnahme des die Memeldeutschen quälenden Litauen durch einen Nichtangriffs- und Gewaltausschließungsvertrag jenes Gefühl der Sicherheit zu erhöhen, das auch Deutschland zugute komme. Das Reich sei aber nicht in der Lage, solche Verträge durch Beistandsverpflichtungen zu ergänzen, die weltanschaulich, politisch und sachlich für Deutschland untragbar seien. Der Nationalsozialismus könne nicht die Angehörigen des deutschen Volkes, d. h. seine Anhänger zum Kampf aufrufen für die Erhaltung eines Systems, das im eigenen deutschen Staat zumindest als grimmigster Feind der Deutschen in Erscheinung trete.
"Die Verpflichtung zum Frieden, ja! Eine Kampfhilfe des Bolschewismus wünschen wir selbst nicht und wären auch nicht in der Lage, sie zu geben." Im übrigen glichen die Beistandspakte den früheren militärischen Allianzen. Das zwischen Frankreich und Rußland geschlossene Militärbündnis im besonderen trage ohne Zweifel in den einzig klaren und wirklich wertvollen gegenseitigen Sicherheitsvertrag in Europa, nämlich den Locarnopakt, ein Element der Rechtsunsicherheit hinein. Die deutsche Regierung wünsche eine authentische Erläuterung über die Aus- und Rückwirkungen des französisch-russischen Militärbündnisses auf den Locarnopakt; auch halte sie diese Militärallianzen als unvereinbar mit dem Geist und Buchstaben des Völkerbundsstatuts. Gegen Ende seiner Ausführungen gab der Führer grundsätzliche Erklärungen über das Verhältnis des Reiches zu Österreich ab.
"Deutschland hat weder die Absicht noch den Willen, sich in die inneren österreichischen Verhältnisse einzumengen, Österreich etwa zu annektieren oder anzuschließen. Das deutsche Volk und die deutsche Regierung haben aber aus dem einfachen Solidaritätsgefühl gemeinsamer nationaler Herkunft [257] den begreiflichen Wunsch, daß nicht nur fremden Völkern, sondern auch dem deutschen Volke überall das Selbstbestimmungsrecht gewährleistet wird.... Wir Deutschen haben aber allen Anlaß zufrieden zu sein, daß sich an unserer Grenze ein Staat mit einer zu einem hohen Teil deutschen Bevölkerung bei großer innerer Festigkeit und im Besitz einer wirklichen und tatsächlichen Unabhängigkeit befindet. Die deutsche Regierung bedauert die durch den Konflikt mit Österreich bedingte Spannung um so mehr, als dadurch eine Störung unseres früher so guten Verhältnisses zu Italien eingetreten ist, einem Staat, mit dem wir sonst keinerlei Interessengegensätze besitzen." Am Schlusse seiner großen Rede faßte der Führer die deutsche Politik in 13 Thesen zusammen, die alles enthielten, was das Reich als seinen Beitrag für die Teilnahme an einer zuverlässigen Organisation des europäischen Friedens für nötig hielt. Sie waren das Bekenntnis zu praktischer Gleichberechtigung und aufrichtiger Friedenssicherung (vgl. Anlage 35).
"Ich habe mich bemüht", so schloß der Führer, "Ihnen ein Bild der Auffassungen zu geben, die uns heute bewegen. So groß auch die Besorgnisse im einzelnen sein mögen, ich halte es mit meinem Verantwortungsgefühl als Führer der Nation und Kanzler des Reiches unvereinbar, auch nur einen Zweifel über die Möglichkeit der Aufrechterhaltung des Friedens auszusprechen. Die Völker wollen ihn. Es muß den Regierungen möglich sein, ihn zu bewahren. Ich glaube, daß die Wiederherstellung der deutschen Wehrkraft zu einem Element dieses Friedens werden wird. Nicht weil wir beabsichtigen, sie zu einer sinnlosen Größe zu steigern, sondern weil die einfache Tatsache ihrer Existenz ein gefährliches Vakuum in Europa beseitigt.... Wir glauben, daß, wenn die Völker der Welt sich einigen könnten, ihre gesamten Brand-, Gas- und Sprengbomben zu vernichten, dies eine billigere Angelegenheit sein würde, als sich mit ihnen gegenseitig zu zerfleischen... Uns Deutschen aber kann die Geschichte sicherlich öfter das Zeugnis ausstellen, daß wir die Kunst des vernünftigen Lebens weniger verstanden haben als die Kunst des anständigen Sterbens." –
Die Führerrede hatte Europa den Glauben an den Frieden wiedergegeben. Die Wetter, die im Begriff waren, sich zusammenzuziehen, lösten sich, die schmerzliche Spannung wich. Niemand erkannte die wohltuende Wirkung der Rede Hitlers rückhaltloser an als Großbritanniens Volk und Regierung. Schon am folgenden Tage, am 22. Mai, fand gleichzeitig im Oberhaus wie im Unterhaus die Wehraussprache statt. Die englischen Minister betonten, daß der Ausbau der britischen Luftflotte im schnellen Tempo unabhängig von Hitlers Rede durchgeführt werde. Im Oberhaus teilte Lord Londonderry im Unterhaus Baldwin mit, daß bis zum 31. März 1937 die englische Luftflotte, deren Frontstärke 580 Flugzeuge betrage, auf 1500 Maschinen vermehrt sein würde. Londonderry begründete die Auffassung der Regierung, wobei er die Rede Hitlers streifte:
"Die Stärke des englischen Luftprogramms muß stets an der größten, in Reichweite Englands befindlichen Luftflotte gemessen werden. Das ist unsere Formel." Der Lord sagte weiter: "Ich bin überzeugt, daß sich das Ideal der Abrüstung im gegenwärtigen Zustand der Welt als undurchführbar erweist, wenn es praktisch geprüft wird. Wir konnten den Uhrzeiger nicht zurückstellen. Begrenzung, nicht Abrüstung, wäre alles, worauf wir wirklich hoffen könnten. Begrenzung war die Luftpolitik, die ich stets befürwortete, und ich bin in der Tat erfreut, daß die Worte Hitlers eine endgültige Annahme dieses Grundsatzes enthalten. Die englische Regierung wird unter keinen Umständen eine zweitklassige Stellung in der Luft einnehmen. Wenn sich das mitgeteilte Programm als unzugänglich erweisen sollte, werden wir es erhöhen, koste es, was es wolle." Lord Ponsonby von der Arbeiterpartei und Lord Lothian bedauerten, daß Londonderry nicht näher auf Hitlers Rede eingegangen sei; namens der Regierung antwortete Lord Halifax, er sei nicht der Ansicht, daß ein Krieg unmittelbar drohe, die Rede Hitlers sei vielleicht die wichtigste Rede, die in den letzten Monaten, wenn nicht Jahren, gehalten worden sei. Zur gleichen Zeit fand im Unterhaus der stellvertretende [259] Ministerpräsident Stanley Baldwin Worte eines versöhnlichen und großzügigen Geistes. Er unterstrich Hitlers Erklärung, daß Deutschland in der Luft Gleichheit mit den andern Staaten wünsche, aber zur Herabsetzung der Rüstungsgrenzen wie zu einem Luftpakt bereit sei, denn bei einer Luftparität zwischen England und Deutschland und Frankreich sei es wesentlich leichter, einen Luftpakt und eine Begrenzung der Luftrüstungen zu erzielen. "Wir begrüßen Hitlers Beitrag als Hilfe für eine allgemeine Regelung im Sinne des Londoner Protokolls." Der Redner stellte außerdem fest, daß die Vorschläge des Führers über die Abschaffung der Angriffswaffen und über den Schutz der Zivilbevölkerung gegen Luftangriffe auch im englischen Programm zur Sicherung des Friedens enthalten seien. Baldwin erklärte ferner, daß der Schleier, der über den Handlungen der drei autoritären Staaten Europas liege, in Deutschland zum Teil gelüftet sei. Man möge hoffen, daß er ganz gelüftet werde, damit man offen miteinander sein könne. Der Führer habe durch seine Rede die Möglichkeit geschaffen, in Verhandlungen über alle brennenden Fragen der europäischen Friedenssicherungen einzutreten, und seine Vorschläge müßten "auf das ernsteste und schnellste" erwogen werden.
"Ich halte Ausschau nach Licht, wo immer ich es finden kann. Ich glaube in der Rede, die am Dienstagabend gehalten worden ist (von Hitler), einen Lichtblick zu erspähen. Wir alle müssen versuchen, dieses Lichtes habhaft zu werden. Wir müssen einen neuen Entschluß fassen. Ich glaube, daß es uns sogar noch in elfter Stunde gelingen werde, aus dieser Welt zu bannen, was für die Menschheit entsetzliches Grauen und furchtbarste Selbstverwüstung bedeuten würde." Baldwins Rede fand starken Beifall. Gewiß fehlte es im Laufe der Aussprache auch nicht an schweren Vorwürfen gegen Deutschland, wie sie der Liberale Sir Archibald Sinclair und die Konservativen Churchill und Lord Winterton erhoben; doch die überwiegende Mehrheit des Parlaments wollte den Frieden, den Hitler bot. Der Arbeitervertreter Wilmot betonte, Hitlers Rede biete eine Gelegenheit, eine europäische Regelung zu erzielen. Major Attlee von der Arbeiteropposition ging sogar soweit, der Regierung die Zustimmung für die Luftrüstung zu versagen und ein bal- [260] diges Zusammentreten der Abrüstungskonferenz zu fordern, um Hitlers Vorschläge zu erwägen, denn sie seien eine Möglichkeit, dem Rüstungswettlauf Einhalt zu gebieten. Attlee wünschte weiter eine Annäherung Deutschlands an Sowjetrußland. Sir Stafford Cripps von der Arbeiterpartei erklärte, wenn Hitler es ernst meine, dann sei das der goldene Augenblick, auf den die englische Regierung gewartet habe. Gewiß, die Luftrüstungen hielt das englische Volk ebenso für nötig, wie Hitler und das deutsche Volk die deutschen Luftrüstungen. Das Unterhaus lehnte den arbeiterparteilichen Antrag auf Herabsetzung des Ergänzungshaushaltes mit 340 gegen 52 Stimmen ab. Am folgenden Tage, dem 23. Mai, gab das britische Luftfahrtministerium seine Pläne bezüglich der Mannschaften bekannt: Die Mannschaftsstärke der Luftwaffe betrage im Augenblick 32 500 Mann, bis April 1936 solle sie auf 43 750, bis April 1937 auf 55 000 Mann gesteigert werden. Rekrutierungsbüros wurden in den Städten des Königsreichs eröffnet, Aufrufe zum freiwilligen Dienst wandten sich an das Volk, mit der Errichtung von 31 neuen Militärflugplätzen wurde begonnen. Im Rundfunk erklärte Lord Londonderry wieder, er sei als Luftfahrtminister befriedigt über Hitlers Vorschlag, die Luftrüstungen zu begrenzen, das britische Luftprogramm dürfe keinen Augenblick lang als Verwerfung des deutschen Angebots der Begrenzung aufgefaßt werden, es richte sich gegen kein bestimmtes Land. Man hat den Eindruck, daß trotz dieser militärischen Realpolitik niemals vorher die Stimmung in England für Deutschland so günstig gewesen ist wie in diesen letzten Maitagen. Lord Snowden machte unter dem Titel "Hitler zeigt Europa den Weg" im Sunday Dispatch Ausführungen von ungeheurer Tragweite. Er bezeichnete Hitlers Schritt vom 16. März als den größten Beitrag, der seit dem Kriege im Interesse der europäischen Sicherheit und des Friedens geleistet worden sei. Deutschland sei so lange eine Bedrohung für den Frieden Europas gewesen, als es unter den ihn aufgezwungenen Ungerechtigkeiten gelitten habe. Die sofortige Einberufung einer internationalen Konferenz zur Erörterung der durch Hitlers Rede geschaffenen Lage sei unumgänglich. Sollten unglück- [261] licherweise die andern Mächte ihre Mitarbeit ablehnen, dann müsse Großbritannien allein handeln. Die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und einem mächtigen Deutschland würde den ganzen Lauf der europäischen Diplomatie ändern; eine solche Zusammenarbeit zwischen zwei großen Nationen verwandter Rassen und verwandten Blutes könne keinem andern Zweck als dem Frieden Europas dienen; wenn Großbritannien jetzt stark und entschlossen die Führung übernehme, dann würden die andern Mächte folgen müssen. Die Zeitungen sprachen davon, es sei jetzt an der Zeit, möglichst schnell, etwa in Holland, eine Friedenskonferenz zusammenzurufen, welche sich mit den Anregungen Hitlers beschäftigen solle. Die deutsche Regierung würde allerdings vorher noch eine Reihe englischer Rückfragen beantworten müssen (vgl. Anlage 36). Die Öffentlichkeit forderte sofortige Vorverhandlungen über ein umfassendes Luftabkommen. Die britische Regierung nahm auch sogleich mit Eifer die Frage des Luftpaktes in Angriff, sie trat mit Rom und Paris deshalb in Verbindung. Baldwin hielt am 27. Mai in der Albert-Hall eine Rede, worin er das Unglück des Völkerbundes auf zwei Gründe zurückführte, das Fehlen der Vereinigten Staaten und die Sorge Frankreichs, zuerst immer an seine Sicherheit zu denken. Der Grundgedanke der kollektiven Sicherheit sei, daß Europa keinen Krieg dulden solle und daß, wenn ein Land doch Krieg beginne, sich dann alle Länder gegen den Friedensstörer verbinden sollten. Das Ziel sei noch weit, aber in begrenztem Umfange sei es in Locarno schon verwirklicht. Deshalb sei er der Ansicht, daß vor allen Dingen zwischen diesen Mächten versucht werden müsse – und Hitler habe sich damit grundsätzlich einverstanden erklärt – den Gedanken eines ergänzenden Luftpaktes zu verwirklichen. In all diesen Dingen zeigte sich, wie außerordentlich belebend die Führerrede auf England gewirkt hatte, dessen Regierung sich in Stresa und Genf völlig auf den Irrwegen der Vergangenheit festgefahren hatte. Die Folge davon war gewesen, daß die britische Politik in einen Zustand der Starre verfallen war, der Großbritannien in zunehmendem Maße aus der Politik Europas auszuschalten drohte. Jetzt aber entwickelte [262] sich in London neue Zuversicht und Tatkraft, allerdings vor der Hand noch gehemmt durch das Bevorstehen der Regierungsumbildung.* Der große Umschwung Großbritanniens bekundete sich im Augenblick vor allem darin, daß die deutsch-englischen Flottenbesprechungen, die von deutscher Seite bereits Ende April angeregt wurden, Anfang Mai aber unter Hinweis auf die Führerrede von England verschoben wurden, nun Anfang Juni endgültig und erfolgreich in Fluß kamen. [*Scriptorium merkt an: es ist schade, daß Galéras Werk ausgerechnet an diesem positiv scheinenden Zeitpunkt abschließt und nicht auch noch die folgende Entwicklung schildert; denn mit dieser Regierungsumbildung 1935 begann der nächste große Umschwung Großbritanniens mit dem Deutschenhasser Duff Cooper & Co. – jener Umschwung, der letzten Endes im 2. Weltkrieg mündete.] Im belgischen Senat sprach am 29. Mai Ministerpräsident und Außenminister van Zeeland seine Befriedigung über die Rede des Führers aus. Wesentlich für Belgien waren die zwei Punkte, daß die Reichsregierung sich feierlich verpflichtet habe, die territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages nicht zu verletzen, und daß sie ihre Verpflichtungen aus dem Locarnovertrag anerkannt habe. Die Ausführungen des Führers über Sowjetrußland lösten auch in Italien ein gewisses Verständnis aus. Vor allem aber erweckte Hitlers feierliche Erklärung zur österreichischen Unabhängigkeit größte Befriedigung. Der Duce hielt es infolge der Entwicklung der allgemeinen Lage überhaupt für nötig, näher an Deutschland heranzurücken. In Genf nämlich bemühte sich seit dem 20. Mai der englische Lordsiegelbewahrer Eden unablässig, zwischen Italien und Abessinien zu vermitteln. Mussolini aber blieb stark und unnachgiebig, drohte mit seinem Austritt aus dem Völkerbunde, während die italische Presse die englische Regierung beschuldigte, sie betätige sich militärisch in den abessinischen Bergbaugebieten, sie lege Landeplätze für Flugzeuge und ein militärisches Eisenbahnnetz in Abessinien an. Die Tribuna bezeichnete die englischen Stimmen, die Vermittlung und Vergleich wünschten, geradezu als "unerträgliche Heuchelei". Noch am Nachmittag des 24. Mai lehnte Mussolini in Genf alle Kompromisse ab: Dem Schlichtungsausschuß dürfe keine Frist zur Beendigung seiner Tätigkeit gesetzt werden; der Völkerbundsrat dürfe nicht automatisch mit dem Streitfall befaßt werden, wenn die Schlichtung mißlänge; jede Berufung auf Artikel 5 des italisch-abessinischen Abkommens, der jede militärische Gewaltanwendung ausschließt, sei unstatthaft. Der Völkerbund mußte Mussolini sehr weit entgegen- [263] kommen, er mußte das Dreimächteabkommen von 1906 und die italisch-abessinische Übereinkunft vom 2. August 1928 dahin auslegen, daß Italiens militärische Maßregeln in Abessinien während der Dauer der Schlichtungsverhandlungen nicht als Bedrohung des Friedens anzusehen seien. Der Völkerbund mußte weiter anerkennen, daß er nicht in die Schlichtungsverhandlungen eingreifen wolle, sondern nur über deren Gang auf dem Laufenden gehalten sein wolle, er mußte schließlich für diese Schlichtungsverhandlungen noch drei Monate bewilligen, sie also auf den 25. August befristen. Nachdem der Völkerbundsrat all dies in den frühen Morgenstunden des 25. Mai zugestanden, mit andern Worten also: Mussolini für eine gewisse Zeit völlig freie Hand zur Durchführung seiner Militärvorbereitungen gegeben hatte, gab der Duce seine Zustimmung. Beide Parteien, Abessinien und Italien, verpflichteten sich, in dieser Zeit, bis zum 25. August, nicht zum Krieg zu schreiten. Der Duce hatte das ganze elende Scheinmanöver von Genf in sich selbst zusammenbrechen lassen, allerdings hatten sich dadurch auch seine Beziehungen zu England doch wesentlich verschärft. Wenn auch Mussolini in jener Zeit nicht gerade ausgesprochene kriegerische Absichten durchblicken ließ, sondern wohl einer friedlichen Lösung zugänglicher als bisher schien, so schmerzte die Engländer doch aufs empfindlichste die italische Schroffheit und die demonstrative Ausschaltung des Völkerbundes, die nur dazu dienen konnte, diese Organisation in den Augen der Welt noch weiter herabzusetzen. Die Engländer wollten aber doch im Hinblick auf Deutschland gerade das Gegenteil! Die Führerrede wie die Entwicklung von Genf gaben den Ausführungen, die Mussolini am Nachmittag des 25. Mai in der Kammer machte, das Gepräge. Er ging von der französisch-italischen Kolonialverständigung, die ein Kapitel der Nachkriegszeit geschlossen habe, aus, erwähnte dann die französisch-englische Aussprache in London, um weiter zuzugeben, daß mit dem Vorgehen Deutschlands vom 16. März eine vollendete Tatsache geschaffen worden sei, die nicht mehr widerrufen werden könne. Bekanntlich habe Italien gegenüber einer teilweisen Aufrüstung Deutschlands nichts einzuwenden gehabt, [264] ein Verteidigungsheer von 300 000 Mann habe es für Deutschland durchaus annehmbar gehalten. Aber jetzt nach dem Schuldigen zu suchen, sei genau so zwecklos als von Abrüstung zu sprechen. Er halte sogar eine Beschränkung der Rüstungen oder ein Verbot gewisser Kriegsmethoden für unmöglich. Zur Donaukonferenz werde Italien auch Deutschland einladen. Der französisch-russische und der russisch-tschechoslowakische Pakt hätten das Gleichgewicht der Kräfte verlagert. Hitlers dreizehn Punkte könnten als Ganzes weder abgelehnt noch angenommen werden, man müsse darüber verhandeln. Die einzige Frage, welche die deutsch-italischen Beziehungen belaste, sei die österreichische Frage. Das Problem der österreichischen Unabhängigkeit sei ein österreichisches und ein europäisches Problem und als europäisches Problem wiederum ganz besonders, wenn auch nicht ausschließlich, ein italisches Problem. Italien könne nicht an seiner Bewegungsfreiheit gehindert werden, indem es versteinert am Brenner stehen bleibe. Über Abessinien sagte der Duce, daß das in Genf beschlossene Verfahren nur auf dem Zwischenfall von Ual-Ual beschränkt bleiben müsse. Böswillige Gegner regten sich über Italiens Maßnahmen auf. Niemand dürfe sich täuschen, daß man aus Abessinien im Falle europäischer Schwierigkeiten eine gegen Italien gerichtete Pistole machen könne, aber Italien werde die Verantwortung übernehmen. Der Ton dieser Rede gegenüber dem Reiche war erheblich freundlicher und ruhiger, als man ihn sonst seit zehn Monaten gewöhnt war. Hier war nichts mehr vom Geiste des Protestes (21. März), vom Geiste Stresas und Genfs zu spüren. Ich sage ausdrücklich, daß dieser Wechsel nicht bloß auf die Genfer Vorgänge zurückzuführen ist, trotzdem sie natürlich mit dazu beigetragen haben, sondern vor allein auch darauf, daß dem Duce infolge der Worte Hitlers Bedenken gekommen sind über seine Bundesgenossenschaft mit Frankreich, das den Bolschewismus zum Freunde hat. Le Temps konnte nämlich schon am 23. Mai berichten, daß der französisch-sowjetrussische Pakt dazu beigetragen habe, wenn die Führerrede in Italien günstig aufgenommen worden sei. Maßgebende italische Kreise hielten den starken Einfluß für [265] eine Gefahr, den Sowjetrußland in einem großen Teile Europas auszuüben beginne. "Italien", habe ein hoher faschistischer Beamter dem römischen Berichterstatter des Temps erklärt, "hat nicht Krieg gegen Österreich geführt, um es durch eine sehr viel stärkere Macht ersetzt zu sehen." Der Temps zog aus der weltanschaulich betonten Haltung der italischen Presse den Schluß, daß zu guter Letzt Deutschland und Italien durch ihre Regierungsform ständig verbunden bleiben würden. Frankreich empfand es bitter, daß in London wie in Rom die Rede des Führers so tiefen Eindruck hinterließ. Übrigens machte sie einen solchen auch auf den größten Teil des französischen Volkes. Der französische Rundfunk hatte tagelang vorher über sämtliche Sender Hitlers Rede als das größte Ereignis verkündet. Die Franzosen waren überrascht, daß das starke Deutschland Frankreich die Hand zum Frieden bot, ohne Hintertüren, ohne Einschränkungen. In Lavals nächster Umgebung verbreitete sich die Meinung, daß jetzt keine Tür mehr verschlossen sei, daß die große Rede des Führers ein entscheidender Beitrag zur europäischen Friedenssicherung sei, indem sie Deutschlands dreizehn Punkte zur Grundlage von Verhandlungen mache, die um so aussichtsreicher seien, als deutscherseits jede Überraschung ausgeschlossen sei. (Mitteldeutsche Nationalzeitung, 1935, Nr. 126, 26. Mai, Seite 3.) Auch in einem sehr großen Teile der französischen Presse spiegelte sich der unmittelbare günstige Eindruck der Hitlerrede wider. Aber schon bald setzte das Störungsfeuer jüdischer und militärischer Kreise ein, das noch besonders aus den Reihen der Volksfront verstärkt wurde; denn für diese Leute gab es kein Paktieren mit Deutschland. Laval fügte sich diesen Strömungen. Es mußte als eindeutige Demonstration gegen Hitler aufgefaßt werden, daß die französische Regierung am 24. Mai dem Dreizehnerausschuß für die Prüfung wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen im Falle künftiger Vertragsverletzungen laut Entschließung vom 17. April eine Denkschrift einreichte, die in äußerst scharfer Weise sogenannte "Vertragsverletzungen" bereits als "Kriegsdrohung" behandelt wissen wollte! – Am 29. Mai nahm der österreichische Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg Stellung zur Führerrede vor dem Bundestag. [266] Er bemerkte zunächst, daß es den 1734 politischen Gefangenen (darunter 531 in Wöllersdorf) gut gehe, daß von ihnen weder Klagen noch Beschwerden wegen barbarischer Behandlung erhoben worden seien. Fr sagte weiter, daß der österreichische Nationalsozialismus eine innerstaatliche Angelegenheit sei, auf die das reichsdeutsche "Gesetz zur Sicherung der Einheit von Staat und Partei" keinerlei Einfluß habe. Er stellte ferner fest, daß Italien niemals auch nur den leisesten Versuch einer innerpolitischen Einmischung in Österreich unternommen habe, daß die Fabel von der politischen Abhängigkeit in den Bereich tendenziöser Erfindungen gehöre. Auch an einer Volksabstimmung, die so gern von den Nationalsozialisten gewünscht werde, sei nicht zu denken.
"Wir hatten eine Volksabstimmung am 25. Juli und auch an den nachfolgenden Tagen und beim Leichenbegängnis des Führers und auf dem Wiener Heldenplatz und seither Sonntag für Sonntag landauf, landein. Das Ergebnis bleibt: Das freie, nach allen Seiten unabhängige Österreich!" Schuschnigg bedauerte die angespannten Beziehungen zum Reiche, betonte aber zugleich seine Befriedigung über die Führerrede. Österreich sei gern bereit, in eine ehrlich gebotene Friedenshand einzuschlagen. Für eine Normalisierung der Beziehungen beider Länder bleibe die rückhaltlose Anerkennung der Berechtigung Österreichs, über sein Schicksal frei und ohne offene oder versteckte Einflußnahme von Faktoren außerhalb seiner Grenzen entscheiden zu können. Drei Dinge fordere Österreich für sich: die grundsätzlich gleiche Behandlung, die Zuerkennung grundsätzlich gleichen Rechtes und die Anerkennung der gleichen Ehre. Über alles andere kann man mit den Österreichern reden, über diese drei Punkte niemals! –
Betrachtet man das Verhältnis des Reiches zu den großen Mächten Europas Ende Mai 1935, dann läßt sich erkennen, daß zu keiner Zeit der Nachkriegsgeschichte eine so günstige und vorurteilslose Beziehung Deutschlands zu Großbritannien bestand wie gerade jetzt. Die Spannung, die seit Ende Juli 1934 zwischen dem Reiche Adolf Hitlers und dem Italien Mussolinis bestand, zeigte Anzeichen der Lösung. Vom deutschen Standpunkte aus gesehen erschien in Umrissen eine
britisch-deutsch- [267] polnisch-italische Gemeinsamkeit der Interessen, deren Schwerpunkt der Antibolschewismus war. Diese Interessengemeinschaft, wenn auch zunächst weltanschaulich nur angedeutet, doch noch nicht politisch geformt, ja, politisch durch die neu auftretenden Genfer Gegensätze zwischen Italien und England sogar noch belastet, umschloß in sich die zuversichtliche Gewähr des Friedens gegen bolschewistische Verwirrungsversuche, wenn es ihr eines Tages gelingen sollte, zur herrschenden politischen Idee in Großbritannien sowie in Italien zu werden. Es ist das Verdienst des deutschen Führers, durch seine taktvolle Entschlossenheit Europa durch alle Klippen des Ostpaktes, des Londoner Kommuniqués, der Konferenz von Stresa, der Genfer Entschließung, des Sowjetpaktes auf den Weg seiner Zukunft gewiesen zu haben. Darin ruht die weltgeschichtliche Bedeutung des 21. Mai 1935. |