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[Bd. 4 S. 256]
7. Kapitel: Deutschlands Eintritt in den Völkerbund.
Ein neuer Russenvertrag.

  Regierungsneubildung  

Nachdem die Locarnoverträge in London unterzeichnet worden waren, trat am 5. Dezember 1925 das Rumpfkabinett Luther zurück. Es hatte seine große Aufgabe erfüllt, die darin bestand, den deutschen Westen zu befrieden, darüber hinaus aber endlich nach langen Jahren den Augenblick in der deutschen Außenpolitik herbeizuführen, da das Deutsche Reich als gleichberechtigter Kontrahent den Westmächten gegenübertreten konnte. Dieser hochbedeutsame Wandel in der Stellung Deutschlands war, wie wir sahen, nicht ohne innere Krisen erreicht worden. Die deutschnationalen Minister waren Ende Oktober auf Drängen ihrer Partei aus der Reichsregierung wieder ausgeschieden, nicht, weil sie etwa die Locarnopolitik nicht verantworten konnten oder wollten, sondern weil die große Rechtspartei grundsätzlich diese Politik noch ablehnte. Vier Wochen später war der dem Zentrum angehörige Justizminister Frenken ebenfalls aus der Regierung ausgeschieden, da er vor seinem Gewissen nicht der in Locarno angebahnten Politik folgen konnte. Trotz dieser Gegenströmungen war es dem Reichskanzler Luther gelungen, das im Februar begonnene Werk des Sicherheitspaktes bis zum gewünschten Ende durchzuführen.

Es war allerdings nicht sehr leicht, eine neue Regierung zu bilden, welche die nun eingeschlagene Richtung der Außenpolitik fortsetzen konnte, da die innerdeutschen Spannungen stark genug waren, um eine Anpassung des Tempos in der inneren Entwicklung an das Tempo der Außenpolitik zu verhindern. Das Mißverhältnis trat bei den Versuchen der Regierungsbildung um die Jahreswende 1925/26 deutlich in Erscheinung. Volle sieben Wochen vergingen, ehe die neue Reichsregierung zustande kam. Der ehemalige Reichskanzler Fehrenbach gab den ihm erteilten Auftrag am 13. Dezember zurück, indem er die Kabinettsbildung für sich und das Zentrum ablehnte. Vier [257] Tage später gab der Demokrat Koch den ihm erteilten Auftrag zurück, da die Sozialdemokratie die Zusammenarbeit mit der Deutschen Volkspartei ablehnte. Am 20. Januar endlich gelang es dem zurückgetretenen Reichskanzler Dr. Luther, ein neues Reichskabinett zustande zu bringen, in dem weder Sozialdemokraten noch Deutschnationale vertreten waren. Es enthielt vier Volksparteiler: Luther, Stresemann (Auswärtiges), Krohne (Verkehr), Curtius (Wirtschaft), drei Demokraten: Külz (Inneres), Reinhold (Finanzen), Geßler (Reichswehr), zwei Zentrumspolitiker: Brauns (Arbeit), Marx (Justiz und Besetzte Gebiete) und einen Bayerischen Volksparteiler Stingl (Post). Am 22. Januar wurde der Regierungspräsident von Münster, der Zentrumsanhänger Dr. Haslinde, mit dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft betraut.

Die Volkspartei war in dem neuen Kabinett zahlenmäßig am stärksten vertreten, ein Beweis, daß das Reich die in Locarno begonnene Politik fortzusetzen und zu beenden entschlossen war durch die Einführung Deutschlands in den Völkerbund. Die wichtigste Aufgabe der neuen Regierung Luther war es also, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu bewirken, war dieser doch, wie wir sahen, die Voraussetzung für das Inkrafttreten des Sicherheitspaktes. Setzte doch die deutsche Regierung sehr große Hoffnungen auf ihre Mitwirkung im Bunde der Nationen. Die hauptsächlichste und wichtigste Aufgabe des Völkerbundes mußte es sein, wenn er nicht sich und sein ganzes Werk Lügen strafen wollte, die allgemeine Abrüstung der Staaten durchzuführen. Deutschland hatte auf Grund des Versailler Vertrages diese Abrüstung bereits durchgeführt. Welche Menschenmassen hielten aber noch die anderen Völkerbundsmitglieder unter Waffen! Frankreich verfügte über eine kriegsstarke Armee von 5 Millionen, Italien von 3½ Millionen, Polen hatte 2 Millionen, die Tschechoslowakei 1 Million und sogar das kleine Belgien über eine halbe Million ausgebildeter Soldaten. Hier, auf dem Gebiete der militärischen Abrüstung, eröffneten sich für Deutschland große Aussichten tatkräftiger Mitarbeit im Völkerbunde.

Fast schien es, als habe sich der Völkerbund im Anschluß [258] an Locarno auf seine ursprüngliche Aufgabe wieder einmal besonnen. Ende 1925 wurden an alle Regierungen, die dem Völkerbunde angehörten, Fragebogen über den militärischen Stand und etwaige Abrüstung versandt. Gleichzeitig gingen von Genf Einladungen zur Konferenz der Vorbereitenden Abrüstungskommission heraus. Hierzu wurde am 12. Dezember 1925 auch die deutsche Regierung vom italienischen Außenminister Scialoja im Namen des Völkerbundsrates eingeladen. Die Völker und die Regierungen erhielten tatsächlich von Genf den Eindruck, als wolle man dort nun ernstlich die Lösung des schwersten aller Probleme, des Entwaffnungsproblems, versuchen.

Inzwischen ließ es die neue Reichsregierung auch ihrerseits nicht an der nötigen Initiative fehlen, um ihren Eintritt in den Völkerbund vorzubereiten. Am 6. Februar 1926 waren die deutschen Staats- und Ministerpräsidenten in Berlin zusammengekommen, um die mit Deutschlands Eintritt in den Völkerbund zusammenhängenden Fragen zu erörtern. Einige Bedenken von seiten einzelner Länder wurden noch laut. Vor allem bereitete der berühmte Artikel 16 Sorge. Schließlich aber herrschte die einmütige Auffassung, daß von seiten der Länder alles geschehen werde, was zur Stärkung von Deutschlands Stellung im Völkerbund als geeignet erscheine, falls die Reichsregierung den Eintritt beschließe.

Deutschlands
  Aufnahmegesuch in Genf  

Nachdem die deutsche Regierung diese Rückversicherung erhalten hatte, schickte der Außenminister Dr. Stresemann unverzüglich das Aufnahmegesuch nach Genf, welches am 10. Februar durch den deutschen Generalkonsul Aschmann dem Generalsekretär des Völkerbundes, Sir Eric Drummond, überreicht wurde und folgenden Wortlaut hatte:

      "Herr Generalsekretär! Unter Hinweis auf das deutsche Memorandum an die Regierungen der Ratsmächte vom September 1924, auf die Ihnen, Herr Generalsekretär, übersandte deutsche Note vom 12. Dezember 1924 und auf die Antwort des Völkerbundsrates darauf vom 14. März 1925, sowie in Bezugnahme auf die in Abschrift hier beigefügte Note der übrigen an den Verträgen von Locarno beteiligten Regierungen vom 1. Dezember 1925 beehre ich mich, gemäß Artikel 1 der Völker- [259] bundsatzung namens der deutschen Regierung hiermit die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu beantragen. Ich bitte Sie, diesen Antrag baldmöglichst auf die Tagesordnung der Bundesversammlung setzen zu wollen."

Daraufhin weilte Sir Eric Drummond vom 15. bis 17. Februar in Berlin, um die Förmlichkeiten bei der Aufnahme Deutschlands zu regeln und Deutschlands Beteiligung am Völkerbundssekretariat zu erörtern.

Am 8. März versammelte sich der Völkerbundsrat in Genf zu seiner 39. Tagung. Hauptpunkt der Tagesordnung war die Aufnahme Deutschlands. Die Aufnahmekommission des Rates genehmigte drei Tage später den vom Unterausschuß vorgelegten Bericht hierüber und stimmte ihm einstimmig ohne jede Diskussion zu, da Deutschland sämtliche Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt habe. Der Antrag sei ordnungsmäßig gestellt, die militärischen Bedingungen seien erfüllt, und Deutschland habe die aufrichtige Absicht bewiesen, seinen Verpflichtungen aus dem Friedensvertrage nachzukommen.

Für Deutschland kam es nun vor allem darauf an, einen ständigen Ratssitz zu erhalten. Ohne einen solchen hatte die Mitgliedschaft des Völkerbundes keinen Wert. Die deutsche Regierung forderte also, wie wir sahen, bereits früher beharrlich einen ständigen Ratssitz, und er war ihr auch von den übrigen Ratsmächten schon gewissermaßen bewilligt, in Aussicht gestellt worden. Auch in Locarno hatten England, Frankreich und Italien den Deutschen einen ständigen Ratssitz zugesichert. Die deutsche Forderung hatte einen sehr schwerwiegenden politischen und moralischen Hintergrund. Wurde doch, wenn Deutschland ständig im Rate vertreten war, gleichsam seine Stellung als europäische Großmacht anerkannt. Andererseits bildete der Umstand, daß Deutschland Seite an Seite mit England, Frankreich, Italien an der Leitung des Bundes beteiligt war, die Anerkennung der Gleichberechtigung, die einmal die materielle Grundlage der Locarnoverträge war, dann aber auch ein Surrogat für den nicht erreichten Widerruf der Schuldlüge. Politisch und moralisch konnte also Deutschland nicht auf den ständigen Ratssitz verzichten. Dieser [260] ständige Ratssitz mußte aber neu geschaffen werden. Dieser Umstand machte wiederum eine Neuorganisation des Rates nötig, der bisher aus vier ständigen und sechs nichtständigen (wechselnden) Mitgliedern bestand, und hieraus ergaben sich Komplikationen.

  Schwierigkeiten in Genf  

Dr. Luther und Dr. Stresemann waren persönlich in Genf anwesend. Da mußten sie es erleben, daß sich gegen ihre Forderung eines ständigen Ratssitzes ein Veto erhob: Brasilien protestierte. Der brasilische Vertreter de Mello Franco forderte ebenfalls einen ständigen Ratssitz für sein Land, das bereits einen nichtständigen Sitz im Bundesrate innehatte, oder, wenn ihm der nicht gewährt werde, müsse er auch einem ständigen Ratssitz Deutschlands widersprechen. Es sei eine ungerechtfertigte Bevorzugung Europas, das bereits drei ständige Ratssitze innehabe, wozu nun als vierter der deutsche kommen solle, während die amerikanischen Staaten nicht einen einzigen hätten. Mello Franco bemühte sich zwar, den Deutschen zu erklären, sein Verhalten sei keine feindselige Handlung gegen Deutschland. Aber die Deutschen waren verstimmt. Zeigte es sich doch, daß hinter Brasilien auch noch Spanien und Polen standen und einen Ratssitz forderten, wenn Deutschland einen solchen erhalte! Der Völkerbundsrat suchte diesen Konflikt durch eine Vermehrung der nichtständigen Ratssitze beizulegen. Einen hierauf bezüglichen Kompromißvorschlag unterbreitete Chamberlain der deutschen Abordnung. Dr. Luther aber erklärte dem englischen Minister, er könne dem Vorschlage nicht beistimmen, ohne daß vorläufig erörtert würde, wem die vermehrten Sitze zufielen. Deutschland müsse grundsätzlich darauf bestehen, daß ihm die in Locarno gemachte Zusage der Aufnahme in den Rat zunächst erfüllt werde. Um Probleme des Völkerbundes und dessen interne Streitigkeiten könne es sich nicht gut kümmern, bevor es nicht durch seine Zugehörigkeit zum Rat dazu befugt und verpflichtet sei.

Der Völkerbundsrat befand sich in einer unangenehmen Zwangslage. Auf der einen Seite protestierte Brasilien, sekundiert von Spanien und Polen, gegen Deutschlands ständigen Ratssitz, auf der anderen Seite bestand Deutschland auf Er- [261] füllung der ihm gemachten Versprechen, ohne sich veranlaßt zu sehen, einem Kompromiß stattzugeben. Zunächst versuchten die Schweden zu vermitteln. Sie teilten den Deutschen offiziell mit, sie beabsichtigten auf den gegenwärtig von ihrem Lande eingenommenen Ratssitz zu verzichten. Dadurch würde den Polen der Weg in den Rat frei gemacht, und der polnische Widerstand gegen einen deutschen Ratssitz würde beseitigt sein. Kaum aber hatte die litauische Abordnung von dem schwedischen Vorschlag Kenntnis erhalten, als sie auch schon scharf einem polnischen Ratssitz widersprach, da Polen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei, insbesondere Wilna nicht geräumt habe. Um nicht noch weitere Verwicklungen hervorzurufen, ließ Schweden seinen Plan fallen.

Der hartnäckige Mello Franco aber benutzte den neuen Konflikt, um in der Ratsbesprechung aufs neue das brasilische Veto gegen den deutschen Ratssitz anzumelden. Jetzt versuchten die an der außerordentlichen Völkerbundstagung teilnehmenden amerikanischen Delegationen eine Beilegung anzubahnen. Die Vertreter von Venezuela, Chile, Kolumbien, Uruguay, Salvador, Nikaragua, Paraguay, San Domingo, Panama, Kuba und Guatemala beschlossen nach einem, wie es heißt, im Geiste größter Herzlichkeit und Solidarität gehabten Meinungsaustausch und nach Entgegennahme der Erklärungen von Guani und de Mello Franco, Brasilien gegenüber die größte Sympathie zu bekunden, doch dabei auch den Wunsch auszusprechen, daß Brasilien durch die ihm gut scheinenden Mittel die Herbeiführung der Einstimmigkeit des Völkerbundsrates erleichtern möge, damit dieser die Schwierigkeiten seiner Beschlußfassung überwinden könne. De Mello Franco solle im Völkerbundsrat der Stimmführer der einmütigen Überzeugung der amerikanischen Delegationen sein, daß den amerikanischen Staaten im Völkerbunde eine größere und gerechtere Vertretung gewährt werden solle. Dieser etwas gewundene Beschluß billigte zwar die Haltung Brasiliens, brachte aber doch den Wunsch zum Ausdruck, Brasilien möge im gegenwärtigen Augenblick durch nachgiebige Haltung die Tätigkeit des Rates erleichtern.

Jedoch Mello Franco gab nicht nach, eine Einigung schien [262] ausgeschlossen. So beschlossen denn am 16. März die Ratsmitglieder in geheimer Sitzung, das deutsche Aufnahmegesuch bis zum September zu vertagen. Für diesen Antrag wurden sieben Stimmen abgegeben, dagegen stimmten Belgien, Schweden und Japan. Dieser Abschluß bedeutete zweifellos eine Gefahr für das Werk von Locarno. Die Vertreter Deutschlands, Belgiens, Frankreichs, Italiens und Englands traten infolge dieser Besorgnis zusammen und stellten ausdrücklich fest, daß das Friedenswerk von Locarno durch diese Wendung nicht beeinträchtigt werden solle. Man wolle daran festhalten, es aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln. Den Deutschen gab man die Versicherung, Deutschland werde zwar noch nicht formell, so doch aber tatsächlich als Mitglied des Völkerbundes betrachtet.

Am folgenden Tage fand die Vollversammlung des Völkerbundes statt. 48 Länder nahmen hieran teil. Eine tiefe Mißstimmung herrschte, daß Deutschlands Aufnahme noch nicht vollzogen sei. Einstimmig wurde die Vertagung der Aufnahme auf den September beschlossen. Briand brachte eine Entschließung ein, die angenommen wurde:

      "Die Völkerbundsversammlung bedauert, daß die eingetretenen Schwierigkeiten sie verhindert haben, das ihr gestellte Ziel zu erreichen, und spricht den Wunsch aus, daß diese Schwierigkeiten bis zur ordentlichen Völkerbundsversammlung vom September überwunden sein mögen, um zu diesem Zeitpunkt Deutschland in den Völkerbund aufnehmen zu können."

Im Anschluß hieran setzte am 18. März der Völkerbundsrat auf Stresemanns Vorschlag in geheimer Sitzung eine Kommission zum Studium für die Reorganisation des Völkerbundsrates ein. Die Kommission sollte aus 15 Mitgliedern bestehen: je einem Vertreter der Ratsmächte sowie je einem Vertreter Deutschlands, der Schweiz, Polens, Argentiniens und Chinas. Es sollte der von Chamberlain den Deutschen unterbreitete Kompromißvorschlag beraten werden: Die Vermehrung der ständigen Ratssitze von vier auf fünf durch Deutschlands Aufnahme durch eine Vermehrung der nichtständigen Sitze von sechs auf neun zu ergänzen. Die deutsche Abordnung aber reiste mit nur halbem Erfolge nach Hause.

Deutsche in
  Völkerbundskommissionen  

[263] Der Genfer Mißerfolg behinderte allerdings nicht die deutsche Mitarbeit in den beiden Völkerbundskommissionen zum Studium der Reorganisation des Rates und der Abrüstung. Die erste Kommission trat am 10. Mai zusammen und konnte schon nach sieben Tagen ihren Reformplan vorlegen. Ausgehend von der Tatsache, daß Deutschland einen ständigen Ratssitz erhalten werde, sollten die nichtständigen Sitze von sechs auf neun vermehrt werden, so daß der Rat im ganzen nicht mehr aus zehn, sondern aus vierzehn Mitgliedern bestehen würde. Die nichtständigen Ratsmitglieder sollten auf die Dauer von drei Jahren gewählt werden. Jedes Jahr sollte ein Drittel ausscheiden und durch Neuwahlen ergänzt werden. Die Abrüstungskonferenz, die vorsichtigerweise als "vorbereitende" bezeichnet wurde, eröffnete am 18. Mai ihre Sitzungen in Genf: Sie war, wie schon gesagt, nach Abschluß der Locarnoverhandlungen einberufen worden, da jetzt genügend Sicherheit vorhanden zu sein schien, um auch die Abrüstungsfrage einer Lösung entgegenzuführen. So leiteten die Ideen des Genfer Protokolls über die Konferenz von Locarno zur Vorbereitenden Abrüstungskonferenz im Frühjahr 1926. Als deutscher Vertreter nahm Graf Bernstorff an ihr teil. Er erklärte: Die Abrüstung Deutschlands sollte nur das Vorspiel für eine planmäßige allgemeine Abrüstung sein. Nachdem nun durch die Locarnoverträge die Frage der Sicherheit und Schiedsgerichtsbarkeit wesentlich gefördert worden sei, sei jetzt der Zeitpunkt zur Erreichung der allgemeinen Abrüstung gekommen. Ohne eine solche werde der Völkerbund niemals erfolgreich arbeiten können. Deutschland, das seine Verpflichtung zur Abrüstung so vollständig erfüllt habe, dürfe nun mit gutem Rechte erwarten, daß die anderen Nationen ihm auf diesem Wege folgen würden, woraus sich für Europa und die ganze Welt ein Zustand dauernder Befriedung und gegenseitigen Vertrauens ergeben werde. –

Gewiß, die Durchführung der allgemeinen Abrüstung war die erste und hauptsächlichste Aufgabe des Völkerbundes, und Deutschland, das auf diesem Wege vorangegangen war, erblickte seine Haupttätigkeit beim Völkerbunde darin, die Abrüstung der anderen zu fordern und zu erreichen. Die [264] Deutschen stützten sich auf drei völkerrechtliche Vorgänge zur Begründung ihrer Abrüstungsforderungen: Artikel 8 des Völkerbundspaktes bestimmte, daß die nationale Sicherheit und die geographische Lage der Staaten für ihre Abrüstung maßgebend sein solle. Diese Bestimmung enthielt Einschränkungen, die den einer Abrüstung ablehnend gegenüberstehenden Staaten Tür und Tor öffneten, Ausflüchte zu finden. Präziser war die Erklärung in der Präambel zum fünften Teil des Versailler Vertrages, daß die Deutschland auferlegte Abrüstung der Vorläufer der Abrüstung aller anderen Staaten sein sollte. Schließlich hatte Clemenceau in seiner Note vom 16. Juni 1919 ausdrücklich erläutert und einwandfrei festgestellt, daß die deutsche Abrüstung der Beginn der allgemeinen Abrüstung sein sollte. Allerdings war das deutsche Gewicht nicht schwer genug, um mit dem Grundsatz der gleichen Rechte und gleichen Pflichten von den anderen freiwillige Ausführung dessen zu verlangen, das den Deutschen durch den Versailler Vertrag aufgezwungen worden war. Noch gab es in der Welt zu viele drohende Gefahren, als daß der Geist des Vertrauens die Liebe für die Soldaten überwunden hätte. Die Fragen nach der Wehrkraft eines Staates waren höchst heikler Natur, und welcher Staat sollte so vertrauensselig sein, seine Verschwiegenheit auf diesem Gebiete den anderen preiszugeben? Die Fragen nach den militärischen Dingen waren eine der unkontrollierbarsten Angelegenheiten, und den Argwohn, den die ehemaligen Alliierten in dieser Sache gegen Deutschland hatten, hatten sie auch untereinander. Am 25. Mai beendete die "Vorbereitende" Abrüstungskonferenz in aller Stille ihre Tätigkeit, nachdem sie eine militärische und eine wirtschaftliche Unterkommission zur Prüfung der Abrüstungsfrage eingesetzt hatte. –

Stresemann wurde nach seiner Rückkehr von Genf heftig von den Deutschvölkischen, zu denen auch der völkische Flügel der Deutschnationalen hielt, und den Kommunisten angegriffen. Die Deutschvölkischen sahen in den Vorgängen ein schwächliches Verhalten, eine Niederlage des Reiches. Sie wiesen auf Bismarcks starke Machtpolitik hin, vergaßen aber, daß dieser größte deutsche Staatsmann über ein ganz erheb- [265] liches Maß von Klugheit verfügte. Selbst ein Bismarck hielt es unter wesentlich günstigeren Umständen für ratsamer, der preußischen Kapitulation in Olmütz vor Österreich zuzustimmen, als sich ihr zu widersetzen! Die Stärke und die Erfolge einer Politik liegen nicht im unbedenklichen Realisieren eines vermeintlichen Kraftüberschusses, sondern im vorsichtigen Abwägen der allseitigen Machtverhältnisse. Erst aus diesem Abwägen ergibt sich schließlich die Feststellung, auf welcher Seite nun tatsächlich der Kraftüberschuß zu finden ist. Die Haltung der deutschen Delegation in Genf entsprach der Lage Deutschlands; das Reich bestand auf seinem ständigen Ratssitz, dessen materielle und moralische Bedeutung ich oben klargelegt habe. Andererseits kamen die Deutschen den Westmächten entgegen, indem sie schließlich nach anfänglicher Ablehnung selbst die Anregung gaben, die Ratssitze zu vermehren. Die Schuld, daß Deutschlands Eintritt verzögert wurde, lag nicht auf der Seite des Reiches.

Anders die Kommunisten. Sie wollten grundsätzlich nichts vom Völkerbund wissen. Sie akzeptierten, wie übrigens auch sonst, so in diesem Punkte vollkommen die Ansicht der Moskauer Staatsmänner, die im Völkerbund von Genf nichts weiter als einen internationalen Konzern von Großkapitalisten, von Proletarierausbeutern sahen, eine ungeheure Gefahr für das "werktätige" Volk und für den proletarischen Völkerbund der Sowjetunion in Moskau. Diesem kapitalistischen Völkerbunde sollte nun auch Deutschland beitreten, dieses Land, welches ursprünglich zu den größten Hoffnungen der Weltrevolution berechtigt hatte! Die deutschen Kommunisten faßten die deutsche Außenpolitik als eine Herausforderung an das gesamte Proletariat auf und drängten, je mehr die bürgerliche Regierung der Republik nach Genf drängte, um so mehr nach Moskau.

  Neuer Russenvertrag  

In der Tat lösten die Genfer Verhandlungen eine starke Reaktion in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau aus. Der Anstoß, den die deutsch-russische Entwicklung im Frühjahr 1926 erhielt, ging gleichmäßig von beiden Ländern aus. Deutschland hütete sich, sowohl in Locarno wie in Genf einseitige Westbindungen einzugehen, ohne gleichzeitig die [266] Freundschaft mit Rußland zu erneuern und zu befestigen. Rußland andererseits fürchtete, Deutschland könne ganz von den Westmächten ins Schlepptau genommen und schließlich gegen die Sowjetunion verwendet werden. Die Bolschewisten hatten eine große Angst, ihren einzigen Freund in Europa seit dem Tage von Rapallo, das Deutsche Reich, zu verlieren. So kam es, daß auch jetzt, im März und April, die deutsch-russischen Beziehungen eine neue Festigung erfuhren.

Die Verhandlungen fanden ihren Niederschlag im Deutsch-Russischen Vertage vom 24. April 1926, der folgenden Wortlaut hatte.

      "Artikel 1. Die Grundlage der Beziehungen zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Räterepubliken bleibt der Vertrag von Rapallo. Die deutsche Regierung und die Union der Sozialistischen Räterepubliken werden in freundschaftlicher Fühlung miteinander bleiben, um über alle ihre beiden Länder gemeinsam berührenden Fragen politischer und wirtschaftlicher Art eine Verständigung herbeizuführen.
      Artikel 2. Sollte einer der vertragschließenden Teile trotz friedlichen Verhaltens von einer dritten Macht oder von mehreren Mächten angegriffen werden, so wird der andere vertragschließende Teil während der ganzen Dauer des Konfliktes Neutralität bewahren.
      Artikel 3. Sollte aus Anlaß eines Konfliktes der in Artikel 2 erwähnten Art oder auch zu einer Zeit, in der sich keiner der vertragschließenden Teile in kriegerischen Verwicklungen befindet, zwischen dritten Mächten eine Koalition zu dem Zwecke geschlossen werden, gegen einen der vertragschließenden Teile einen wirtschaftlichen oder finanziellen Boykott zu verhängen, so wird sich der andere vertragschließende Teil einer solchen Koalition nicht anschließen.
      Artikel 4. Dieser Vertrag soll ratifiziert und die Ratifikationsurkunden sollen in Berlin ausgetauscht werden. Der Vertrag tritt mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft und gilt für die Dauer von fünf Jahren. Die beiden vertragschließenden Teile werden sich rechtzeitig vor Ablauf dieser Frist über die weitere Gestaltung ihrer politischen Beziehungen verständigen. Zu Urkund dessen haben die Bevoll- [267] mächtigten diesen Vertrag unterzeichnet, ausgefertigt in doppelter Urschrift in Berlin am 24. April 1926."

Was der Vertrag nicht sagte, das sagte ein beigefügter Notenwechsel zwischen Stresemann und Krestinski. Beide Länder wollen sämtliche zwischen ihnen auftauchenden Fragen von dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Erhaltung des allgemeinen Friedens behandeln, und die Regierungen sind deshalb entschlossen, einen Vertrag über Schiedsgerichts- und Vergleichsverfahren zu schließen. Deutschlands Eintritt in den Völkerbund sei kein Hindernis für die freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland. Der Völkerbund erstrebe einen friedlichen und gerechten Ausgleich der internationalen Gegensätze. Sollte in ihm eine Bewegung gegen Rußland im Gange sein, werde Deutschland dem mit allen Kräften entgegentreten. Die grundsätzliche Einstellung Deutschlands zu Rußland könne auch nicht durch loyale Beobachtung der deutschen Verpflichtungen aus Artikel 16 und 17 der Völkerbundsakte beeinträchtigt werden.

Tschitscherin, der russische Volkskommissar, telegraphierte von Moskau, Rußland fasse den Vertrag auf als ein Werkzeug des Friedens, das zur Befestigung des Weltfriedens beitragen werde. Der Tag von Rapallo lebe in diesem Vertrage weiter und übe einen wohltuenden Einfluß auf die allgemeine Lage aus. Der wohltuende Einfluß machte sich für Rußland auch noch in anderer Weise bemerkbar. Bereits im Herbst 1925 hatte Deutschland den Russen eine Anleihe von 100 Millionen gegeben, die aber Tschitscherin seinerzeit für wirtschaftlich wertlos erklärte, denn erstens sei sie zu gering und zweitens müsse sie kurzfristig zurückgezahlt werden. Im Frühjahr 1926 war Deutschland gebefreudiger. Die Sowjetunion bekam von deutschen Großbanken einen Kredit von 300 Millionen Mark für deutsche Industrielieferungen nach Rußland. Das Reich, die Länder und die deutschen Lieferanten übernahmen die Ausfallbürgschaft für den Russenkredit (105,75 und 120 Millionen). Die Form des Kreditgeschäftes, welches unter der Bedingung abgeschlossen wurde, daß der gewährte Kredit zur Bezahlung von nur in Deutschland gekauften Waren Verwendung finden sollte, schien der deutschen [268] Regierung in hohem Maße geeignet, die stockenden und unbefriedigenden Wirtschaftsbeziehungen zum europäischen Osten in Fluß zu bringen. Allerdings standen weite Kreise des deutschen Volkes dem russischen Geschäft skeptisch gegenüber. Man wies darauf hin, daß die Russen ihren Roggen mit Verlust verkauft hätten, daß sie sich gegen einen wirtschaftlichen Aufbau durch Ausländer und ausländisches Kapital sträubten. Von 1500 am 1. Januar 1926 vorliegenden ausländischen Konzessionen seien nur 117 bewilligt worden. Es machte sich gegen diese Art Wirtschaftspolitik Deutschlands ein gewiß berechtigtes Mißtrauen bemerkbar. Immerhin hatte sich der russische Außenhandel 1926 gegenüber 1925 mehr als verdoppelt, eine Tatsache, die zweifelsohne zum guten Teil auf den Deutschlandkredit zurückzuführen war.

Doch nun zurück vom russischen Zwischenspiel zum Völkerbunde! In Deutschland war die Regierung Luther am 12. Mai zurückgetreten, und fünf Tage später bildete Marx eine neue Regierung, welche sämtliche bisherigen Minister enthielt. Es war also nur ein Wechsel m der Person des Reichskanzlers eingetreten. Das System blieb davon unberührt. Marx verfolgte die Linie der Politik Luthers weiterhin. – Am 10. Juni meldete Brasilien seinen Austritt aus dem Völkerbundsrate an. Die 17 amerikanischen Staaten hätten nicht einen ständigen Ratssitz inne, während Europa drei besitze, wozu nun als vierter noch der deutsche käme. Diese Benachteiligung Amerikas im Völkerbunde könne Brasilien nicht verantworten. Zwei Tage später telegraphierte der brasilische Außenminister Felix Pacheco an den Generalsekretär des Völkerbundes, daß Brasilien aus dem Bunde ausscheide. Gelegentlich einer Feier in Panama am 27. Juni erklärte Pacheco hierzu folgendes:

      "Erst wenn der Völkerbund seinen schweren Fehler einsieht und den Weg zu einer wahrhaft demokratischen und universalen Institution findet, und erst, wenn alle übrigen amerikanischen Staaten ohne Ausnahme ihren Beitritt zu diesem neuen Völkerbund beschlossen haben – erst dann wird Brasilien die Möglichkeit prüfen, ob in Anbetracht der neu geschaffenen Lage es ihm seine amerika- [269] nischen und seine pazifischen Interessen erlauben, wieder in den Völkerbund zurückzukehren. Bis zu diesem fernen Zeitpunkt wird sich Brasilien vom Völkerbunde fernhalten."

Septembertagung
  des Völkerbundes  

Anfang September versammelten sich die Mitglieder des Völkerbundes aufs neue in Genf. Auf Antrag des japanischen Delegierten, Grafen Ishii, nahm der Rat eine Entschließung an, wonach er auf Grund Artikels 4 der Satzung beschloß, Deutschland sei vom Augenblicke seines Eintrittes an als ständiges Mitglied des Rates zu bezeichnen. Die Zahl der nichtständigen Sitze sollte, wie es das Ergebnis der Studienkommission war, von sechs auf neun erhöht werden. Am 8. September trat die Vollversammlung zusammen, an der sich 48 Nationen beteiligten. Der Schweizer Bundesrat Motta erklärte einleitend, die Frage der Aufnahme Deutschlands sei nach der Vorbehandlung in der Märzversammlung jetzt überreif. In seinen Augen sei Deutschlands Aufnahme von Anfang an eine Notwendigkeit für die Entwicklung des Völkerbundes gewesen, mit ihr werde zugleich einer der heißesten Wünsche der Schweiz in Erfüllung gehen. Mit der Aufnahme Deutschlands werde auch eine der stärksten Grundlagen für den Ausbau des Schiedsgerichtswesens geschaffen. Wenn die Großmächte ständige Ratssitze beanspruchen, müsse sich auch Deutschland unter ihnen befinden. Darauf nahm die Versammlung einstimmig Deutschlands Aufnahme an. Ebenfalls stimmte sie einmütig der Schaffung des ständigen deutschen Ratssitzes und der Vermehrung der nichtständigen auf neun zu. So umfaßte der Völkerbundsrat nunmehr fünf ständige und neun unständige Mitglieder. – Spanien jedoch folgte einige Tage später dem Beispiele Brasiliens und erklärte seinen Austritt aus dem Völkerbunde, da es mit der Reorganisation des Rates in bezug auf die ständigen Ratssitze nicht einverstanden sei.

  Deutschlands Aufnahme  

Der Generalsekretär des Völkerbundes telegraphierte die erfolgte Aufnahme an die Reichsregierung in Berlin. Von Stresemann geführt, traf die deutsche Abordnung am 10. September in Genf ein. In der Vollversammlung hielt der deutsche Außenminister eine Rede, worin er auf die wirtschaftliche und kulturelle Notwendigkeit hinwies, daß die [270] Völker in Frieden zusammenarbeiten. So verbinde sich Nation und Menschheit auf geistigem Gebiete, so könne sie sich auch verbinden in politischem Streben, wenn der Wille da sei, in diesem Sinne der Gesamtentwicklung zu dienen. Die Teilnahme an der Gemeinschaft der Völker sei nicht gegen das nationale Bewußtsein gerichtet, sie solle aber verhindern, daß sich die nationalen Kräfte feindselig gegeneinanderkehren. Deutschland habe schon vor seinem Eintritt in den Völkerbund die Initiative zum friedlichen Zusammenwirken der Nationen ergriffen. Die deutsche Regierung sei entschlossen, diese Politik mit aller Entschiedenheit weiterzuverfolgen. Möge es gelingen, besonders der allgemeinen Abrüstung näherzukommen. Deutschland scheide alle Sympathien und Antipathien aus, die es hatte, soweit der Völkerbund der Vollstrecker der Verträge von 1919 war. Es wünsche, mit allen im Völkerbunde und seinem Rate vertretenen Nationen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens zusammenzuarbeiten. Noch habe der Völkerbund sein Ziel nicht erreicht, alle Völker der Welt zu umfassen. Bedauerlich sei, daß Brasilien dem Bunde den Rücken gekehrt und Spanien seinen Austritt angemeldet habe. Erst durch die Universalität werde der Bund vor jeder Gefahr geschützt, seine politische Kraft zu anderen Diensten als zu reinen Friedenszwecken einzusetzen. "Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe Freiheit, Friede und Einigkeit vollziehen! Daran freudig mitzuarbeiten, ist Deutschlands fester Wille!"

Stresemann vor dem Völkerbund am 10. September 1926.
[Bd. 4 S. 208b]      Stresemann vor dem Völkerbund am 10. September 1926.      Photo Scherl.

Darauf bestieg Briand das Rednerpult zu einer kurzen Rede, welche folgende bezeichnenden Stellen enthielt:

      "Ja, meine Herren, es ist nun zu Ende zwischen Deutschland und Frankreich mit dem blutigen und schmerzlichen Zusammenschießen, es ist zu Ende mit dem Krieg zwischen uns! Kein Krieg mehr, keine blutige Schlacht mehr zur Regelung von Konflikten, die unter uns entstehen könnten. Wie einzelne Menschen vor den Richter kommen, um ihre Streitfragen zu regeln, so stellen wir beide uns jetzt vor das Schiedsgericht, ohne Kanonen und ohne Maschinengewehre, in Frieden und Freundschaft, um das miteinander auszutragen, was uns an [271] Interessen trennen könnte. Die Vernunft hat es nicht immer leicht, sich geltend zu machen. Was Kraft angeht, haben wir es wirklich nicht mehr nötig, uns nach allem, was vorgefallen ist, gegenseitig noch Demonstrationen zu machen. Jetzt wollen wir uns einmal auf friedlichem Gebiete treffen."

Die Märzverhandlungen hatten immerhin das Ergebnis gehabt, daß die deutsche Delegation von Genf weggegangen sei mit dem bestimmten Gefühl, daß sie in Tat und Wahrheit bereits in den Völkerbund aufgenommen sei und daß nur unglückselige Zwischenfälle ihre rechtliche Aufnahme verhinderten. Zu den Deutschen gewandt, erklärte Briand mit lauter Stimme: "Ich schwöre Ihnen, daß Sie an mir stets einen loyalen Mitarbeiter finden werden." Allerdings hätten er und Stresemann Schwierigkeiten in ihren Ländern zu überwinden. Aber aus diesem Saale werde der europäische Geist emporsteigen, wenn sich hier alle bemühen, ebenso wie Stresemann und er selbst es soeben gelobt hätten, wirklich alle Ereignisse in friedlichem Geiste aufzufassen, anstatt immer an Krieg und Kriegsgeschrei zu denken und sich von den nationalistischen Erregungen, die so leicht hervorzurufen seien, zum Kampf gegeneinander treiben zu lassen. – Nach dieser Rede brachte der kanadische Delegierte Foster drei Hochs auf Briand aus.

Darauf wurden die deutschen Delegierten in die sechs Kommissionen des Völkerbundes verteilt: Stresemann in die Kommission für juristische und Organisationsfragen, von Rheinbaben in die Kommission für technische Organisation, Graf Bernstorff in die Militär- und Abrüstungskommission, Dr. Kaas in die Budgetkommission, Dr. Breitscheid in die Organisation für soziale Fragen, Staatssekretär Schubert in die Kommission für politische Fragen. Einige Tage später fanden die Neuwahlen der nichtständigen Ratsmitglieder statt. Kolumbien, Polen, Chile, San Salvador, Belgien, Rumänien, Holland, China und die Tschechoslowakei nahmen von nun an die Ratssitze ein. So vereinigte sich Deutschland jetzt in Genf mit seinen ehemaligen Gegnern zu gemeinsamer politischer Arbeit.

Jenen Genfer Septembertagen kommt in der deutschen Geschichte eine gewisse Bedeutung zu: die in Versailles [272] ausgesprochene Ächtung des deutschen Volkes war aufgehoben worden. Zwar nicht durch den Widerruf der Kriegsschuldlüge, nicht durch Befreiung Deutschlands von den ungerechten Lasten der Wiedergutmachung, nicht durch Rückgabe der Kolonien und der ehemals deutschen Gebiete in Mitteleuropa, nicht durch die Entwaffnung der anderen. Diese unseligen Folgen des Versailler Diktates lasteten auch weiterhin auf Deutschland. Besonders der Verlust des polnischen Korridors, über den noch nicht das letzte Wort gesprochen war, blieb eine offene Wunde, die das deutsche Volk dauernd schmerzte. Aber das Reich war unter den durch den Krieg völlig veränderten Verhältnissen wieder in die Politik der Großmächte eingetreten. Es war aus seiner politischen Vereinsamung herausgetreten. Jetzt erst waren wahrhafte Friedensbeziehungen wiederhergestellt worden, die seit zwölf Jahren zerrissen waren. Der Trugschluß der deutschen Sozialdemokratie von der sozialistischen Verbrüderung aller Völker 1918 war völlig ad absurdum geführt worden. Acht furchtbare Jahre hat es gedauert, bis es unter unsäglichen Anstrengungen, unter Überwindung starker innerer und äußerer Gegensätze der bürgerlichen Reichsregierung gelang, sich und dem Reiche den gebührenden Platz zwischen den ehemals feindlichen Großmächten zu erringen. Die Welt hatte sich durch die sozialistische Revolution Deutschlands nicht um ein Haar geändert. England, Frankreich, Belgien, Italien blieben die bourgeoisen, kapitalistischen Staaten, die sie schon früher waren, und sie sprachen die Acht aus über ein Deutschland, das sich von sozialistisch-proletarischen Tendenzen leiten ließ. Nachdem Deutschland erst unzweifelhafte Beweise, die allerdings schwere Opfer kosteten, seiner Rückkehr zum traditionell konsolidierten Gesellschaftssystem Europas gebracht hatte, wurde es von den anderen Mächten als gleichberechtigt anerkannt.

Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß psychologisch der Haß der siegreichen Westmächte, besonders Englands, gegen Deutschland unmittelbar nach Kriegsende gleichbedeutend war mit dem Haß gegen die Sozialdemokratie, deren Ausbreitung in Europa man fürchtete. Andererseits benutzte Frankreich politisch-logisch die verhaßte deutsche Sozial- [273] demokratie als willkommenes und williges Werkzeug, um die furchtbare Macht des nationalen Deutschland zu brechen. Jetzt war die Vorherrschaft der Sozialdemokratie und ihr ungleicher Bruder, der Kommunismus, in Deutschland überwunden, und Deutschland erschien den europäischen Mächten als gesellschaftlich gleichgearteter Staat, der keine gefährlichen revolutionären Tendenzen mehr verbreiten konnte; vor allem auch als ein Land, das durch sein intensives kapitalistisches Wirtschaftssystem unbedingt in den Kreis der Weltwirtschaftsmächte hineingezogen werden mußte. Andererseits war auch Frankreichs Sonderwunsch in Erfüllung gegangen: das nationale, wehrhafte Deutschland war durch die Entwaffnung gebrochen, es bildete mit seinen 60 Millionen keine militärische Gefahr mehr für den westlichen Nachbar mit seinen 40 Millionen. Es war kein seelisches Opfer, welches das hochgerüstete Frankreich brachte, als Briand das entwaffnete Deutschland im Völkerbund begrüßte. Ein gewisser Ausgleich zwischen der nationalen und sozialistischen Kraft Deutschlands, durch militärische Entwaffnung und durch Zurückdrängen der Sozialdemokratie in der Regierung, hatten die Annäherung der Westmächte erleichtert. Deutschland aber durfte es nicht wagen, weiterhin abseits zu stehen und politische Spannungen zu verewigen, die letzten Endes ihre Entladung nur zum Schaden des deutschen Volkes gefunden hätten. –

Entwicklung des
  Völkerbundsgedankens  

Der Völkerbundsgedanke, dessen historische Entwicklung seit den Zeiten des 14. Jahrhunderts ich übergehen will, war ursprünglich nichts anderes als die seelische Reaktion gegen den furchtbarsten aller Kriege, den Weltkrieg. Professor Niemeyer, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, hat einmal die geistige Entstehungsgeschichte des Völkerbundes behandelt. Am 11. Mai 1918 schrieb der englische Viscount Grey of Fallodon eine Schrift über den modernen Völkerbund, die großes Aufsehen erregte. Gerade damals war das Friedensbedürfnis der Welt aufs äußerste gestiegen. Grey stellte zwei aufsehenerregende Thesen auf: erstens, daß Deutschland Mitglied des Völkerbundes sein müsse; zweitens, daß jedes Mitglied des Völkerbundes einen Teil seiner [274] Souveränität opfern müsse. Außerdem war auf Wilsons Anregungen Anfang 1918 hin eine englische Regierungskommission unter Vorsitz von Sir Walter G. F. Phillimore eingesetzt worden mit der Aufgabe, die Idee einer "league of nations" historisch und praktisch zu prüfen. Die Kommission legte am 20. März den Entwurf zu einem Vertrag der alliierten Staaten vor, der eine kollektive Friedenssicherung durch Organisation von Schiedsgerichten zur Beilegung internationaler Streitigkeiten erstrebte. Wilson ließ einen Gegenentwurf durch Oberst House ausarbeiten, der am 16. Juli fertiggestellt war und die Grundlage bildete für die im Dezember 1918 von Wilson persönlich den Alliierten in Paris vorgelegte Völkerbundssatzung. Unabhängig von den englisch-amerikanischen Plänen, entstand im Juli 1918 ein französischer und im Dezember 1918 ein italienischer Völkerbundsentwurf.

Seit September 1918 wuchs das Interesse der öffentlichen Meinung am Völkerbundproblem stark an. Vor allem knüpfte man an die Ideen Greys und Wilsons an, die darin übereinstimmten, daß im Rahmen des den Weltkrieg beendenden Weltfriedens eine Weltorganisation (unter Einschluß Deutschlands) geschaffen werden müsse, in der alle Staaten gleichberechtigt in regelmäßigen Konferenzen unter geschäftlicher Führung eines Generalsekretariates zur Sicherung des Friedens und zu kultureller Zusammenarbeit zusammenwirken sollten. Natürlich mußte der Völkerbund Exekutionsgewalt gegenüber völkerbundwidrigem Verhalten seiner Mitglieder haben, und seine Tätigkeit mußte vollkommen öffentlich sein. Hierdurch angeregt, arbeitete die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht seit dem 21. September 1918 eine Völkerbundsverfassung aus. Am 11. Januar 1919 konnte diese aus 36 Artikeln bestehende "Verfassung des Völkerbundes" der Reichsregierung überreicht werden.

1920: Erste Sitzung des Völkerbundes in Genf.
[Bd. 2 S. 64a]      1920: Erste Sitzung
des Völkerbundes in Genf.
      Photo Sennecke.
In Paris aber beschloß am 14. Februar 1919 die Konferenz der Ententestaaten einstimmig die Smuts-Cecilsche Völkerbundssatzung in 26 Artikeln, die dem Versailler Vertrag vorangesetzt und von Wilson als "vehicle of life" bezeichnet wurde, dessen Vorzug darin bestehe, daß es der natürlichen Entwicklung freien Lauf lasse. Auf Grund dieses Statutes [275] konstituierte sich der Völkerbund im Jahre 1920. Aber er war eine Liga der alliierten, assoziierten und neutralen Nationen. Deutschland wurde trotz seines Aufnahmegesuches vom Mai 1919 ausgeschlossen – die Gründe dafür habe ich oben kurz charakterisiert – (Frankreich als das am meisten vom Kriege betroffene Land lehnte die Gemeinschaft mit dem "schuldigen" Deutschland ab, ebenso wie das kapitalistische England eine Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Deutschland verweigerte) und die Vereinigten Staaten von Amerika traten dem Völkerbunde ebenfalls nicht bei, da sie in ihm nur eine Vereinigung der Sieger aber nicht eine allseitige Weltorganisation im Sinne Wilsons erblickten.

  Wesen und Wandlungen  
des Völkerbundes

Der Genfer Völkerbund stellte nach der Art seiner Entstehung eine merkwürdige Vereinigung konträrer Tendenzen dar. Zunächst war die große Erschöpfung und Friedenssehnsucht der Völker jene geistige Voraussetzung gewesen, die den Gedanken eines Bundes aller Völker als Weltorganisation der Friedenssicherung förderte. Diese Richtung war, wie wir sahen, in England und Amerika die herrschende. Dann brach Deutschland zusammen, und mit diesem Augenblicke gewannen die Machtinteressen der Alliierten die Oberhand, welche in dem Bemühen gipfelten, ihren Sieg zu verewigen. Hierbei war Frankreich die treibende Kraft, und der Völkerbund, der jetzt geschaffen wurde, entwickelte sich unter dem Einfluß des plötzlich einsetzenden Siegesrausches der Westvölker zu einem Machtinstrument der Alliierten, zu einer erweiterten Entente. Im Streite zwischen Idealismus und Realismus hatte schließlich der politische Realismus gesiegt. Unter diesem Gesichtspunkte nahm der Völkerbund bei verschiedenen Gelegenheiten jene wenig deutschfreundliche Haltung ein, soweit wir sie kennenlernten in der Frage Eupen-Malmedy (1920), der Teilung Oberschlesiens (1921), des Saargebietes und der Annexion des Memellandes durch Litauen (Januar 1923). Der Völkerbund war eine erweiterte Entente cordiale geworden.

Die Tendenz der Macht war zur Herrschaft gelangt, was sich am besten darin zeigte, daß von einer Gleichberechtigung der Mitglieder nicht mehr die Rede war, sondern der Rat, in dem sich die Großmächte versammelten, gleichsam eine [276] Oligarchie errichtete, der gegenüber das Plenum nur Staffage war. An Stelle der "demokratischen Kontrolle" durch die Öffentlichkeit trat die berufliche Heimlichkeit der Diplomatie, die ihr Wesen in den nichtöffentlichen Sitzungen hatte.

Eine neue Belebung des Völkerbundsgedankens trat im Herbste 1924 ein, als der Völkerbund sich auf seine ursprüngliche Bestimmung besann, ein Werkzeug des Friedens zu sein. Die allmähliche Befreiung der Gemüter von der Kriegs- und Siegespsychose hatte wieder ein Friedens- und Sicherheitsbedürfnis zum Vorschein kommen lassen, welches zwar schon sechs Jahre vorher vorhanden gewesen, durch Deutschlands Zusammenbruch aber wieder zurückgedrängt worden war. Jetzt belebte sich anläßlich der Sicherheitspläne Herriots und MacDonalds die Friedenstendenz im Völkerbunde wieder, und es wurde jenes Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 geschaffen, jenes Dokument, welches zwar nur ein theoretischer Versuch blieb, da die Mehrzahl der Völkerbundsmitglieder die Unterschrift verweigerte, aber welches doch insofern einige Bedeutung hatte, als es die Plattform für eine gemeinsame Politik der ehemaligen Alliierten mit Deutschland – Locarnoverträge 1925 – vorbereitete. Die historische Bedeutung des Genfer Protokolls beruhte darin, daß es den Versuch einer Wendung von der Machtpolitik der Bünde und Ententen zur Politik der Weltbefriedung bildete. In dieser Wendung mußte der Völkerbund mit zwingender Notwendigkeit Deutschland berühren, ganz besonders, da die Frage der großen Sicherheit am Rhein die Gemüter in beiden Lagern intensiv zu interessieren begann.

Unter diesen Umständen beruhten die Beziehungen Deutschlands zum Völkerbunde auf einer inneren Wechselwirkung. Deutschlands Regierung erkannte die politische Macht, welche dem Völkerbunde innewohnen konnte, und hatte das natürliche Bestreben, an dieser Macht teilzuhaben. Sie unterlag aber ebensosehr der Friedenssehnsucht, welche, wie bereits in früheren Zeitaltern die Folge großer Kriege, auch eine Folge des Weltkrieges war. Sie glaubte, durch die Kombination ihrer beiden Tendenzen (Teilnahme an der Macht und Sicherung des Friedens) im Völkerbunde eine Erleichterung der auf dem Volke [277] ruhenden moralischen Versailler Last herbeizuführen. Die Mächte des Völkerbundes andererseits verspürten, je mehr die Zeit vom Kriege abrückte, eine erhebliche Lücke, die durch Deutschlands Fehlen hervorgerufen wurde. Je mehr der Rausch des Sieges verflog, um so mehr sahen sie sich genötigt, auch das im internationalen Wirtschaftsleben neue Bedeutung gewinnende Deutschland in ihren Kreis einzubeziehen. Auch mögen besondere Absichten Englands gegen Rußland mitgesprochen haben. Die innere Läuterung des deutschen Volkes zu Festigung und Beständigkeit verminderte die Unruhe der andern wegen der sozialistisch-revolutionären Gefahren, die in Deutschland schlummerten. So machte sich auf beiden Seiten das Bedürfnis bemerkbar, das sich gleichsam zwangsläufig aus der Entwicklung der Dinge heraushob, Deutschland in den Völkerbund aufzunehmen. Es war für beide Teile zugleich eine Machtfrage und eine Friedensfrage. Eine Machtfrage für den Völkerbund, indem er das entwaffnete Deutschland in den Kreis der ehemaligen Alliierten hineinbezog, eine Machtfrage für Deutschland, indem es aus seiner Isolierung heraustrat, eine Friedensfrage für den Völkerbund, indem er sich seiner ursprünglichen Bestimmung näherte, eine Friedensfrage für Deutschland, indem er seine Beziehungen zu den übrigen europäischen Mächten durch Inkrafttreten der Locarnoverträge besserte und festigte. Allerdings darf bei dieser Wendung der Dinge nicht übersehen werden, daß das konkrete Arbeitsfeld des Völkerbundes sich verengert hat. Im Vordergrunde seiner Bemühungen steht von nun an Deutschland, und die Hauptaufgabe des Bundes wurde es von jetzt ab, über die Sicherheit am Rhein zu wachen und die dauernden schweren deutsch-polnischen Spannungen zu mildern.

Deutsche Urteile
  über den Völkerbund  

Man täuschte sich in Deutschland auch nicht darüber, daß der Völkerbund von seinem Ideal, ein Weltbund und Friedensbund zu sein, noch weit entfernt war. Professor Bredt, Reichstagsabgeordneter der Wirtschaftspartei, schrieb einmal (Europäische Gespräche, März 1927) folgendes:

      "Von einem wirklichen Weltbund kann ja überhaupt keine Rede sein, solange die beiden Großmächte Amerika und Rußland beiseitestehen. Es ist aber bemerkenswert, daß diese zwei Mächte [278] gerade die beiden Richtungen verkörpern, die heute in der Welt um die Herrschaft auf wirtschaftlichem Gebiete kämpfen: Großkapitalismus und Bolschewismus. Die Abhängigkeit von der Neuyorker Bankwelt wird für Europa immer unerträglicher, und auf die Dauer wird hier ein Gegengewicht geschaffen werden müssen. Ebenso unerträglich wäre selbstverständlich irgendein Einlenken in die Bahnen des Bolschewismus. Nun haben sich im Völkerbunde bisher diejenigen Staaten zusammengefunden, die in solcher Beziehung eine andere Stellung einnehmen und den Schwerpunkt legen auf bürgerlich-demokratische Verfassung ohne Auswüchse nach der einen oder anderen Seite. Nur England neigt noch stark nach der amerikanischen Seite hin... Wenn nun England hier nicht zu weit geht,... dann mag es sein, daß schließlich der Völkerbund eine Vereinigung der so gearteten Staaten wird, und daß in Europa der Schwerpunkt auf der Abwehr des Bolschewismus, in Südamerika der Schwerpunkt auf der Abwehr des Großkapitalismus liegt. Deutschland hat ein entschiedenes Interesse daran, daß der Völkerbund nicht nur auftritt als militärischer Machtfaktor, sondern auch als wirtschaftlicher Kulturfaktor..."

Graf Bernstorff sah die Schwäche des Völkerbunds mehr in seiner inneren Struktur, er sei weniger ein Bund der Völker, als vielmehr eine Versammlung von Diplomaten, die nach Instruktionen der Regierungen handelt.

      "Der Völkerbund ist 'zweier Zeiten Kampfgebiet', auf dem der historische Prozeß durchgefochten wird zwischen den neuen und den alten Ideen der Politik, einerseits dem Gedanken der Herrschaft eines zukünftigen idealen und den Frieden sichernden Völkerrechtes, sowie andererseits der Machtpolitik des Imperialismus." (Europäische Gespräche, August 1929).

Die Entscheidung dieses Kampfes werde nicht vom Völkerbund und den Regierungen, sondern von den Völkern herbeigeführt werden.

Weiterer Verlauf
  der Militärkontrolle  

Eine der Voraussetzungen für Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund bildete die Ausführung der Entwaffnungsbestimmungen, wie sie im November 1925 zwischen dem General Pawels und der Botschafterkonferenz festgesetzt waren. Vor allem war bemerkenswert, daß die Befehlsbefugnis im [279] Reichsheer neu geregelt wurde. Am 28. Januar 1926 war dies in der Weise geschehen, daß entsprechend der Abmachung mit der Botschafterkonferenz die ganze Befehlsgewalt über die Reichswehr durch den Wehrminister unter dem Reichspräsidenten ausgeübt werden solle, während der Chef der Heeresleitung künftig nur als militärischer Berater des Reichswehrministers und seines Vertreters in militärischen Angelegenheiten fungieren sollte. Bereits am 1. Januar hatten die Alliierten die in Breslau, Dresden, Düsseldorf, Köln, Hamburg, Münster, Stettin und Stuttgart noch bestehenden Kontrollzweigstellen der Interalliierten Militärkontrollkommission aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch die Kontrollposten in der neutralen Zone, Frankfurt a. M. und Karlsruhe, beseitigt. Nur in Königsberg und München blieb je eine Gruppe von zwei interalliierten Offizieren als provisorischer Posten bestehen. Am 1. Juni 1926 wurden auch diese beiden Stellen zurückgezogen.

Andererseits hatten durch Deutschlands Völkerbundseintritt auch die Verträge von Locarno Rechtsgültigkeit erlangt. Hierauf gestützt, verlangte die Reichsregierung eine energischere Durchführung der Rückwirkungen, besonders der Truppenverminderungen im Rheinlande. Schon im Februar 1926 forderte die Reichsregierung eine Herabsetzung der Besatzungstruppen auf 60 000 Mann. Bis jetzt seien die französischen Maßnahmen durchaus ungenügend. Am 17. September, einige Tage nach dem deutschen Eintritt in den Völkerbund, hatte Stresemann mit Briand in Thoiry eine mehrstündige Unterredung über die schwebenden Rheinlandfragen und das Aufhören der Militärkontrolle. Stresemann ging jetzt mit seinen Forderungen weiter als in Locarno. Er erklärte, daß mit Deutschlands Eintritt in den Völkerbund die Rheinland-Besetzung überhaupt überflüssig geworden und daher zurückzuziehen sei. Mit dem Eintritt in den Völkerbund seien die Voraussetzungen für Artikel 431 erfüllt, und die Besatzungstruppen müßten das deutsche Gebiet verlassen. Das würde auch dem Sinn des Briefes von Clemenceau an die Deutsche Friedensabordnung vom 16. Juni 1919 entsprechen und der gemeinsamen Erklärung der drei führenden alliierten [280] Staatsmänner am folgenden Tage. Die Juristen der damaligen britischen Koalitionsregierung unter Lloyd George hätten die Auffassung vertreten, daß Deutschlands Zulassung zum Völkerbund bereits als ein Beweis dafür anzusehen sei, daß es "wirksame Garantien in der Angelegenheit der Reparationen wie der Sicherheitsfrage gegeben habe". Der vorsichtige Briand mußte zwar in allen Stücken der deutschen Beweisführung beistimmen, aber mit Rücksicht auf Poincaré und seinen Kreis konnte er sich nur dazu verstehen, neue Zusicherungen in bezug auf die Rückwirkungen zu geben. Zwischen dem fordernden Stresemann und dem annexionistischen Poincaré besaß Briands Haltung einen gewissen Zug der Unaufrichtigkeit. Denn am 23. Juli 1926 war Poincaré wieder Französischer Ministerpräsident geworden, und die Persönlichkeit dieses Mannes erwies sich, wie dies nicht anders zu erwarten war, bald als ein Hemmnis sogar in der Durchführung der in Locarno vereinbarten Rückwirkungen.

Die erste Wirkung von Thoiry zeigte sich in der Entwaffnungsfrage.

Am 31. Januar 1927 endlich stellte die Botschafterkonferenz in Paris fest, daß bis auf Kleinigkeiten an der Ostgrenze keine Entwaffnungsverpflichtungen Deutschlands mehr vorliegen. Sie verfügte offiziell die Zurückziehung der Interalliierten Kontrollkommission, deren Tätigkeit beendet sei. Jetzt wurden auch die entsprechenden Organisationen im Deutschen Reichswehrministerium aufgelöst. Reichswehrminister Geßler bezeichnete die Beendigung der Militärkontrolle als ein wichtiges politisches Ereignis. Es war am 31. Januar 1927 in Paris vereinbart worden, daß Deutschland noch 34 Unterstände im System der befestigten Werke an der deutschen Ostgrenze zerstören sollte. Am 13. Juni war auch diese Arbeit beendet, wie der Sachverständige der Reichsregierung, Generalleutnant von Pawels, feststellte. Das Auswärtige Amt setzte durch gleichlautende Noten die Berliner Missionen der in der Botschafterkonferenz vertretenen Mächte England, Frankreich, Italien und Belgien hiervon in Kenntnis. Somit war eine weitere Quelle jahrelanger Qualen und Beunruhigungen Deutschlands beseitigt. –

[281] Jedoch soweit die Abmachungen von Thoiry die Rheinlandbesetzung betrafen, setzte ihnen der Französische Ministerpräsident hartnäckigen Widerstand entgegen.

Poincaré und
  die Militärkamarilla  

Poincaré hatte einen starken Rückhalt an der Militärkaste. Auf die Generale Frankreichs gestützt, dachte er gar nicht daran, die französischen Truppen in den besetzten Gebieten zu verringern. Er verquickte in ganz unzulässiger Weise die Rückwirkungen mit den allgemeinen Entwaffnungsfragen und war so in der Lage, immer neue Gründe für die Verzögerung der Truppenverminderung vorzuschützen. So rechtfertigte er sein Verhalten damit, daß in Deutschland "militärische Verbände" beständen, deren Existenz gegen die Friedensbestimmungen verstoße. Als nun gar die Interalliierte Militärkontrollkommission aufgelöst worden war, fühlte sich der Französische Ministerpräsident berufen, die Kontrolle durch seine Truppen am Rhein fortzusetzen. Dies war ein willkommener Grund, aufs neue die Rückwirkungen zu vereiteln.

Die französischen Kommandostellen der Rheinarmee, die mit Briands Versöhnungspolitik nicht einverstanden waren und mit Unwillen daran dachten, daß ihre schönen Tage der Besatzung gezählt seien, hielten zu Poincaré und wurden seine treuen Helfer. General Guilleaumat, der Oberstkommandierende, welcher, wie wir sahen, im Herbst 1924 der Nachfolger Degouttes geworden war, ließ nach Aufhören der Militärkontrolle einen Geheimbericht über angebliche deutsche Rüstungen im besetzten Gebiet abfassen und schickte diesen Ende Februar 1927 nach Paris. In diesem Bericht hieß es, daß seit Anfang 1926, also seit dem Zeitpunkt, da die Rückwirkungen in Kraft zu treten begannen, die deutsche Regierung im besetzten Gebiete und in den angrenzenden Landesteilen die Bildung militärischer Kräfte betreibe, welche gegebenenfalls schnell gegen Frankreich vorgehen könnten. Das sei nämlich das Ziel und die Absicht Deutschlands gewesen, als es die "Rückwirkungen" forderte, und diese Absicht habe es zum Teil auch erreicht. Sportvereine beschäftigten sich ausschließlich mit der Ausbildung von Infanterietruppen. Die Schützenvereine befolgten zwar genau die Vorschriften der [282] Besatzungsbehörde, doch ließen diese Vorschriften einen weiten Spielraum. Reitervereine besorgten die Ausbildung für Kavallerie und Artillerie. Bemerkenswert sei die rasche Entwicklung, die diese Vereine seit einigen Monaten gehabt hätten. Seitdem die Rheinlandkommission im besetzten Gebiet die Fliegerei erlaubt habe, fördere die deutsche Regierung das Flugwesen ganz besonders. In Köln, Frankfurt, Karlsruhe seien Lufthäfen entstanden, welche die Zusammenziehung starker Flugzeugabteilungen gestatteten. Außerdem würden Verbesserungen und Ausdehnungen des Straßen- und Eisenbahnnetzes vorgenommen, um die Truppentransporte schneller befördern zu können. Umfangreiche Radioanlagen und Abrichtung von Brieftauben seien wichtige Nachrichtenmittel für die deutsche Regierung. Das Sanitätswesen im besetzten Gebiet, Rotes Kreuz, Samaritervereine usw., sei gut organisiert. Die Tätigkeit der deutschen Regierung habe sich insbesondere im Jahre 1926 entwickelt. Die Konzessionen, die der deutschen Regierung im November 1925 gemacht worden seien und die der Bevölkerung des besetzten Gebietes Erleichterungen des Besatzungsregimes gebracht hätten, hätten kein anderes Ergebnis gezeitigt, als Deutschland die Möglichkeit zu geben, die militärischen Vorbereitungen im besetzten Gebiet zu beschleunigen.

Da also waren die dunklen Kräfte zu suchen, welche der großen Befriedungspolitik von Locarno und Genf zähen Widerstand entgegensetzten. Die Hartnäckigkeit der französischen Soldaten, denen es am Rhein sehr gut gefiel, versuchte, die Bemühungen der Diplomaten zu vereiteln. Den Truppen war die Politik Poincarés sympathischer als diejenige Briands. Deswegen unterstützte Guilleaumat den französischen Ministerpräsidenten mit seinem Lügenbericht, gegen den sich die deutsche Regierung nicht wehren konnte, da er geheim war. Poincaré nahm aber stets die Märchen von den "militärischen Verbänden" zum Vorwand, um sich den Rückwirkungen zu entziehen. Dann auch begründete er seine feindselige Haltung damit, daß, wie die Botschafterkonferenz am 31. Januar 1927 festgestellt habe, noch eine Reihe der Ostbefestigungen von Deutschland zerstört werden müsse. Bevor dies nicht geschehen sei, könne er zu seinem Bedauern keine Truppenverminde- [283] rungen vornehmen. Im Rheinland selbst hatte die Tätigkeit der Militärkamarilla ihren Erfolg. Es gelang dem General Guilleaumat, den Präsidenten der Interalliierten Rheinlandkommission auf die drohenden "Gefahren" aufmerksam zu machen, so daß dieser am 1. April an den Reichskommissar für die besetzten Gebiete ein Schreiben richtete, worin er auf die allgemeine Entwicklung der "Reitervereine in den besetzten Gebieten", namentlich in der Pfalz und im Norden des Besatzungsgebietes hinweist; die Betätigung dieser Vereine in Pferdesport, Reiten usw. sei geeignet, die Sicherheit der Besatzungstruppen zu gefährden. Hieraus ergab es sich, daß die französischen Besatzungstruppen, solange auch nur noch ein Regiment auf deutschem Boden stand, trotz aller diplomatischen Versicherungen und Schwüre ein Faktor der ständigen Beunruhigung für die Bevölkerung bildeten.

  Unwille in Deutschland  

Das französische Verhalten weckte verständlicherweise im deutschen Volke starken Unmut und große Verstimmung. Täglich wurde die Frage lauter, wann nun endlich, da Deutschland nun Mitglied des Völkerbundes sei, die Rückwirkungen in Kraft treten würden. Stresemann, als der verantwortliche Urheber der deutschen Außenpolitik, mußte, besonders von Seiten der Rechtsparteien, scharfe Angriffe aushalten. Standen doch Mitte 1927 noch 75 000 Mann Besatzungstruppen im Rheinland, wo vor dem Kriege nur 50 000 deutsche Soldaten garnisonierten. Noch lagen französische Offiziere und Unteroffiziere in 9500 deutschen Wohnungen.

Stresemann richtete im Reichstag schwere Anklagen gegen die Politik Poincarés. Ende Juni 1927 erklärte er, wenn auf einem Gebiete der Locarnopolitik Nichterfüllung stattfinde, so sei die große Gefahr vorhanden, daß dieses System auch auf andere Gebiete übergreife. Poincaré sei nicht der Mann, der die gewünschte Verständigung durchführen könne. Er dürfe die Truppenverminderung nicht abhängig machen von der Zerstörung der Ostfestungen. Dadurch werde die Verständigung erschwert. "Will der Herr Französische Ministerpräsident diesen Weg verbauen oder will er ihn ebnen? Was ist das Ziel des Herrn Poincaré: Ruhrpolitik oder Locarnopolitik?"

[284] Als nun auch die Ostfestungen zerstört worden waren, konnte Poincaré nicht länger seinen Widerstand gegen die Rückwirkungen durchführen, wenn er sich nicht vor England und aller Welt offen ins Unrecht setzen wollte. Zwar versuchten die nationalistischen Kreise in Paris noch einmal, die Locarnopolitik zu hintertreiben, indem sie in ihrer Wochenschrift Aux Ecoutes am 6. August die oben besprochene geheime Denkschrift des Generals Guilleaumat veröffentlichten. Sie glaubten durch diesen Appell an die Öffentlichkeit das gesamte französische Volk auf die Politik Poincarés zu vereinigen. Doch sie hatten keinen Erfolg. Am 31. August sah sich Poincaré genötigt, der Reichsregierung offiziell mitzuteilen, daß die Zahl der Besatzungstruppen um etwa 10 100 Mann verringert werden solle. Neun Tage später ordnete die französische Regierung die Zurückziehung dieser Truppen an, die dann auch in den Herbstwochen durchgeführt wurde.

Saarbrücken: Alliierter Bahnschutz.
[Bd. 4 S. 64b]      Saarbrücken:
Alliierter Bahnschutz.
      Photo Scherl.
Es blieben aber immerhin noch 65 000 Mann ausländischer Truppen auf rheinischem Gebiet stehen. Hiervon entfiel auf die Engländer eine Division mit 6200 Mann, die seit dem 30. November 1925 in Wiesbaden, Bingen und Königstein standen, um den Mainzer Brückenkopf zu beherrschen. –

Das Saargebiet, welches nach den Locarnoereignissen ebenfalls energisch beim Völkerbund eine Zurückziehung der widerrechtlich ins Land gezogenen französischen Truppen gefordert hatte, erlebte die Genugtuung, daß der Völkerbund am 12. März 1927 den Rückzug der Regimenter verfügte. Am 10. Juni zog das französische Militär ab, es blieben nur 800 Mann Bahnschutztruppen zurück. Zehn Tage später übernahm der Engländer Sir Ernest Wilton die Leitung der Saarregierung. –



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra