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[Bd. 9 S. 53]

2. Kapitel: Drohende Wetter über Europa im Herbst 1934.

1.

Das große europäische Problem hatte sich seit der Machtergreifung Adolf Hitlers mehr und mehr verdichtet zur Auseinandersetzung über die Frage, welche Kräfte in Zukunft die Völker führen sollten, die der völkischen Ordnung oder die der jüdisch-bolschewistischen Internationale. Hitler zwang, nicht durch eine von außen wirkende Gewalt, sondern durch die Kraft der Idee, die Völker Europas, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, sie zu entscheiden. Da man in Europa siebzehn Jahre lang dieser Entscheidung ausgewichen war, sich damit begnügt hatte, die Krisis latent zu ertragen und den Zustand des Verfalles stückchenweise zu kitten, mußte das Vorgehen Hitlers den Appell an großen Mut in sich schließen. Dies aber wieder barg in sich die unumstößliche Tatsache, daß der Schwerpunkt der europäischen Politik unmerklich, aber sicher, mehr und mehr vom Westen in die Mitte Europas, nach Berlin, hinüberwechselte. Aus diesem Vorgang allein läßt sich das begründen und verstehen, was in der Folge geschah.

Das war die Frage, von deren Lösung Hitlers Erfolg abhing: Europa völkisch oder bolschewistisch? Vielleicht trug gerade diese Fragestellung dazu bei, daß Moskau mit erhöhter Kraft sich den europäischen Fragen widmete. Moskau witterte instinktiv, daß jeder Erfolg Hitlers ein Antrieb für die gegenbolschewistischen Kräfte der anderen Völker und eine Erschütterung der bolschewistischen Ideenwelt war. Moskau mußte aus Selbsterhaltungstrieb eindeutig handeln. Klar zeichnet sich deshalb das Ziel der bolschewistischen Politik bereits seit 1933 ab. Man will von Moskau aus einen breiten kontinentalen bolschewistischen Riegel über Warschau, Berlin, Paris und Madrid quer durch Europa legen, von dem aus man dann den unter Englands Führung stehenden Norden und den unter Italiens Führung stehenden Süden leicht zu erobern hofft. Der Erfolg hing aber von der Eroberung Berlins ab. Berlin wurde [54] der Punkt, wo die Frage, ob das Moskauer Ziel erreicht werden könne, entschieden wurde. Das Berlin Adolf Hitlers war der Punkt, an dem ganz Europa von Moskau aus den Angeln gehoben werden konnte. Alles, was nun geschah, war also nicht mehr allein unter dem alten Gesichtspunkt der erfolglosen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England und Deutschland zu betrachten, sondern unter dem Gesichtspunkt der erfolgreichen Auseinandersetzung Deutschlands als der Vormacht Europas gegen Asien mit Rußland. Allerdings schaltete sich Frankreich durch seine Verbindung mit Rußland zu dessen Gunsten in die Auseinandersetzung ein.

  Spanischer Aufstand 1934  

Sehen wir uns Europa unter diesem Gesichtspunkt an. Beginnen wir mit Spanien. Die Monarchie dieses Staates hatte einst verhältnismäßig fest gestanden. Sie hatte 1916 das spanische Volk davor bewahrt, daß es auch in den Weltkrieg verwickelt wurde. Der spanische Großorient, besonders unter der Leitung Don Miguel Moraytas, hatte im Bunde mit dem Großorient von Paris alles versucht, Spanien ebenso wie Italien, Portugal und Griechenland in die Front der Gegner Deutschlands zu drängen. Tapfer hatte die königliche Regierung widerstanden. Dafür war sie vom Freimaurertum geächtet worden. Der Pariser Großorient organisierte jetzt in Spanien dieselbe Verbindung zwischen Freimaurern und Marxisten, die er vor 1914 vergeblich, oder wenigstens nicht durchgreifend genug, in Deutschland herzustellen sich bemühte (vgl. mein Buch Deutscher Reichsspiegel Seite 480 bis 594). In der Tat fiel die spanische Monarchie Mitte April 1931 diesen Intrigen zum Opfer, nachdem der König Anfang 1930 seinen Diktator Primo de Rivera entlassen hatte. Das unglückliche Land erlebte nun Ähnliches, wie es Deutschland nach dem 9. November 1918 durchmachen mußte. Jedoch die Novemberwahlen 1933, bei denen zum ersten Male die Frauen mitwählen durften, erwiesen, daß die überwiegende Mehrheit des spanischen Volkes mit dieser freimaurerisch-marxistischen Mißwirtschaft nichts mehr zu tun haben wollte; die Klerikalen trugen einen überlegenen Sieg davon; im Dezember 1933 wurde die marxistische Regierung beseitigt. Eine Zeit der Reaktion brach herein. Die Zeitungen wurden der Zensur [55] unterworfen, die Gewerkschaftshäuser wurden geschlossen, die autonomen Bestrebungen in Katalonien wurden unterdrückt.

Die geschlagenen Marxisten schäumten vor Wut, sie sannen auf Rache, stießen seit Sommer 1934 immer schrecklichere Drohungen aus, schufen sich in Katalonien und Asturien und im Baskenlande politisch ziemlich unabhängige Stützpunkte, wo sie blutige Pläne schmiedeten. Um die Mitte des September 1934 wurden die Zustände unhaltbar. Die Zentralregierung in Madrid erhielt Kunde von einem umfassenden marxistischen Aufstandsplane, der mit der Ermordung sämtlicher Regierungsmitglieder beginnen und mit der Diktatur des Proletariats, mit der Rätediktatur enden sollte. Ein großangelegter, zu Wasser durchgeführter Waffenschmuggel der Marxisten wurde festgestellt, so daß eine strenge Überwachung der Küsten angeordnet wurde; besonders marxistische Studenten betrieben den illegalen Waffenhandel. Bei einer Haussuchung entdeckte man, daß die Wohnung eines ehemaligen sozialdemokratischen Abgeordneten in eine regelrechte Werkstätte zur Herstellung von Bomben umgewandelt worden war, neunzig Kilogramm Dynamit wurden hier beschlagnahmt. Auch wurden Befehle des Revolutionsausschusses aufgefunden, wonach in Madrid das Kriegsministerium, das Verkehrsministerium und die Polizeidirektion in die Luft gesprengt werden sollten. Der Präsident der Republik, Zamora, und sein Premierminister, der ewige Zauderer und willensschwache Samper, erkannten, daß Gefahr im Verzuge, und versetzten am 20. September 1934 in Madrid 70 000 Zivilgarden in Alarmzustand.. Drei Tage später wurde der Alarmzustand über ganz Spanien ausgedehnt.

Das war für die katalanische Marxistenclique in Barcelona das Zeichen zum Aufstand. Dort verübten am 23. September die Syndikalisten drei Bombenanschläge, die Leitungen für Wasser, Licht und Gas wurden beschädigt. Zugleich ging bei Santander an der baskischen Küste eine Kirche in Flammen auf.

In der katalanischen Haupt- und Hafenstadt Barcelona nahm der anormal veranlagte, in lichtscheuen Kreisen heimische Präsident der Generaljunta von Katalonien, Louis Companys, das Heft in die Hand. Seine Spießgesellen waren der marxistische Gewerkschaftsführer Largo Caballero, der "spanische [56] Lenin", und der frühere linksrepublikanische Ministerpräsident und Kriegsminister Azana. Welch sauberer Herr dies war, brachte die Madrider Polizei ans Tageslicht. Sie nahm den Marxisten Waffen und Munition weg, die aus staatlichen Arsenalen stammten. Azana hatte sie, als er Minister war, hintenherum an seine Gesinnungsfreunde verkauft! Beide, er wie die Marxisten, hatten den Nutzen davon!

All dies wußte Samper, aber er hatte nicht den Mut zum Einschreiten. Er sagte, er traue den spanischen Truppen in Katalonien nicht, trotzdem General Batet, der in Barcelona stand, späterhin sehr zuverlässig kämpfte. An diesen General und seine zehntausend Mann hatte sich das Verrätergesindel des Azana nicht herangemacht. Außerdem lehnten die katalanischen Weinbauern den Companys ab. Die ganze Streitmacht der Verräter waren die Syndikalisten und das Hafengesindel sowie die Mehrzahl der verführten Minen- und Landarbeiter.

Es wurde später festgestellt, daß die marxistischen Gewerkschaften Spaniens zur Vorbereitung des Oktoberaufstandes in ganz Spanien 40 Millionen Peseten (= etwa 13 Millionen Reichsmark) Arbeitergroschen ausgegeben hatten. Aber Azana, Caballero und Companys hatten noch eine andere, reichlich sprudelnde Geldquelle: Moskau! In den später beschlagnahmten Akten von Barcelona fanden sich zahlreiche Scheckabschnitte, aus denen hervorging, daß aus Sowjetrußland sehr bedeutende Geldunterstützungen zur Finanzierung des Aufruhrs und seiner erfolgreichen Durchführung eingegangen waren.

Am 26. September 1934 erklärte sich die katalanische Nebenregierung für unabhängig von der Madrider Zentralregierung, sie weigerte sich, gewisse Anordnungen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit durchzuführen. Das war der Anfang vom Ende.

Nun hätte Samper Gewalt anwenden müssen. Er tat es nicht. Das innere Schwächegefühl, das den zwischen rechts und links lavierenden Liberalisten erfüllte, hinderte ihn an entschlossenen Maßnahmen. Samper suchte zunächst Sicherungen nach rechts, zur katholischen Volksaktion CEDA, hin, [57] deren Führer Gil Robles war, ein Rechtsanwalt aus Salamanca. Samper verhandelte mit dieser Partei und wollte mit ihr eine neue Regierung bilden. Nun galt die katholische Volksaktion nicht als einwandfrei republikanisch und in jener Zeit der Spannung machten die "Königstreuen" wieder von sich reden. Der Führer der Monarchisten, Calvo Sotelo, der frühere Finanzminister Primo de Riveras, weilte in Portugal, um dort mit den emigrierten Monarchisten, insbesondere mit dem General Sanjurjo, der den Monarchistenaufstand am 10. August 1932 geleitet hatte, zu verhandeln. Es ist möglich, daß die katholische Volksaktion in den Verhandlungen mit Samper gewisse, auf die Monarchisten bezügliche Bedingungen gestellt hat, die den Ministerpräsidenten in inneren Konflikt brachten. Anderseits zwangen ihn die Vorgänge in Barcelona zum Handeln. Er hoffte trotz der gescheiterten Verhandlungen mit Gil Robles, daß ihn die katholische Volksaktion unterstützen würde gegen die marxistische Revolte.

Er hatte sich getäuscht. Als am 1. Oktober, nach einer Pause von drei Monaten, die Cortes unter starkem Polizeischutz in Madrid zusammentraten, da erklärte Gil Robles, seine Partei werde die Regierung nicht mehr unterstützen. Darauf traten Samper und seine Minister zurück, die Cortes vertagten sich bis zur Lösung der Krise. Samper riet dem Präsidenten Zamora, die neue Regierung auf der Grundlage der radikalen Partei mit Einschluß der Agrarier und der katholischen Volksaktion zu bilden. Am Abend des 4. Oktober war nach mancherlei Schwierigkeiten das neue Kabinett unter Führung von Lerroux geschaffen. Die katholische Volksaktion übernahm das Arbeits-, das Justiz- und das Landwirtschaftsministerium, drei wichtige Ministerien, Samper übernahm das Auswärtige, die Parteifreunde des Radikalen Lerroux übernahmen ferner das Kriegsministerium (Hidalgo), das Innenministerium (Eloy Vaquéro), den Verkehr (Jalon), Industrie und Handel (Orozco), der Agrarier Cid wurde Minister für öffentliche Arbeiten. Das Gesamtbild der Regierung war dies: acht Radikale, drei Klerikale, zwei Agrarier, es war so, wie Samper vorgeschlagen hatte.

Die Marxisten kannten den Hauptpunkt der katholischen [58] Volksaktion: sie wollte die marxistischen Gewerkschaften gänzlich durch die katholischen Arbeitervereinigungen verdrängen. Sie sahen daher in der vom Präsidenten herbeigeführten Entwicklung nach rechts und die so geschaffene antimarxistische Regierung eine Kampfansage. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober, unmittelbar nach Bekanntgabe der neuen Regierung, erklärten die marxistischen Gewerkschaften den Generalstreik für ganz Spanien. Madrid verwandelte sich in eine tote Stadt, ohne Autobusse, ohne Straßenbahnen, ohne Untergrundbahnen. Schon kam es zu Schießereien zwischen Syndikalisten und Polizisten, wo es neben drei Toten zahlreiche Verwundete gab. Die Polizei verhaftete zweihundert Rädelsführer, beschlagnahmte viele Waffen und Munition. Auch in anderen Städten, in Barcelona, Sevilla, Saragossa, San Sebastian, Oviedo ereigneten sich bereits schwere Zusammenstöße, ganz Spanien fieberte im Generalstreik.

Kräftig schürten die bolschewistischen Elemente das Feuer des Aufruhrs. Um die Mitternacht zwischen dem 5. und 6. Oktober befahl die syndikalistische Streikleitung, die Entwicklung in "revolutionäre" Bahnen zu drängen. In den Straßen Madrids hämmerten die Maschinengewehre, floß Blut. Am Abend des 6. Oktober gegen 20 Uhr verkündete die separatistische Verräterbande in Barcelona unter Führung von Companys die Unabhängigkeit Katalaniens:

      "Katalanen! Die monarchistischen und faschistischen Kräfte haben die Regierung übernommen, um die Republik zu zerstören. Alle guten Republikaner sind aufgestanden, um die Zerstörung der Republik zu verhindern. Katalonien kann dem ganzen spanischen Volk, das für seine Freiheit kämpft, seine Solidarität nicht verweigern. Katalonien bricht alle Beziehungen zu den spanischen Regierungsstellen ab."

Er gab die Losung aus: "Siegen oder sterben!" An die Spitze der neuen katalanischen Regierung, die sich "provisorische spanische Zentralregierung" nannte, trat Azana, mit dem Programm, Spanien in eine Förderativrepublik zu verwandeln. Zur gleichen Stunde tobte ein neuer marxistischer Großangriff in Madrid. In den sehr mangelhaft beleuchteten Straßen entstand ein wildes Pistolen- und Gewehrfeuer, es war für Polizei und Militär ein schwerer und ver- [59] lustreicher Kampf, doch gelang es, die Marxisten niederzuhalten; davon hing das Schicksal Spaniens ab!

Aufstand in Katalonien.
[Bd. 9 S. 64a]      Aufstand in Katalonien:
Regierungstruppen in Barcelona.
      Photo Scherl.

Der 9. Oktober 1934 in Madrid.
[Bd. 9 S. 64a]      Der 9. Oktober 1934 in Madrid.
Soldaten durchsuchen Fußgänger nach Waffen.

Photo Scherl.
Kurz vor Mitternacht des 6. Oktober verkündet Lerroux den Kriegszustand über ganz Spanien. In aller Schnelligkeit sandte die Regierung starke Truppenabteilungen, darunter zwei Bataillone Fremdenlegion, und Kriegsschiffe nach Barcelona, um General Batet in seinem Kampfe zu unterstützen. Schon im Morgengrauen des 7. Oktober zwang Batet die katalonische Regierung zur Übergabe, nachdem der General gegen das Regierungsgebäude den Großangriff mit Mörsern hatte eröffnen lassen. Companys, der seine Losung "siegen oder sterben" weder im einen, noch im andern Stück erfüllte, ergab sich mit 31 Spießgesellen, darunter der Bürgermeister, auf Gnade und Ungnade, Azana floh im Flugzeug nach Frankreich, Largo Caballero wurde später verhaftet, als er die portugiesische Grenze überschreiten wollte. Barcelona und die öffentlichen Gebäude waren fest in der Hand des Militärs und damit der Madrider Regierung.

Aber der Aufstand war noch nicht zu Ende! In Madrid dauerten die Feuerüberfälle von Anarchisten unterstützter jungsozialistischer Gruppen auf Polizei und Militär, ja auf die Villa des Ministerpräsidenten Lerroux bis zum 9. Oktober fort, erst am 10. trat in der Landeshauptstadt Ruhe ein, jedoch die Arbeit wurde nur teilweise wieder aufgenommen. Die sozialdemokratische Zeitung El Socialista wurde verboten. Besonders hartnäckig aber wehrten sich die Aufständischen in Nordspanien. Unbekümmert um das Vorrücken der Regierungstruppen verübten sie den blutigsten Terror, ermordeten Polizisten, Geistliche, Nonnen, ja Waisenkinder und steckten Kirchen und Klöster in Brand, ja in Galicien versuchte man eine selbständige galicische Republik auszurufen. Von La Coruna über Oviedo, Gijon, Santander, Leon, Saragossa nach Levida und Barcelona stand das ganze Land noch in hellen revolutionären Flammen. In tagelangen schweren und verlustreichen Kämpfen vermochten die Regierungstruppen den Aufstand niederzuschlagen. Während in Saragossa bereits am 9. Oktober die Arbeit wieder aufgenommen wurde, wüteten die Furien in Asturien und Baskenland weiter. Sozialisten, Kom- [60] munisten und Anarchisten handelten gemeinsam, bildeten Sowjets und riefen die Räterepublik Asturien aus. Weiber und Kinder steckten Kirchen in Brand, Angehörige des Roten Kreuzes wurden zu Tode gequält, Greise, Kinder, Frauen, Geistliche und Nonnen wurden aufs grausamste hingemordet. Die Regierungstruppen mußten Bombenflugzeuge einsetzen, die Oviedo regelrecht von oben mit Bomben belegten. Damals begrub die berühmte Kathedrale 110 Frauen und 43 Kinder unter ihren Trümmern. Nach außerordentlich heftigen Kämpfen konnten endlich am Abend des 11. Oktober die von General Lopez Ochoa geführten Regierungstruppen – es handelte sich um afrikanische Bataillone – in Oviedo einziehen, doch mußten sie sich hier noch einen ganzen Tag lang in erbitterten Straßenkämpfen schlagen. 25 000 politische Gefangene wurden festgesetzt. Die Führer des Aufstandes wurden auf den ausgedienten Panzerkreuzer "Uruguay" in Barcelona gebracht. –

Im südlichen Spanien war Sevilla der Herd der Unruhen. Auch hier flammte der Aufstand am 8. Oktober nochmals heftig auf, als Sozialisten und Anarchisten gemeinsame Sache machten und die altberühmte Trinitatiskirche in Brand steckten. Aber auch hier sorgten die Regierungstruppen beizeiten für die Erstickung des revolutionären Feuers.

Niemand hatte größeres Interesse an einem Sieg des Chaos in Spanien als Moskau. Beauftragte doch die kommunistische Internationale etwa am 10. Oktober die französischen Kommunistenführer Cachin und Thorez, eine gemeinsame Aktion zur Unterstützung der kämpfenden spanischen Arbeiter durchzuführen! Aber was wollten die Franzosen vorläufig machen? Die Ereignisse bewiesen, daß in Spanien die antibolschewistischen Kräfte zunächst noch stärker waren als die bolschewistischen. Am 9. Oktober sprach das spanische Parlament der Regierung Lerroux das Vertrauen aus und führte die Todesstrafe für politische Verbrechen und Sprengstoffvergehen wieder ein. Die Kriegsgerichte kannten kein Erbarmen. Companys und andere Stadträte aus Barcelona wurden zum Tode verurteilt; dasselbe stand Azana bevor, den man am 9. Oktober in Barcelona, aus Frankreich zurückgekehrt, um den Aufstand neu zu [61] entfachen, mit dem Syndikalistenführer Angel Pestana und einem Hauptmann der Armee zusammen verhaften konnte.

Die verdiente Härte der kriegsgerichtlichen Urteile rief Anfang November 1934 neue Aufstandsgefahr hervor. Am 6. November erklärten die syndikalistischen Gewerkschaften (CNT) in verschiedenen Städten den Generalstreik. In Saragossa streikten Bauarbeiter und Kellner, auch in Alicante brach der Streik aus. Die Anarchisten, die am Oktoberaufstand kaum teilgenommen hatten, erklärten, sie würden mit den Syndikalisten zusammen den Generalstreik erklären, wenn die ausgesprochenen Todesurteile vollstreckt würden. Mit starker Faust hielt die Regierung zwar alle Aufstandsversuche nieder, wenn es sich auch nicht verhindern ließ, daß hier und da eine Gewalttat vorkam, so am 13. November in Valencia, als zwei Bombenanschläge gegen das Versammlungslokal einer rechtspolitischen Vereinigung und die Wohnung eines Pfarrers verübt wurden. Oder am 1. Dezember, als in einem Dorf bei Alicante drei marxistische Bomben vor dem Tor einer Kirche explodierten und großen Schaden anrichteten. Aber die marxistischen Drohmanöver bewirkten doch, daß nicht alle Aufrührer, wie z. B. Azana, die verdiente Strafe erhielten. Ende Dezember entschied der Oberste Gerichtshof, daß das vorliegende Beweismaterial gegen Azana nicht ausreiche zu einer Anklage wegen staatsfeindlicher Handlungen. Er wurde aus der Haft an Bord eines Kriegsschiffes entlassen. Zur gleichen Zeit beantragte in den Militärgerichtsverhandlungen gegen 66 Teilnehmer an den asturischen Oktoberaufständen der Anklagevertreter drakonische Strafen. Er forderte für 25 Angeklagte die Todesstrafe und für die übrigen 41 lebenslängliche Kerkerstrafen. Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, im Rahmen der Revolte den Direktor eines Bergwerks, Raffael Rigo, weiterhin zwei andere Zivilisten, einen Oberst, einen Major, neun Soldaten und drei Zivilgardisten getötet zu haben.

Es schien zunächst, als sollten jetzt zwischen der katholischen Volksaktion des Gil Robles und den Radikalen (gemäßigten Liberalen) des Ministerpräsidenten und den Agrariern unter dem Eindruck der behobenen Gefahr die Bindungen enger werden, ja als sollte sich unter Gil Robles' Führung ein [62] rechtsrepublikanischer Block entwickeln. Bald jedoch entstand unter der Oberfläche ein Zustand der Eifersucht zwischen den Parteien, der innerhalb der Regierung eine lähmende Spannung auslöste. Den Streitpunkt bildete die Vollstreckung der Urteile gegen die Aufrührer. Während die katholische Volksaktion unerbittliche Bestrafung forderte, um reinen Tisch zu machen, führten die Radikalen, eingeschüchtert durch marxistische Drohungen, umfangreiche Begnadigungen und Amnestierungen ins Feld. Es schien zunächst, als sei die katholische Volksaktion die stärkere. Bereits Mitte November schieden Samper und Hidalgo aus der Regierung aus. Über die Neubesetzung konnte man sich nicht einigen. Wochenlang litt Spanien nun an einer schleichenden Regierungskrise. Anfang Januar 1935 entdeckte man in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon kommunistische Geheimpapiere, die den Zusammentritt der dortigen Nationalversammlung zum Signal eines gleichzeitigen bewaffneten Aufstandes in Portugal und Spanien erklärten. Unter dem Eindruck dieser Alarmnachrichten sowie gleichzeitiger Aufdeckung bolschewistischer Umsturzpläne verständigten sich der Ministerpräsident Lerroux und Gil Robles wieder, daß sie an der augenblicklichen Zusammensetzung des Kabinetts nichts ändern wollten. Die aufs neue drohende Gefahr drängte die Führerstreitigkeiten in den Hintergrund.

Immerhin war die Stärke der Ordnungsfront nur eine scheinbare. Der unterirdische Nährboden des bolschewistischen Feuers in den Land-, Minen- und Hafenarbeitern war allzu lebenskräftig, als daß die Niederschlagung des Oktoberaufstandes von längerer Wirkung hätte sein können. Die Zeit der Ruhe wurde für die spanischen Marxisten eine Zeit der Sammlung und Schulung durch Moskau.

Um den 20. März herum wurde ein kommunistischer Umsturzplan beim kommunistischen Provinzialausschuß der Arbeiter- und Bauernvereinigung in Linares aufgedeckt. In Arjona sollte der gewaltsame Umsturz seinen Anfang nehmen. Trotz dieser drohenden Zeichen verharrten die Radikalen bei ihrem Amnestierungswillen. Am 29. März setzte die Mehrheit der Radikalen in der Regierung die Begnadigung des wegen Teil- [63] nahme am Oktoberaufstand in Asturien zum Tode verurteilten Marxistenführers Pena sowie zwanzig anderer zum Tode verurteilter Aufständischer (siehe oben!) durch. Dieser Beschluß veranlaßte die der katholischen Volksaktion, den Agrariern und Liberaldemokraten angehörenden Kabinettsmitglieder, sofort zurückzutreten. Damit war die Regierung Lerroux gefallen. Es gelang Lerroux nach tagelangen Schwierigkeiten, schließlich eine Minderheitsregierung der Radikalen zu bilden. Damit war das unglückliche Spanien aber vom Regen in die Traufe gekommen. Denn diese Regierung fand ihre Gegner jetzt nicht nur bei den Marxisten, sondern auch bei den Rechtsparteien. Die innere Zerrüttung nahm ihren Fortgang, über den später weiter berichtet wird. –

Die spanischen Vorgänge waren ein Beweis mehr dafür, mit welch ungebrochener Kraft der Bolschewismus in den Eingeweiden Europas wühlte, eine Erkenntnis, die um so ernster war, als Sowjetrußland ja nun Mitglied des Völkerbundes geworden war. Die spanische Regierung selbst hatte hierbei mitgeholfen. Und das hatte sie getan, weil die Radikalen Frankreich als Bundesgenossen gegen den Klerikalismus betrachteten. Zur Zeit König Alfons XIII. waren die Beziehungen zwischen beiden Ländern keine freundschaftlichen. Zu höchster Spannung gediehen sie im Jahre 1926, als der damalige Diktator Spaniens, General Primo de Rivera, mit Italien einen Schiedsgerichts- und Freundschaftsvertrag schloß. Ihm waren einige Geheimklauseln angehängt. Paragraph 13 bestimmte, daß im Falle eines Krieges der andere Partner unter allen Umständen wohlwollende Neutralität bewahren sollte.

Für Frankreich war die spanisch-italische Freundschaft insofern bedenklich gewesen, als Spanien sofort mit dem Ausbau der Festungswerke auf den Balearen begann. Im Falle eines Krieges hätten die verbündeten Mächte Spanien und Italien durch die West-Ostlinie Spanien – Balearen – Sardinien Frankreich glatt von seinen nordafrikanischen Kolonien abschneiden können. An dieser Tatsache ändert auch nichts der Umstand, daß Frankreich nachträglich seine Einigung mit Spanien herbeiführte. Schon aus diesem außenpolitischen Grunde mußte der Großorient von Paris für die Beseitigung der Monarchie in [64] Spanien sorgen. Die Aufrichtung der Republik in Spanien 1931 führte zur Abwendung vom faschistischen Italien und zur Anlehnung an das republikanische Frankreich. Herriot und Weygand weilten in Madrid und machten die Balearen ihren Interessen dienstbar. So geriet die spanische Republik in die durch die Spannung zwischen Radikalen und Klerikalen noch vertiefte Abhängigkeit von Frankreich, und so nahm sie teil an dem verhängnisvollen Schritt der Einführung der Sowjetunion in den Völkerbund. Die Bolschewiken haben der spanischen Regierung auf dem Fuße ihren Dank abgestattet im Oktoberaufstand und den auf diesen folgenden Schwierigkeiten.

  Frankreich  

2.

Nun zu Frankreich. Dieser Staat befand sich das ganze Jahr 1934 in ernsten politischen Fieberschauern. Er lavierte fortgesetzt auf der messerscharfen Schneide, die Ordnung und Frieden von Bürgerkrieg und Krieg trennt. Der Stavisky-Skandal (Siehe [6. Teil] Bd. 1 Seite 143) hatte eine monatelange innere Beunruhigung des Volkes zur Folge. Er enthüllte die tiefe Korruption weiter Beamtenkreise der Republik; vor allem wurde der Eindruck erweckt, daß die Polizei des Staates moralisch, technisch, organisatorisch sozusagen keinen Heller mehr wert sei; eine Feststellung, die im Oktober durch den Königsmord noch wesentlich vertieft wurde. Mitte Juli 1934 war Tardieu soweit, daß er im Zusammenhang mit dem Stavisky-Skandal die ganze Regierung sprengen konnte. Damals bemühte sich Doumergue mit allen Kräften einen politischen Burgfrieden zustande zu bringen, der wenigstens seiner Regierung die Gewähr eines befristeten Fortbestandes sicherte, was insofern wichtig war, als sich im Lager des Marxismus eine bedrohliche Sammlung der Kräfte vollzog.

Aus Genf brachte die Regierung auch nicht viel heim. Es sei denn die neue russische Freundschaft. Man kann ja über [65] diese Erwerbung verschiedener Meinung sein, vielleicht war sie doch mehr eine Belastung als eine Erhöhung der inneren Kraft, aber das mußte die Zukunft zeigen.

Anfang Oktober 1934 fanden Generalratswahlen statt, nach dreijähriger Pause. Die Wahlversammlungen waren teilweise sehr erregt, Schießereien und Schlägereien ereigneten sich. Aber noch konnte sich an jenem 8. Oktober, trotz Staviskyskandal und wachsender Arbeitslosigkeit, die breite demokratische Mitte als Schildhalterin der Republik behaupten, der rechte und der linke Flügel hatten gegenüber 1931 sogar eine leichte Einbuße erlitten. Der suggestive Ruf "Die Republik ist in Gefahr!" war für die freimaurisch geleiteten bürgerlichen Massen die beste Wahlparole gewesen.

Unmittelbar nach den Wahlen ereignete sich etwas Furchtbares. Am Nachmittag des 9. Oktober traf König Alexander von Südslawien zu einem Staatsbesuch in Marseille ein. Als er mit Barthou durch die Straßen der Stadt fuhr, sprang ein Kroate hervor und tötete den König und Barthou sowie zwei Begleiter durch eine Reihe von Revolverschüssen. Der Attentäter selbst, Mitglied der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation, wurde niedergeschossen. (Über Barthou vgl. Anlage 4.)

Beisetzung des Außenministers Barthou.
[Bd. 9 S. 96a]      Paris: Beisetzung des Außenministers Barthou, Oktober 1934.      Photo Scherl.

Der Mord warf ein bezeichnendes Licht auf die inneren Zustände Frankreichs. Auf die ausdrückliche Anfrage aus Belgrad, ob König Alexander vierzig Geheimdetektive zu seiner Bewachung mitbringen sollte, hatte die französische Polizeiverwaltung geantwortet, das sei nicht nötig, es sei für ausreichenden Schutz gesorgt. Daß dies nicht der Fall war, erwies der zufällig aufgenommene Film des Mordes, dessen Hersteller übrigens auch kurz danach auf rätselhafte Weise ums Leben kam. Das Versäumnis der Polizei ist um so unbegreiflicher, da bereits am Morgen des 9. Oktober Pariser Amtsstellen von dem bevorstehenden Attentat Kunde erhalten hatten und trotzdem nichts taten, um die an sich schon recht mangelhaften Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken.

Ein Sturm des Entsetzens fuhr durch die Welt. Die öffentliche Meinung des französischen Volkes selbst verlangte jetzt Abhilfe der unhaltbaren Zustände. Innenminister Sarraut [66] mußte gehen, der schuldige Generaldirektor der Sicherheitspolizei Berthoin wurde seines Postens enthoben, desgleichen der schuldige Präfekt des Departements Bouches-du-Rhone, Jouhannaud; schließlich trat auch der Justizminister Chéron zurück. Mit dem Königsmord von Marseille übertrumpfte die französische Polizei noch den Stavisky-Skandal. Vermochte Doumergue sein auch im Stavisky-Falle schwer belastetes Kabinett wenigstens noch zusammenzuhalten, so schien das nach Marseille kaum mehr möglich. Barthou war tot, zwei andere Minister mußten verschwinden. Dem scharfen Drängen von rechts, Einfluß in der Regierung zu gewinnen, vermochte Doumergue nur mit dem Hinweis auf das Ergebnis der Kantonalwahlen zu widerstehen: das Volk sei mit ihm und seiner Politik zufrieden. In der Tat überstand Doumergue wider alles Erwarten auch die schwere Krisis des Königsmordes.

Bereits am 13. Oktober wurde der 51jährige Pierre Laval, bisher Kolonialminister, zum Nachfolger Barthous berufen. Laval, Rechtsanwalt, Südfranzose, aus dem Departement Puy-de-Dôme gebürtig, war bereits seit 1925 verschiedentlich Minister gewesen; er war es auch gewesen, der im Sommer 1931 (vgl. Der Kampf um das Dritte Reich Bd. II) Deutschland die Daumenschrauben ansetzte und dann kurz darauf als erster französischer Ministerpräsident nach Berlin kam. Nun also war er der neue Außenminister.

Die Marseiller Vorgänge wurden aber schon bald durch andere innere Sorgen Frankreichs in den Hintergrund gedrängt. Doumergue hatte durch seine Erfahrungen im Frühjahr und Sommer den Eindruck gewonnen, daß die Autorität der französischen Regierung auf sehr schwachen Füßen stand. Dem mußte abgeholfen werden durch eine den Parlamentarismus einengende Staatsreform – eine Staatsreform, die die Regierung in die Lage versetzte, im Innern gegen die sich festigende und durch Rußlands Aufnahme in den Völkerbund sowie die damit zusammenhängende vermehrte bolschewistische und antimilitaristische Propaganda außerordentlich gestärkte gemeinsame Front des Marxismus kräftiger auftreten und damit auch nach außen erfolgreicher sein zu können.

Am 4. Oktober hielt Doumergue eine Rundfunkrede an das [67] französische Volk: Die Regierung brauche mehr Autorität, damit nicht Unordnung und Anarchie einträten. Die Anarchie ziehe die Diktatur nach sich, er möchte diese aber seinem Volke ersparen. Die Parlamente müßten gefestigt werden, die Ministerpräsidentschaft müsse über ein ständiges Büro und gut ausgesuchtes Personal verfügen. Bisher sei das Fehlen der Verantwortung zum System erhoben worden. Er halte auch die Trennung der politischen und richterlichen Gewalt für unbedingt erforderlich. Das Ziel seiner Außenpolitik sei der Friede. Frankreich sei nicht rachsüchtig. Es werde sich gern zu allen Ententen bereit finden, deren aufrichtiges Ziel die Aufrechterhaltung des Friedens sein werde, selbstverständlich unter der Bedingung, daß keine dieser Ententen Frankreich verpflichte, auf etwas zu verzichten, was es für seine Sicherheit für unerläßlich ansehe. Diejenigen, die wirklich den Frieden wollten, seien nicht die, die sich damit begnügen, "Frieden zu blöken" und die Armee zu beschränken (Marxisten!); diese Leute würden eines Tages unbewußt den Krieg über das Land heraufbeschwören. Wer dies aber abwenden wolle, der müsse das Land im Zustande guter Verteidigung halten für den Fall, daß es einmal angegriffen werden sollte. Der Bürgerkrieg im Februar hätte in sehr kurzer Zeit zum Krieg mit dem Auslande führen können. Um die Diktatur zu vermeiden, müsse man der gemeinsamen kommunistisch-sozialistischen Front die gemeinsame Front der Freiheit und des Vaterlandes entgegenstellen.

Als Ergebnis der in Genf und Paris gewonnenen Erkenntnisse war der Sinn der Bestrebungen Doumergues, durch innere Kraft wieder zur äußeren Stärke zu gelangen, d. h. dem innerlich gefestigten und geeinten Deutschland innerlich ebenbürtig und überlegen zu werden. Das war jedoch nur möglich, wenn man durch eine Verfassungsreform die Marxisten verhinderte, durch Kreditverweigerungen dem Heere, das ihrer Meinung nach die tragende Säule des bürgerlichen Staates war und dessen Führer aus den Rechtsverbänden hervorgingen, weiterhin Schwierigkeiten zu bereiten und militärfeindliche Propaganda zu treiben. Doumergue wollte nun die Verfassung vom 25. Februar 1875 in folgender Weise abändern: Die Zahl [68] der Minister einschließlich dem Ministerpräsidenten wird auf zwanzig beschränkt, der Ministerpräsident übernimmt kein Ministerium; der Präsident der Republik darf die Abgeordnetenkammer vor Ablauf ihrer gesetzmäßigen Amtszeit auflösen, jedoch im Laufe des ersten Jahres ihrer Amtszeit nur auf Grund eines entsprechenden Senatsgutachtens, aber "in dem darauffolgenden Jahre kann der Präsident der Republik die Kammer ohne entsprechendes Senatsgutachten auflösen". Der Staat gibt den Beamten feste Anstellung und Gewähr beruflichen Fortkommens, jede ungerechtfertigte oder verabredete Diensteinstellung (wir sagen: Streik) zerreißt das Band, das sie mit dem Staat verbindet. Wenn die beiden Kammern den Staatshaushalt in Einnahme und Ausgabe vor dem 1. Januar nicht verabschiedet haben, darf der Präsident der Republik ohne weiteres (also im Wege der Notverordnung) den laufenden Etat auch für das kommende Jahr einsetzen.

Das also waren die Gedanken Doumergues zur Sicherung und Festigung der Staatsautorität: die Regierung sollte den Staat außerhalb des Parlaments fest in die Hand bekommen. Sie fanden wenig Gnade vor den Parteien, die da nicht nur eine Kürzung ihrer Rechte, sondern vor allem einen tückischen Überfall des Faschismus witterten. Vom 25. bis 28. Oktober fand in Nantes der radikalsozialistische Parteitag statt, der sich scharf gegen den Plan einer Kammerauflösung ohne Senatszustimmung wandte, dem könne kein guter Republikaner zustimmen. Herriot, der zugleich Staatsminister und Vorsitzender dieser Partei war, kam in eine schwierige Lage. Er konnte als Minister seinen empörten Parteiangehörigen gegenüber nur den Wunsch äußern, die Partei möge nicht den Burgfrieden brechen. In der Regierung aber befand er sich als Führer der Radikalsozialisten jetzt in tiefem Gegensatz zu Doumergue, sie konnten sich nicht über die Verfassungs- und Staatsreform einigen, so daß der politische Waffenstillstand, wenn auch nicht abgebrochen, so doch aber schwer erschüttert wurde.

In dieser Lage griff Doumergue zu einem Verzweiflungsmittel: Er suchte seine inneren Nöte nach außen abzuleiten, er machte falschen Kriegslärm an der Saargrenze. Am 31. Ok- [69] tober mußte Marschall Pétain zur Begründung einer Nachtragsforderung von 800 Millionen für die Armee erklären, gegenwärtig könne die Regierung angesichts der beträchtlichen Erhöhungen der Rüstungen gewisser Länder die von Frankreich zu unternehmenden Anstrengungen nicht mehr auf eine Erhöhung der Effektivbestände beschränken. Zur gleichen Stunde wurden die ungeheuren Truppenmassen in Lothringen alarmiert und dem dort kommandierenden General wurde laut vor aller Welt die Weisung erteilt, sofort zum Eingreifen im Saargebiet bereit zu sein, wenn Knox um Hilfe bitte. London wurde von diesen "technischen Vorbereitungen" benachrichtigt (Siehe [6. Teil] Bd. I Seite 369).

Schwere Feldhaubitze.
[Bd. 9 S. 192b]      Französische Manöver: Eine
gegen Fliegersicht gedeckte schwere Feldhaubitze.

Photo Scherl.
Französischer Panzerwagen.
[Bd. 9 S. 192b]      Französische Manöver:
Ein Panzerwagen.
      Photo Scherl.

Französisches Militär in Metz.
[Bd. 9 S. 208a]      Französisches Militär in Metz.      Photo Scherl.

In diesem Alarm Europas gipfelten die französischen Truppenbewegungen des Oktober, sie sollten der Regierung aus ihrer kritischen Lage helfen. In der Tat hing in diesen Tagen die Entscheidung über Krieg und Frieden an einem Haar. Nur die vorbildliche Disziplin der Saarbevölkerung und die eiserne Ruhe des Führers verhinderten den Ausbruch des Krieges! Aber warum das alles? Nur weil Doumergue ebenso sehr außenpolitisch wie innenpolitisch der Opposition gegenüber eine show of power, eine theatralische Schaustellung der Macht brauchte, weil er glaubte, alle Franzosen seinen Wünschen gefügig zu machen, wenn er ihnen zeigte: Seht, wenn Recht und Frieden in Europa durch Deutschland bedroht sind, dann ist die französische Armee jederzeit deren zuverlässige Stütze, darum tretet geschlossen hinter die Regierung, die dieser Armee ihre besondere Sorgfalt widmet.

Die bürgerliche Demokratie stand in ihrer Mehrheit hinter Doumergue; das bewies die am 2. November in Arras tagende demokratische Allianz, deren Vorsitz Flandin, der Minister für öffentliche Arbeiten, inne hatte und der außerdem der neue Kolonialminister Rollin angehörte. Hier wurde es geradezu als Verrat an Vaterland und Frieden bezeichnet, wenn jemand noch von Rüstungsbeschränkung spreche. Der Abgeordnete Fabry, Vorsitzender des Heeresausschusses der Kammer, vertrat folgenden Standpunkt: Zwischen zwei untereinander so verschiedenen Ländern wie Deutschland und Frankreich könne Gleichberechtigung sich nicht durch Gleichheit der Streitkräfte [70] äußern. Deutschlands Bevölkerungzahl, die Leistungsfähigkeit seiner Industrie und der in Deutschland vorherrschende Geist bewirkten, daß eine theoretische Gleichheit für Deutschland eine ausgesprochene Überlegenheit bedeute. Der Gedanke einer Gleichberechtigung zwischen Deutschland und Frankreich sei ein reines Trugbild, ja sogar ein Verbrechen am französischen Volke. Entweder behalte Frankreich die Überlegenheit der Streitkräfte, die ihm die Verträge hätten zuerkennen wollen oder Deutschland werde die Überlegenheit besitzen, und das würde Frankreich in eine fürchterliche Lage versetzen, deren Ausgang niemand voraussagen könne. Man müsse sich übrigens bereits fragen, ob nicht Deutschland vielleicht schon diese Überlegenheit erreicht habe! Fabry schloß mit dem Bekenntnis zu Doumergue: Der Bürgerkrieg sei der Vorläufer des Krieges mit dem Auslande; man möge das beherzigen.

Jedoch die Panik, die diese sechzig Abgeordneten und die verschiedenen Parteidelegierten aus der Provinz vorschriftsmäßig zur Schau trugen, vermochte Doumergue nicht mehr zu retten. Die Radikalsozialisten, schon allzu nachhaltig von der antifaschistischen Alarmpropaganda verblendet, blieben starr und unnachgiebig. Am 3. November tagte unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik, Lebrun, zweiundeinehalbe Stunde lang der Ministerrat; er nahm Doumergues Vorschläge entgegen, strich den Satz, der die Kammerauflösung ohne Senatsbeschluß enthielt und meinte, zu Doumergues größter Unruhe, hierüber müsse die Kammer entscheiden. Im übrigen wurde der Ministerpräsident ermächtigt, in der Kammer den Antrag auf Einberufung einer Nationalversammlung zu stellen. – Damit war Doumergues Schicksal so gut wie besiegelt, seine Minister standen zum großen Teile nicht mehr hinter ihm, weil die ausschlaggebende Partei, die Radikalsozialisten, mehr und mehr vom "Antifaschismus" befallen wurde und jetzt das Zünglein an der Waage war. Indem sie von der Regierung, an der sie teil hatte, abrückte, näherte sie sich mehr und mehr der marxistischen Gemeinschaftsfront, dem front commun.

Das Volk wurde unruhig. Man sprach von gewaltigen Marxistendemonstrationen, die zur Abwehr royalistischer Kund- [71] gebungen stattfinden sollten, Oberst de la Roque, Führer der Frontkämpfervereinigung "Feuerkreuz", stellte Forderungen: Aufhebung der marxistischen Front, energische Bekämpfung der Lebensmittelteuerung, Säuberung und Neuorganisation des gesamten Verwaltungsapparates. Die Dinge spitzten sich zu wie im Februar. Am Mittag des 8. November traten die radikalsozialistischen Minister zurück "weil eine Verständigung über die Vorlage der drei provisorischen Haushaltszwölftel nicht erzielt werden konnte". Nun blieb auch Doumergue, der keine Minderheitsregierung führen wollte, nur noch der Rücktritt übrig. Sein Plan einer antimarxistischen Koalition Rechts-Mitte war gescheitert.

  Regierungswechsel in Frankreich  

Der 45jährige Demokrat Flandin, ehemaliger Frontkämpfer, bildete die neue Regierung. Er selbst war Ministerpräsident, von seinen zwanzig Ministern waren sieben Radikalsozialisten, darunter Herriot als Staatsminister ohne Portefeuille, drei Radikale Linke, ein Vertreter der Kriegsteilnehmer Rivollet; Senator Laval behielt das Außenministerium. Es war eine demokratische Mittelregierung. Am 13. November erhielt Flandin mit 423 gegen 118 Stimmen bei 60 Enthaltungen das Vertrauen der Kammer. In seiner Regierungserklärung erwähnte er mit keinem Worte mehr die Staatsreform und Nationalversammlung; damit waren Doumergues Bestrebungen um Schaffung einer autoritären Staatsgewalt ins Nichts zurückgesunken. Nur an einem Punkte der Doumergueschen Erbschaft hielt Flandin fest: am politischen Burgfrieden. Ihre Garanten sollten die beiden Staatsminister ohne Portefeuille, Herriot von den Radikalsozialisten und Marin von der Republikanischen Vereinigung sein.

Frankreich war auf seinem alten Standpunkte. In seinem Innern wühlte der Unfriede. Marxisten und Arbeitslose riefen Tumulte hervor, wie in Lille und St. Quentin, ja auch in der Kriegsmarine zeigten sich Spuren der Zersetzung, als die Besatzung eines Minenlegers "wegen schlechten Essens" zu meutern versuchte. In den Territorialtruppen ließen sich Zersetzungserscheinungen erkennen. Es war wie in Spanien: der lachende Dritte im liberalistischen Parteiengezänk war Moskau!

[72] Gemäß seinem Standpunkte, den er mit Doumergue teilte, daß Bürgerkrieg das Vorspiel zum internationalen Kriege sei (eine Auffassung übrigens, die in den typisch freimaurerischen Gedanken von 1789 wurzelt, innere Schwierigkeiten durch erhöhte revolutionäre Aktivität nach außen hin zu überwinden, oder, wie man auch sagen könnte: den Kampf um den Sieg einer nationalen Idee auf internationaler Basis zu führen, das Recht einer nationalen Revolution durch eine Weltrevolution zu begründen), betrieb Flandin kräftig die Rüstungspolitik. Ende November bewilligte der Heeresausschuß 3½ Milliarden für Modernisierung der Flugwaffe, verteilt auf drei Jahre, drei Wochen später bewilligte die Kammer die von Pétain Ende Oktober geforderten 800 Millionen. Flandins Worte vom 17. Dezember trugen dabei zugleich den Anforderungen des Burgfriedens mit der Linken durchaus Rechnung: Frankreich sei ein friedliebendes Vierzigmillionenvolk; es müsse sich auf Grund seiner allzu reichen Erfahrungen gegen die Gefahr schützen, aber es dürfe nur eine zur Abwehr bestimmte Militärorganisation haben. Die "Einigung aller Franzosen auf eine Politik der Rettung des Volkes" war sein Ziel, allerdings, die bereits geplante Dienstzeitverlängerung wagte er noch nicht anzukündigen. –

Es war zu jener Zeit, daß ein Abgeordneter und Führer einer französischen Frontkämpferorganisation, Jean Goy, von einer Unterredung mit dem Führer aus Berlin zurückkam und in Paris die Regierungsstellen aus dem Gleichgewicht brachte mit der Erklärung, Hitler und die Nationalsozialisten wollten den Frieden, man müsse nur mit Hitler richtig reden. So war es Ende 1934 in Paris, daß episodenhaft die beiden Prinzipien, jenes, das den wahren Frieden wollte, und jenes, das die Überlegenheit Frankreichs als Voraussetzung der Gleichberechtigung forderte, heftig aufeinanderprallten. Die von Goy vertretenen Gedanken einer aufrichtigen Annäherung beider Völker wurden von Oberst de la Roque, dem Führer der Feuerkreuzler, unterstrichen, der da sagte, in Europa könne es keinen Frieden geben, ohne daß man sich mit Deutschland ausspreche.

  Sowjetrußland  

3.

Die Sowjetunion wurde durch zwei elementare Erscheinungen bedrängt: Die erste war der Drang Japans in die Festlandküstengebiete des Fernen Ostens, die zweite war das Erlöschen des bolschewistischen Elans in der heranwachsenden Jugend. Die alternden bolschewistischen Machthaber in Moskau hatten das bestimmte Gefühl, daß beide Ereignisse über kurz oder lang zum Kriege führen mußten, allein deshalb, damit der Idee der Weltrevolution der alte Lebensraum erhalten und neues Leben zugeführt wurde. Die Bolschewisierung Spaniens, der Wunsch, Frankreich zu erobern, waren bereits Auswirkungen dieser Idee. Im Herbst 1934 zeigte Moskau jedenfalls das Bestreben, die politischen und weltanschaulichen Verluste in Fernost durch Gewinne in Europa auszugleichen, ein Bestreben, bei dem Moskau auf seinen erbittertsten Gegner, Hitler, stieß. Sowjetrußland zwischen Japan und Deutschland, das war seit 1934 in wachsendem Umfange die bestimmende Größe des äußeren Schicksals der Bolschewiken.

Menschen stehen vor einer Tabakbude in Moskau an.
[Bd. 9 S. 64a]      Moskau: Menschen stehen
vor einer Tabakbude an.
      Photo Scherl.

Die Arbeitslosen in Moskau melden sich zur Kontrolle.
[Bd. 9 S. 64]      Moskau: Die Arbeitslosen
melden sich zur Kontrolle.
      Photo Scherl.
Die Sowjetwahlen Mitte November zeigten einen inneren Wandel an, der sich innerhalb siebzehn Jahren im Wesen des Bolschewismus vollzogen hatte. Es kamen merkwürdige Sachen vor. So entzogen in der Nähe von Borisowo die Behörden allen Männern über 55 und allen Frauen über 48 Jahren das Wahlrecht, weil man in diesem Alter nicht mehr klar denken könne! Es handelte sich zweifellos um die Ausschaltung der Alten Garde der Bolschewiken zugunsten der heranwachsenden Jugend. Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei Weißrußlands empfand das als bedauerlich. In Taschkent waren 64% der neugewählten Sowjetabgeordneten Analphabeten, während der Rest aus bolschewikenfeindlichen Kulaken und Popen, Großbauern und Priestern, bestand. In Krasnowodsk gingen von 600 Arbeitern überhaupt nur 80 zur Wahl! Das von Not und Elend, von Hunger und Kämpfen, von Unordnung und Verwahrlosung – ein schweres Eisenbahnunglück zwischen Moskau und Leningrad am 6. Januar 1935, das 27 Tote und 60 Verletzte forderte, war eine schwere Anklage gegen die Verrottung der öffentlichen Einrichtungen – er- [74] schöpfte russische Volk war seines "Systems der Freiheit" müde. Es schien auch, als seien die territorialen Zusammenhalte zerrüttet. Der sibirische Fernost machte durchaus den Eindruck einer selbständigen Republik, die nicht nach Moskau fragte, dort herrschte General Blücher mit einer Viertelmillion ihm treu ergebener Soldaten.

In Moskau aber saß das Hirn, das unablässig von der Weltrevolution träumte und die Idee daran durch ewige Wiederholung marxistischer Schlagworte und ewige Erneuerung politischer und Sabotageprozesse wach erhielt. Dennoch hatte dieser Hochburg des Juden- und Verbrechertums das Bestehen des nationalsozialistischen Deutschland einen sehr schweren Schlag versetzt. Es gab in Moskau seit je zwei Richtungen: eine radikale, die jedes Paktieren mit den bürgerlichen Staaten Europas ablehnte und die Revolution als das ausschließliche Mittel der Politik gelten ließ und eine weniger radikale, die da meinte, bevor die Weltrevolution alle Staaten gestürzt habe, dürfe man schon einmal Bündnisse mit bürgerlichen Staaten eingehen und äußere Zugeständnisse machen. Durch Hitlers Regierungsübernahme waren die Ansichten auf die Erfolge der Weltrevolution sehr gesunken, es bestand für Moskau die Gefahr einer erneuten Isolierung in Europa, wie sie schon einmal 1920 stattgefunden hatte. So entschloß sich Stalin im Herbst 1933, den gemäßigten außenpolitischen Kurs einzuschlagen, der sich in steigender Annäherung an Frankreich und im Beitritt zum Völkerbunde bekundete.

Diese Vorgänge riefen in der Ende 1932 gebildeten radikalen Richtung eine tiefe Gegenwirkung hervor. Die Juden Sinowjew (Apfelbaum), Kamenew (Rosenfeld) und Trotzki (Bronstein), der einst von Stalin verdrängt war und im Exil in Frankreich lebte, scharten eine Gruppe von alten Kämpfern der KPD um sich, die einst bedeutende Ämter in Regierung und Partei innehatten, dann aus der Partei ausgeschlossen und nach vollzogener Unterwerfung wieder aufgenommen worden waren. In Leningrad und Moskau und anderen Städten sammelten sie in illegalen Organisationen alle unzufriedenen Elemente und einigten sie in einem sogenannten "neofaschistischen" Willen, der den herrschenden [75] politischen Kurs, an dessen innerer und äußerer Niederlage sie nicht mehr zweifelten, beseitigen und die Sinowjew-Trotzkische Richtung zur Herrschaft bringen wollten. In den Reihen der Industriearbeiterschaft und der Professorenschaft saßen die Anhänger dieser illegalen Verbände. Lenins Witwe, die Krupskaja, die "Großmutter der Revolution", stand der Gruppe Trotzkis nahe. Unter der Leitung von Katalinow entstand Anfang 1934 das "Leningrader Zentrum", dessen Köpfe Katalinow, Schatzki, Rumianzow, Mandelstam, Miasnikow, Levin, Sossizki und Nikolajew waren. Ähnliche Organisationen waren der unter Führung eines ausgeschlossenen Kommunisten stehende "Sokol" in Charkow, der für Faschismus Propaganda machte, und die Safarow-Gruppe.

Die Sinowjew-Trotzki-Gruppe nahm 1933 die Beziehungen zu einem nicht näher bezeichneten ausländischen Konsul auf, der sie mit Geld unterstützte und die Verbindung mit dem in Frankreich lebenden Trotzki herstellte. Ich glaube, daß die Beziehungen Stalins zu der rechtsbürgerlichen Regierung Frankreichs die Opposition endgültig bestimmten, zur Terroraktion überzugehen und die Ermordung Stalins ins Auge zu fassen. Indem man Stalin stürzte, gedachte man zugleich den französischen Kommunisten zu Hilfe zu kommen und die rechtsbürgerliche Regierung Frankreichs zu treffen. Bereits im Juli 1934 wurde ein Anschlag auf Stalin geplant. Kirow, der Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, Stalins Vertrauter und "linke Hand", Mitglied des Politischen Büros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und Mitglied des Vollzugsausschusses der Sowjetunion, einer der mächtigsten und einflußreichsten Männer Rußlands, traf daher Maßnahmen, die nicht nur die Auflösung der illegalen Organisationen, sondern deren Vernichtung mit allen ihm zu Gebote stehenden Machtmitteln zum Ziele hatten.

Am Nachmittag des 1. Dezember krachte ein Schuß im Smolny-Institut zu Leningrad. Der dreißigjährige Nikolajew hatte Kirow eine Kugel durch den Kopf geschossen. Rücksichtslos griff jetzt Stalin durch. Sofort ließ er in Leningrad 39, in Moskau 32 Leute verhaften, durchweg alte kommunistische Kämpfer und Sowjetbeamte, zum Teil in höchsten Stellen, wie der mit manchen roten Ehren [76] ausgezeichnete Chef der Leningrader Geheimpolizei, Medwed, und sein Gehilfe Formin. Polizei und Staatsanwaltschaft wurden als weißgardistisch verseucht behandelt. Ein Sondergesetz wurde geschaffen, wonach gegenrevolutionäre Elemente, die Terrorakte vorbereiten oder ausführen, ohne Gnade sofort erschossen werden sollen. Am 4. Dezember verfügte der Zentralexekutivausschuß in Moskau, daß sämtliche Gefangenen, die innerhalb der letzten drei Monate wegen staatsfeindlicher Umtriebe zum Tode verurteilt seien, sofort hingerichtet werden sollten, auch wenn noch unerledigte Gnadengesuche vorlägen.

Das Militärkollegium des Obersten Staatsgerichtshofes im Kreml begann zu arbeiten. Vom 5. bis 31. Dezember wurden unmittelbar durch Beteiligung an illegalen Verbänden in den Kirowmord verwickelte Personen hingerichtet in Leningrad 53, in Moskau 29, in Kiew 28, in Minsk 9. Bis weit in den Fernen Osten hinein reichte der Arm der Rache: denn zu diesen 119 Opfern kamen noch die zahlreichen roten Offiziere, die man aus ihren einsamen sibirischen Garnisonen herausholte und kurzerhand an die Wand stellte.

Am 16. Dezember wurden Sinowjew, Kamenew und Fedorow verhaftet, fünfzehn weitere Beteiligte folgten ihnen in den Kerker. Blasser Schrecken packte die, die ein schlechtes Gewissen hatten. Aus allen Teilen des Landes bekundeten ehemalige Anhänger Sinowjews und Trotzkis dem Stalin ihre Treue und suchten sich seine Gnade durch Verrat ihrer Genossen zu sichern. Parteiversammlungen faßten schreiende Entschließungen, die mit lauter Stimme die Todesstrafe für die Verhafteten forderten. Mit Angst und Beben saßen die Freunde Trotzkis in ihren Häusern und warteten stündlich auf die Häscher der OGPU.

Nach vierwöchiger Haft wurden Sinowjew und seine Genossen dem Gericht zugeführt. Drei Tage dauerte der Prozeß, vom 15. bis 17. Januar 1935. Obwohl auf Anweisung von höherer Stelle aus staatliche und parteiliche Organe die Erschießung Sinowjews und der anderen forderten, sah das Gericht in anbetracht der früheren Verdienste der Angeklagten von der Todesstrafe ab. Der Einfluß der Krupskaja verhinderte das Äußerste. Sinowjew wurde zu zehn, Kamenew zu [77] fünf, die übrigen zu fünf bis zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere 76 Personen der Sinowjewopposition, darunter zahlreiche Kommunisten der alten Garde und hoher Ämter, wie der Chef der Leningrader OGPU, Medwed, und elf seiner Beamten, wurden auf zwei bis fünf Jahre nach Sibirien geschickt.

Damit war die Staatsaktion beendet. Die Gefahr aber war nicht beseitigt. Noch mancher andere Sowjetbeamte fiel in der Folge nicht nur als Opfer von Revolverschüssen, sondern auch durch richterliche Urteilssprüche. Die bolschewistischen Machthaber hatten einen ununterbrochenen erbitterten Kampf gegen die "Verbürgerlichung" ihres Regierungs- und Parteiapparates zu führen. Mitte Februar 1935 wurden die Söhne reicher Bauern und andere bürgerliche Elemente, denen das Wahlrecht entzogen war, aus dem Bauernkollektiv ausgeschlossen, solange ihre politische Zuverlässigkeit nicht geklärt sei; es sollte unter keinen Umständen die Bildung von Einzelbauernwirtschaften zugelassen und jede Möglichkeit des Anspruches von Eigentumsrecht auf Land unterbunden werden. Ende März 1935 wurden 16 Beamte eines Leningrader Maschinenbautrusts verhaftet und vor Gericht gestellt, weil sie über 200 Personen "bürgerlicher Abstammung" angestellt hatten. Die 200 Unglücklichen wurden nach Sibirien geschickt. Im Mai 1935 wurden in großem Stile die Pfarrer der Sowjetunion verfolgt, zum Tode verurteilt oder nach Sibirien geschickt, weil sie die hungernden Bauern durch Spenden des Auslandes unterstützt hatten. Die Angst vor der inneren Verbürgerlichung zwang Sowjetrußland, mit erhöhten Kräften die Minierarbeit in Westeuropa zu betreiben, die Furcht vor der äußeren Einkreisung trieb Rußland in den Völkerbund und zur Verbindung mit Frankreich. Indessen setzte sich der Kampf der Diadochen Stalin und Trotzki unterirdisch weiter fort. Er verschärfte sich, da Trotzki, der einstige Schöpfer der Roten Armee, zusehen mußte, wie Stalin dieses Machtinstrument jetzt für seine Zwecke ausbaute. –

Typisch aber für das Gesamtbild Europas in jener Zeitspanne war es, daß die beiden großen Mächte Europas im Westen und Osten, Frankreich und Rußland, sich genötigt [78] sahen, die Macht ihrer Regierungen nach innen und außen durch verwegene und bedrohliche Schaustellungen darzustellen. Es liegt etwas sehr Dämonisches darin, daß eine Macht, die sich in ihrem innersten Wesen bedroht fühlt, ihre schwindende Stärke nur durch Blutopfer zurückzugewinnen hofft. Denn im letzten Grunde stand eine solche Erwägung ja auch hinter dem französischen Aufmarsch an der Saargrenze.

  Französisch-russische Verbindung  

4.

Die Furcht vor der inneren und äußeren Schwäche führte also in hohem Grade zugleich in Frankreich und Rußland zu außenpolitischem Anlehnungsbedürfnis. Beide Mächte fühlten seit Hitler mehr denn je, daß ihre Staatssysteme ihren Höhepunkt überschritten hatten und sich im Abstieg befanden. Wenn am 21. November 1934 der Generalinspekteur der Roten Kavallerie, Budjenny, in einem Aufruf an die Kavallerieregimenter der mongolisch-burjätischen Republik vom "Feuerschein des kommenden internationalen Krieges", der bereits in China begonnen hatte, sprach, dann drückte er das in Worten aus, was man in Moskau und in Paris spürte: den kommenden Verzweiflungskampf um die Erhaltung versinkender Ideen und todgeweihter Mächte.

Augenblicklich vereinigten sich die Interessen der beiden Staaten innerhalb ihres Gesamtlebensbildes auf die Mitte Europas. Die Sowjetunion empfand das starke und einige Reich Adolf Hitlers als einen störenden Widerstand auf ihrer geplanten europäischen Achse der Weltrevolution Moskau–Madrid. Frankreich empfand das Reich Hitlers als störenden Widerstand bei der weiteren Durchsetzung seiner Versailler Vorherrschaftsansprüche. Das deutsche Problem war das außenpolitisch vorherrschende und alles überragende in Paris wie in Moskau. Daraus ergab sich die Gemeinsamkeit der Interessen, die sich zwischen Rußland und Frankreich seit Deutsch- [79] lands Austritt aus dem Völkerbunde im Oktober 1933 zu entwickeln begannen und sich bis zum September 1934 bereits zum Eintritt Rußlands in den Völkerbund verdichtet hatten. Im Herbst 1934 wurde diese Gemeinschaft bereits zu einer Art russisch-französischen Bündnisses vertieft.

Frankreich hatte die Absicht, auch Polen auf dem Wege des Nordostpaktes in die französisch-russische Gemeinschaft einzubeziehen. Wir sahen, daß dieser Versuch scheiterte. Dennoch legten sowohl Frankreich wie Rußland wegen der militärischen Bedeutung Polens zwischen der Sowjetunion und Deutschland größten Wert darauf, daß auch Polen gewonnen werde. Am 12. November hatte Laval in Paris mit dem sowjetrussischen Geschäftsträger Rosenberg eine Besprechung, worin der Russe wohl dringend Laval ersucht hat, die abgebrochenen Nordostpaktverhandlungen Barthous mit Polen wieder aufzunehmen. Man mußte Polen gewinnen, um das militärische Aufmarschgebiet Sowjetrußlands gegen das Reich zu beherrschen! Die Eingliederung Polens in das französisch-russische Bündnissystem war weniger eine politische Forderung als vielmehr eine militärisch notwendige Ergänzung.

Vom 19. bis 22. November weilte Laval in Genf. Am letzten Tage seines dortigen Aufenthaltes einigten sich er und Litwinow in aller Stille auf einen ausgesprochenen Militärpakt. Es ist diese Angelegenheit von einem merkwürdigen Geheimnis umgeben, von französischer Seite bewußt verschleiert. Am Nachmittag des 23. November erklärte der Berichterstatter der Finanzkommission, Archambaud, in der Kammer:

      "In der Erkenntnis, daß die Haltung Deutschlands den Frieden Europas zu gefährden droht, haben Frankreich und Rußland ihre Freiheit sichern wollen, und es ist nicht zu leugnen, daß eine Verständigung (entente) zwischen beiden Ländern besteht. Ich spreche weder das Wort Bündnis (alliance) noch das Wort Militärabkommen (accord militaire) aus. Ich stelle lediglich fest, daß die russische Armee stark ist und sehr gut ausgerüstet und daß sie uns im Falle eines Konfliktes mit Deutschland angeboten (offerte) ist."

Oberst Fabry gab diesen Worten den nötigen Nachdruck durch seine Entrüstung über die deutsche Aufrüstung.

[80] Der Londoner Star war Mitte Dezember 1934 in der Lage, den angeblichen Text des russisch-französischen Bündnisses zu veröffentlichen: Dies war zunächst auf fünf Jahre abgeschlossen und im Artikel 1 als Defensivabkommen bezeichnet, das sich nach Artikel 2 gegen Deutschland und Japan richtete. Die beiden Generalstäbe sollten dauernd in direkter, drahtloser Verbindung stehen, außerdem werden beide Länder Militärmissionen entsenden. Frankreich soll Rußland sofort 400 seiner neuen Zwergkampfwagen zur Verfügung stellen. Artikel 5 legt fest, daß im Falle eines japanischen Angriffs auf Rußland Frankreich Sowjetrußland mit Kriegsmaterial bis zum Werte von vier Milliarden Franken versorgen wird, während im Falle eines deutsch-französischen Krieges Rußland sich zu Getreidelieferungen an Frankreich ebenfalls im Werte von vier Milliarden verpflichtet. Über die Entsendung von Truppen wurde vorläufig nichts vereinbart, diese Frage soll mit besonderer Berücksichtigung der Stellung Polens späteren Verhandlungen vorbehalten bleiben. Schließlich verpflichten sich Frankreich und Sowjetrußland, keinerlei Gegenseitigkeitsverträge mit Deutschland abzuschließen.

Ohne Zweifel handelte es sich um einen von russischer Seite gemachten Paktvorschlag, der die Gefahr eines russisch-japanischen Krieges für viel größer hielt als die Gefahr eines russisch-deutschen Krieges. Hierbei war dem Begriffe eines deutsch-französischen Krieges denkbar weitester, ich möchte sagen, genereller Sinn untergelegt, was einer grundsätzlichen Lösung Frankreichs aus den Bindungen des Locarno-Paktes gleichkam. Die Worte Archambauds lassen erkennen, daß Laval den russischen Vorschlag nicht eindeutig abgelehnt hat, wie er es dem Locarnopakt gegenüber schuldig gewesen wäre, sondern ihn gleichsam als Interim bis zum Abschluß eines endgültigen Bündnisses angenommen hat unter der für ihn verpflichtenden Voraussetzung, innerhalb kürzester Zeit (wohl längstens sechs Monaten) den Ostpakt zustande zu bringen! Bereits am Nachmittag des 24. November nahm Laval aufs neue die Ostpaktverhandlungen wieder auf, indem er eine neue, im Tone sehr geschmeidige Ostpaktnote nach Warschau sandte, – jedoch mit demselben negativen Erfolge wie bisher.

[81] Im Rahmen dieser geheimnisvollen Genfer Gespräche bewegte sich Laval auch mit seiner Kammerrede am 30. November: Er führte den Sinn der ganzen europäischen Politik auf die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Grenzen zurück, wer diese anders ziehen wolle, störe den europäischen Frieden; aber zweiseitige Besprechungen lehnte er ab, Deutschland solle dem gegenseitigen Beistandspakte beitreten. Es gebe zwischen Deutschland und Frankreich keine territorialen Streitfragen, Frankreich treibe keine Angriffspolitik, sondern habe nur Sorge um den Frieden. In einer besonderen Unterredung mit dem Sonderbeauftragten des Führers, Ribbentrop, am 2. Dezember, setzte Laval nochmals die Notwendigkeit des Ostpaktes auseinander.

Gewiß hatte Laval jetzt den dringenden Wunsch, Deutschland in den Ostpakt hineinzubekommen, aber nicht um Deutschlands willen, sondern weil in diesem Falle Deutschland der Schlüssel zu Polen war. Dies zu gewinnen war er verpflichtet, wenn er Rußlands Freundschaft erhalten wollte.

Daß Flandin in seiner großen Kammerrede vom 25. Februar 1936 dieses Stadium der russischen Verhandlungen nicht berührt, ist verständlich. Merkwürdigerweise enthält aber auch die sonst sehr gute Dokumentensammlung "Locarno" von Dr. Fritz Berber, Berlin 1936, keinerlei Hinweis auf diesen Vorgang, weder die Erklärung Archambauds noch die Mitteilung des Londoner Star. –

Am 4. Dezember traf Laval in Begleitung des sowjetrussischen Geschäftsträgers Rosenberg und des südslawischen Außenministers Jeftitsch in Genf zur außerordentlichen Saartagung des Völkerbundes ein. Laval konnte hier nur feststellen, daß seine eindringlichen Ostpaktbemühungen immer noch ohne Erfolg waren. Da der polnische Außenminister Beck erklärt hatte, er werde nicht nach Genf kommen, konnte es Laval nicht verborgen bleiben, daß Polen mit dem Ostpakt nichts mehr zu tun haben wollte. Das magere Ergebnis dieser Genfer Reise war ein Protokoll, das Frankreich und Rußland am 5. Dezember unterzeichneten. Hierin verpflichteten sich die beiden Staaten, mit dritten Staaten keine zweiseitigen Verträge abzuschließen, ohne vorher untereinander sich verständigt zu [82] haben. In diesem Protokoll wird zugleich die französisch-russische Entente als Kernstück des angestrebten Ostpaktes, an den man aber schon nicht mehr fest glaubt, betrachtet. Die Initiative scheint auch hier von Rußland ausgegangen zu sein: Flandin erklärte am 25. Februar 1936 vor der Kammer hierzu:

      "Anderseits war unsere Zusammenarbeit mit Moskau derart eng, daß sie Laval und Litwinow dazu geführt hatte, am 5. Dezember 1934 in Genf ein Protokoll zu unterzeichnen, das bestimmte, daß keine der beiden Regierungen eine Abmachung eingehen sollte, die geeignet wäre, den Abschluß des Ostpaktes in Frage zu stellen."

Aber Flandin vergaß zu sagen, daß hier bereits die Bündnisidee die Paktidee zu verdrängen begann.

Laval stand ganz im Banne Rußlands. Es war schon mehr russische Hörigkeit als französisches Interesse, wenn er verzweifelt um Polens Gehör warb und sich dabei geschickt als Freund Deutschlands zeigte.

In der Kammer erklärte er am 18. Dezember: Die Sowjetunion wolle doch an der internationalen Zusammenarbeit für den Frieden mitwirken. Frankreich werde die Verhandlungen über den Ostpakt fortsetzen und sei bemüht, die Zustimmung Polens zu gewinnen.

      "Wir werden sehr bald unsere Unterhaltung mit Deutschland wieder aufnehmen. Ich habe bereits gesagt, daß man Deutschland auffordern werde, mit uns und den übrigen Ländern unter den gleichen Bedingungen und mit gleichem Rechte (au mème titre) zu verhandeln. Deutschland wird aufs neue aufgefordert werden, sich diesem Kollektivpakt anzuschließen, in dessen Rahmen es versichert ist, die gleichen Garantien zu erhalten, die es den übrigen beteiligten Ländern gewähren wird... Ich werbe um den Beistand aller, die guten Willens sind. Wir haben uns um sie bemüht, wir bemühen uns auch jetzt noch um sie. Die französische Regierung wird niemals etwas tun, was Deutschland zu dem Glauben berechtigt, Frankreich wolle ihm gegenüber eine Politik der Vereinsamung treiben. Die deutsch-französische Annäherung im internationalen Rahmen ist eine wirkliche Friedensbürgschaft. Möge Deutschland davon überzeugt sein, möge es dementsprechend handeln. Und dann wird ein großer Schritt in Richtung auf die notwendige Versöhnung unserer beiden Völker [83] getan sein."

Die Resonanz dieser Worte wurde weniger aus Berlin, als aus Warschau erwartet.

Deshalb fehlte diesen Engelzungen das Gewicht der inneren Überzeugung. Wie ein granitner Fels standen das Reich und Polen in den um sie brandenden französisch-russischen Paktwogen. Sie taten Laval nicht den Gefallen, ihm das Dach auf sein Bündnis mit Sowjetrußland heben zu helfen.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra