[Bd. 2 S. 131-132 = Trennseiten] [133] 1. Kapitel: Vom Londoner Ultimatum zum Wiesbadener Abkommen. Als im dritten Jahre der deutschen Republik der schöne Monat Mai ins Land zog, hingen düstere Wolken des Unheils und der Katastrophe über Deutschland, so etwa wie zwei Jahre zuvor, als die deutsche Delegation zur Entgegennahme der Friedensbedingungen nach Versailles gegangen war. In Oberschlesien tobte der polnische Aufstand, der doppelt schmerzlich empfunden wurde, weil er Gewalttat an Stelle von Recht setzte und das deutsche Wirtschaftsleben schwächte und gefährdete. Die Regierung Fehrenbach trat zurück, weil sie den ehrlichen Willen gehabt hatte, Deutschland aus seiner durch den Versailler Vertrag bedingten furchtbaren Lage der Ausplünderung herauszureißen, und schließlich an Amerikas Ablehnung, zwischen Deutschland und den Alliierten zu vermitteln, gescheitert war.
"Die Verbandsregierungen stellen fest, daß trotz der wiederholten Zugeständnisse, welche von den Verbündeten seit Unterzeichnung des Vertrages von Versailles gemacht worden sind, ungeachtet der Warnungen und Zwangsmaßregeln, die in Spa und Paris beschlossen wurden, wie auch der in London angekündigten und seither in Kraft getretenen Maßregeln, die deutsche Regierung mit der Erfüllung der Verpflichtungen im Rückstande ist, die ihr nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages obliegen, und zwar in folgenden Punkten:
Deutschland wird in der in diesem Plan bestimmten Weise seine Verpflichtungen, den in Übereinstimmung mit Artikel 231, 232 und 233 des Vertrages von Versailles durch die Kommission festgesetzten Gesamtbetrag zu zahlen, erfüllen, nämlich 132 Milliarden Goldmark abzüglich a) des bereits auf Reparationskonto bezahlten Betrages, b) derjenigen Summe, welche von Zeit zu Zeit Deutschland hinsichtlich des Staatseigentums in den abgetretenen Gebieten usw. gutgebracht werden können und c) aller der Summen, welche von anderen feindlichen oder früher feindlichen Mächten eingehen und hinsichtlich deren die Kommission entscheiden kann, daß sie Deutschland gutgebracht werden sollen, zuzüglich der belgischen Schuld an die Alliierten. Die Schuld sollte in 37 Jahren abgetragen werden. Für die Zahlungsweise wurde folgendes bestimmt: Deutschland soll jedes Jahr bezahlen zwei Goldmilliarden für den Zinsen- und Amortisationsdienst, ferner eine Summe, welche 25 Prozent seiner Ausfuhr in jedem Zeitraum von zwölf [136] Monaten nach dem 1. Mai 1921, so wie von der Kommission festgesetzt, entspricht, oder wahlweise einen entsprechenden Betrag, so wie er in Übereinstimmung mit jedem andern von Deutschland vorgeschlagenen und von der Kommission angenommenen Index festgesetzt werden würde, und schließlich eine weitere Summe, entsprechend 1 Prozent des Wertes seiner Ausfuhr. Innerhalb 25 Tagen jedoch, also bis zum 31. Mai, sollte eine Goldmilliarde, entsprechend den ersten beiden Vierteljahresraten, gezahlt werden. Außerdem sollten Schuldverschreibungen über 12 Milliarden Goldmark bis zum 1. Juli 1921 ausgestellt werden, desgleichen Schuldverschreibungen über 38 weitere Milliarden bis zum 1. November 1921 und über 82 Milliarden je nach Zahlungsfähigkeit. Diese Schuldverschreibungen umfaßten also die gesamte Wiedergutmachungssumme, auf welche die einzelnen Tribute aufgerechnet wurden. Hierin waren auch die von Deutschland zu leistenden Sachlieferungen enthalten. Natürlich wurden auch Sicherheiten gefordert, damit man jederzeit eine Handhabe hatte, um die Reparationssummen von Deutschland einzutreiben. Es sollten infolgedessen von Deutschland an die Alliierten verpfändet werden die Einnahmen der deutschen See- und Landzölle und ‑abgaben und insbesondere die Einnahmen aus allen Ein- und Ausfuhrabgaben, ferner die Erträgnisse der Abgabe von 25 Prozent auf den Wert aller Ausfuhr und schließlich die Erträgnisse der direkten und indirekten Steuern, welche von Deutschland zu diesem Zwecke vorgeschlagen würden. Zur Überwachung würde ein Garantiekomitee gebildet werden, dessen Befugnisse Deutschlands staatliche Souveränität weitgehend beschränken sollte, indem es ein Aufsichtsrecht über die Steuergesetzgebung erhielt. Man stellte den Deutschen einige kleine Erleichterungen in Aussicht: Frankreich werde fortan für die deutsche Kohle nunmehr den Inlandpreis zahlen müssen und diese zu Wasser oder zu Lande geliefert erhalten, und die Besatzungskosten sollten vermindert werden dadurch, daß die englischen Truppen geringere Zahlungen erhalten sollten. Das Protokoll schloß zusammenfassend: [137] Vor dem 31. Mai muß Deutschland die Einsetzung des Garantiekomitees annehmen, vor dem 31. Mai muß Deutschland ferner 1 Milliarde Goldmark entweder in Gold oder ausländischen Devisen bezahlt haben, bis zum 15. Mai muß die Auslieferung des Flugzeugmaterials, bis zum 31. Mai die Auflösung der Einwohnerwehren und die Zerstörung der im Bau befindlichen Kriegsschiffe beendet sein.
Das Damoklesschwert der Ruhrbesetzung war für die Verbündeten das sicherste Mittel, eine ausgesprochene bürgerliche Regierung wie die des Reichskanzlers Fehrenbach in Deutschland unmöglich zu machen. Eine solche Regierung war den Engländern und den Franzosen unbequem, denn sie förderte die Selbstbesinnung der Deutschen, sie erweckte das Selbstbewußtsein zu neuem Leben und erschütterte dadurch die Stellung der alliierten Regierungen in ihren Ländern. Man wußte sehr gut in London und Paris, daß eine bürgerliche Regierung in Deutschland das Ultimatum ablehnen würde. Sie würde, so glaubte man, unter dem drohenden Londoner Ultimatum sich auch gar nicht halten können, selbst wenn sie aufs neue gebildet würde, denn, so sagte man sich, die Angst der [138] Deutschen, auch noch das letzte Kohlenrevier an der Ruhr zu verlieren, ist zu groß, als daß sie eine Regierung dulden würden, die diesen Verlust in Kauf nähme. Den Franzosen allerdings war die Ablehnung sympathischer als die Annahme; wäre doch dann der Vorwand für den schon lange erhofften und ersehnten Einmarsch ins Ruhrgebiet gegeben.
Es darf bei dieser Gelegenheit nicht übergangen werden zu erwähnen, daß in jenen kritischen Maitagen der Führer der Deutschen Volkspartei, Dr. Stresemann, durch den englischen Botschafter Lord d'Abernon in London anfragen ließ, ob ein Kabinett Stresemann angenehm wäre und mit welchen Bedingungen es rechnen könne. Es war erklärlich, daß bei der ungeheuren Bedeutung der Reparationsfrage für die deutsche Industrie und Wirtschaft die Deutsche Volkspartei ihren Einfluß in der Regierung nicht so ohne weiteres opfern wollte, daß anderseits aber auch eine Regierung der Großen Koalition unter Einschluß der Sozialdemokratie notwendig war, um nicht immer durch die Opposition dieser großen Partei [139] behindert zu werden. Schließlich glaubte Stresemann auch, auf dem Umwege über England eine bessere Verbindung mit Frankreich zu erhalten. Ohne Zweifel kann man annehmen, daß damals bereits in Stresemann der Gedanke einer großen inneren Befriedung (Große Koalition) und außenpolitischer Verständigung (England, Frankreich) herangereift war. Vielleicht hoffte er auch auf diesem Wege das Schicksal Oberschlesiens günstig zu beeinflussen. England jedoch hatte starkes Mißtrauen nach den Erfahrungen mit der Regierung Fehrenbach, deren Hintermann Stinnes war, und Stinnes würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch hinter der Regierung Stresemann stehen. England wünschte, ebenfalls wie Frankreich, ein klar erkennbares Erfüllungsministerium nach dem System Erzberger – und verzögerte die Antwort also solange, bis infolge der drängenden Zeit vor dem Ablauf des Ultimatums die Regierung Wirth auf der Grundlage der Weimarer Koalition gebildet worden war. –
"Es bleibt uns keine andere Möglichkeit als Annahme oder Ablehnung... Um das Reich und seine Einheit zu retten, um deutsches Land vor der Gefahr feindlicher Invasionen zu bewahren und die deutsche Freiheit zu erhalten, dafür ist das deutsche Volk zu den höchsten materiellen Opfern bereit. Die deutsche Regierung nimmt aus diesem Grunde das Ultimatum an." Man wolle den Gegner durch Leistungen von der Aufrichtigkeit und dem guten Willen der Deutschen überzeugen; aber die Aufhebung der Sanktionen und Gerechtigkeit in Oberschlesien seien die Voraussetzung für die Annahme des Ultimatums. Wirth bezeichnete als das Programm seiner Regierung "Verständigung, Wiederaufbau und Versöhnung", und sein Kabinett erhielt vom Volke die Bezeichnung "Erfüllungsministerium". In der Nacht vom 10. zum 11. Mai nahm der Reichstag mit 220 Stimmen das Londoner Ultimatum an. Das Zentrum, die Sozialdemokratie und die Unabhängigen, sechs Abgeordnete der Deutschen Volkspartei und [140] siebzehn Demokraten hatten ihre Ja-Stimmen abgegeben. 172 Abgeordnete lehnten ab, ein Zentrumsabgeordneter enthielt sich der Stimme. Am 11. Mai teilte die deutsche Regierung den Alliierten die vorbehalt- und bedingungslose Annahme des Ultimatums durch Deutschland mit.
Auch das Garantiekomitee begann sich zu regen. Es belehrte die deutsche Regierung darüber, daß das ganze Gleichgewicht des Zahlungssystems auf einer "gewissen Stabilität der Mark" beruhe und daß diese Stabilität nur erreicht werden könne, wenn vorher durch notwendige Reformen das deutsche Budget ins Gleichgewicht gebracht worden sei. Man brachte ganz unverhohlen zum Ausdruck, daß es im Interesse der Wiedergutmachungen keine Rücksicht auf das deutsche Volk gebe. Der Jammer der Darbenden und Hungernden wurde beiseitegeschoben durch die Forderung drakonischer Steuern und Sparsamkeit, um die Verpflichtungen gegenüber den Siegern zu überfüllen. –
Immer drohender wurde die Sprache der nationalempfindenden und die nationale Ehre verteidigenden Kreise. Es kam zu großen Volksansammlungen vor dem Gerichtsgebäude, und drohende Rufe wurden laut. Das Reichsgericht mußte polizeilich und militärisch geschützt werden, um Versuche zur Befreiung der Angeklagten zu verhindern. Ganz Deutschland hallte wider von Empörung und Erbitterung, und um gewaltsamen Zwischenfällen vorzubeugen, wurden schließlich die Prozesse eingestellt. Die im Herbste von Italien eingereichten Fälle kamen nicht mehr zur Verhandlung. Zwar teilte die Kommission in Sachen der Kriegsbeschuldigten Anfang Januar 1922 dem Obersten Rat das nach ihrer Ansicht vollkommen ungenügende Ergebnis der Prozesse mit. Das Verfahren in Leipzig gebe keinerlei Genugtuung, und es seien nicht genügend Bemühungen zur Aufdeckung der Wahrheit unternommen worden. Einzelne Angeklagte seien freigesprochen worden, die eigentlich hätten bestraft werden müssen, und bei den für schuldig Befundenen sei die Bestrafung ungenügend. Infolgedessen müsse jetzt Artikel 228 des Versailler Vertrages in Kraft treten, das heißt die Angeklagten sollten den alliierten Regierungen ausgeliefert werden. Die Alliierten aber erkannten die Gefahr, welche der Erfüllungsregierung Wirth aus der weiteren Ausdehnung der Prozesse erwuchs, und sie fürchteten vor allem, daß bei einem durch die Auslieferung möglicherweise hervorgerufenen Putsch die nationale Strömung die Herrschaft an sich reißen könnte. Deswegen unternahmen auch sie, wiewohl unbefriedigt, nichts weiter in einer Sache, die, wie der Engländer Gooch behauptet, "gleich von Anfang an schlimm verpfuscht war".
Den Franzosen war dieser Zustand höchst unbequem. Sie argwöhnten, daß hinter der ganzen Boykottbewegung Regierungsstellen stünden. Hatte doch am 12. Mai die Bayerische Eisenbahndirektion Nürnberg den Bahnhofsrestaurateuren unter Androhung sofortiger Kündigung verboten, Waren aus dem Ausland, besonders aus den Ententestaaten, zu [145] verkaufen! Wer anders könne wohl dahinterstehen als das Reichsverkehrsministerium? Und die Deutsche Weinzeitung hätte am 1. Juni ein Rundschreiben des Verbandes württembergischer Weinhändler abgedruckt, worin der Boykott französischer und elsaß-lothringischer Weine befürwortet würde. Die Handelskammer Stuttgart habe auf Betreiben des Württembergischen Arbeitsministeriums die Veranlassung hierzu gegeben. Wenn natürlich der Boykott auch nicht vom ganzen deutschen Volke restlos durchgeführt wurde – gab es doch seither in Deutschland Leute, welche das Ausländische stets höher bewerteten als das Erzeugnis des eigenen Landes –, so mag er dennoch seine Wirkung nicht verfehlt haben. Mitte September forderte Frankreich in einer Note die deutsche Regierung auf, gegen den Boykott französischer Waren in Deutschland einzuschreiten, da ein solcher gegen den Friedensvertrag verstoße. Dies war allerdings nur insoweit möglich, als vielleicht die Mitwirkung von Regierungstellen in Frage kam. Soweit der Boykott jedoch Privatangelegenheit war, standen der Regierung weder Gesetzes- noch Machtmittel zur Verfügung, dagegen vorzugehen. Die Franzosen nahmen jede Gelegenheit wahr, um Deutschland seine Schwäche fühlen zu lassen. In der Frage der Sanktionen trat dies besonders unmittelbar und scharf hervor. Zwar demobilisierte die französische Regierung am 25. Juni den im April einberufenen Jahrgang 1919, aber nicht etwa deshalb, weil sie vermeinte, daß kein Vormarsch und infolgedessen keine Truppenverstärkung notwendig sei, sondern mit der Begründung, daß die jüngeren Jahrgänge nun soweit ausgebildet seien, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Gelegentlich der Pariser Besprechungen am 18. und 19. Juni erklärte Lord Curzon, der englische Vertreter, Deutschland habe den Beweis seines guten Willens erbracht, deshalb solle man die Rheinzollgrenze aufgeben und die Sanktionsstädte Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort sofort räumen. "Der gute Wille Deutschlands macht uns nicht bezahlt", erwiderte Briand, "und es hat sich doch gezeigt, daß die Sanktionen nicht unnütz verhängt worden sind." Gewiß hat keine Schlacht des Weltkrieges den Franzosen soviel Mühe, Arbeit und Zeit [146] gekostet wie das unblutige Vorrücken an die Schwelle des Ruhrgebietes. Jetzt, nachdem nun ihre Träume erst zu einem Teil erfüllt waren, sollten sie zurückgehen? Sie dachten gar nicht daran! Was kümmerte sie der gute Wille Deutschlands, was die Sentimentalität
Als Fünfundvierzigjähriger veröffentlichte Rathenau sein erstes Buch: Zur Kritik der Zeit. Er hatte nicht so unrecht mit seiner Behauptung, daß die Zeichen der Zeit im Reiche des Geistes der Intellektualismus, im Bereiche der Gesellschaft aber Mechanisierung seien. Schon aber seien Kräfte erwacht, welche eines Tages den Kampf mit den herrschenden Mächten aufnehmen würden, wobei er auf die kommende sozialistische Strömung hinwies. Zur Mechanik des Geistes erschien 1913. Er hatte es der jüngeren Generation gewidmet und verleugnete auch hier nicht den Einfluß von James und Bergson. Er forderte, daß sich die Seele freimache vom unbedingten Vertrauen auf den Intellekt und von seiner Herrschaft. In seinen Gedankengängen war Rathenau so etwas wie ein moderner Rousseau. Während des Krieges war er zum Leiter der Rohstoffabteilung berufen worden, und erst 1917 konnte er sein Buch [148] mit dem etwas metaphysisch klingenden Titel Von kommenden Dingen herausgeben. Der Engländer Gooch sagte, daß dies kaum ein Kriegsbuch genannt werden könne, "aber sicherlich ist es eines der interessantesten Bücher, die während des Krieges geschrieben wurden, und es hat eine größere Verbreitung erfahren als irgendeine seiner anderen Schriften". Rathenau weist hier den Weg zu einer großen Revolution des Geistes und der Gesellschaft. Der "proletarische Zustand" solle abgeschafft werden durch Änderung der Eigentums- und Erziehungsgesetze, vor allem fordert er eine starke Einschränkung des Erbrechtes. Rathenau erkannte die große Gefahr, welche den europäischen Völkern durch die Masse der Besitzlosen drohte, anderseits aber verschloß er sich auch nicht der vernünftigen Forderung, den wertvollen Kräften des Proletariats gebührende Aufstiegsmöglichkeiten zu verschaffen. Er ging auf der beschrittenen Bahn weiter vor und brachte 1918 Die neue Wirtschaft heraus, worin er das System einer Sozialisierung auf kapitalistischem Wege entwickelte. Industrie und Handel dürften nicht mehr dezentralisierte Privatangelegenheiten sein, sondern sie müßten zusammengeschlossen werden zu einem großen Trust, der mit staatlichem Privileg arbeite und alle Mittel der Wissenschaft auf die Produktion einstelle. Durch diese neue Wirtschaftsordnung werde von selbst die neue Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden, die jeder Kämpfer in dem großen Kriege in seinem Herzen herbeisehne. Es war Rathenau darum zu tun, auf friedlichem Wege jene große soziale Umwandlung herbeizuführen, die mit immer stärkerer Deutlichkeit sich gewaltsam anzubahnen drohte. Im Frühjahr 1919 veröffentlichte er eine "Betrachtung" unter dem Titel: Der Kaiser. Diese Schrift ist kein Pamphlet, sondern eine in wunderbarer durchsichtiger Form durchgeführte Analyse des letzten Kaisers und seines Zeitalters. Keine Anklagen gegen den Monarchen, sondern eher Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Der Kaiser habe zwar der Epoche seinen Namen gegeben, dennoch aber sei er nicht Herr, sondern Produkt seiner Epoche gewesen. Die wilhelminische Epoche habe am Monarchen mehr verschuldet [149] als der Monarch an ihr. Es war die Epoche des Intellektualismus, der verstandesmäßigen Breite, nicht der seelischen Tiefe. Alles können und verstehen, aber nichts Neues hervorbringen. Und die Katastrophe des Kaisers sei zugleich die Katastrophe des Intellektualismus und umgekehrt. Wer aber war schuld am Lauf der Dinge? Der Kaiser? Nein. Denn in dieser dynastischen Atmosphäre wäre jeder normale Mensch übergeschnappt, wenn er länger darin hätte leben sollen. Dieses Gottesgnadentum sei allerdings den Germanen fremd gewesen, und darin hatte Rathenau recht: "sie hatten Herzöge und selbstgewählte Könige." Auch dem Feudalismus sei kein Vorwurf zu machen, denn er verteidigte altvererbte Rechte. Die Schuld treffe ganz allein das Großbürgertum.
"Schmachvoll war hier wie überall die Haltung des Großbürgertums, das, durch Beziehungen und Vergünstigungen preiswert bestochen, seinen Vorteil im Ankriechen an die herrschende Schicht und in der Lobpreisung des Bestehenden suchte. Die geistige Verräterei des Großbürgertums, das seine Abkunft und Verantwortung verleugnete, das um den Preis des Reserveleutnants, des Korpsstudenten, des Regierungsassessors, des Adelsprädikates, des Herrenhaussitzes und des Kommerzienrates die Quellen der Demokratie nicht nur verstopfte, sondern vergiftete, das feil, feist und feig durch sein Werkzeug, die Nationalliberale Partei, das Schicksal Deutschlands zugunsten der Reaktion entscheiden ließ: Diese Verräterei hat Deutschland zerstört, hat die Monarchie zerstört und uns vor allen Völkern verächtlich gemacht. Einer der tragischen Züge des Kaisers war, daß er dieses Großbürgertum lieben mußte, so wie er alles lieben mußte, was ihm tödlich war, und alles verfolgen, was ihn hätte retten können." Diese oberen Zehntausend in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Industrie, in Heer- und Staatsdienst haben durch ihren Byzantinismus eine freiere, demokratische Entwicklung der Verfassung verhindert, wie diese nach dem ganzen Verlauf der europäischen Dinge notwendig gewesen wäre. Niemand setzte sich ein für die Erweiterung der Volksrechte, die Beschränkung der Monarchenrechte. "Hier war Stein-Hardenbergsche Arbeit zu tun, und es war keiner, der es nicht wußte, dem [150] es nicht gesagt war." Also nicht den Kaiser, sondern das Bürgertum, die Epoche, den Intellektualismus treffe die Schuld an dem Zusammenbruch. Die einzige Rettung des Monarchen hätte bestanden in der Genialität des Charakters. "Daß er sie nicht besaß, ist kein Vorwurf." Darum aber sei sein Fall beklagenswert, nicht tragisch. Den Kaiser treffe keine Schuld am Kriege. Er sei freier von Schuld als die meisten. Überhaupt sei die ganze Kriegsschuldfrage Unsinn. Bei einer zerbrochenen Fensterscheibe mag man die Schuldfrage erörtern, vor dem Naturereignis enthülle sie sich als das, was sie sei: kindlich und kindisch. Wenn es eine Schuld gebe, so sei es die Schuld des europäischen Gewissens. Europa befinde sich in einer gewaltigen Gärung. Zwar mit den horizontalen Völkerwanderungen von Westen nach Osten sei es vorbei, aber nun setze die vertikale Völkerwanderung ein, von unten nach oben, die das abgewirtschaftete Bürgertum verschlinge. Ein Jahrhundert des Bolschewismus werde anbrechen.
"In einem Jahrhundert werde der praktische Gedanke des Ostens so restlos verwirklicht sein, wie heute der praktische Gedanke des Westens. Im Hintergrunde der Zeiten steht wartend ein letzter Gedanke: die Auflösung der Staatsformen und ihre Ersetzung durch ein bewegliches System selbstverwaltender Kulturverbände unter der Herrschaft transzendenter Ideen. Dieser Gedanke aber setzt eine veränderte Stufe der Geistigkeit voraus." Dann würden nicht mehr einige wenige, sondern alle teilhaben an den Schätzen aus Materie und Geist. Es sei dann nicht mehr die Welt und Zeit der wenigen, sondern aller. Nicht das Paradies erwarte uns, sondern die erweiterte Menschheit, die neue Würde des Lebens und der Mühen. Wenn die Barbarei des kommenden Jahrhunderts vorüber sei, dann werde nicht der Bolschewismus herrschen, noch das Proletariat diktieren; es werde niemand herrschen und niemand diktieren, sondern Völker werden sich verwalten, neue Arbeit, neue Verantwortung, neue Wünsche lernen. Der Friede, den man in Versailles berate, sei der letzte Herrenfrieden, der den letzten Herrenkrieg beende. "In Gedanken und Mitteln: ein Denkmal der alten Horizontalpolitik." In seinem kühnen Gedankenflug aber eilte Rathenau seiner [151] Zeit und seiner Menschheit voraus. Bereits im Juni 1919 schrieb er:
"Es kann nicht länger zweifelhaft sein, daß das, was wir die deutsche Revolution nennen, eine Enttäuschung ist. Jeder unverhoffte Gewinn, jedes Produkt der Verzweiflung bringt Ernüchterung mit sich. Unsere Ketten wurden nicht zerbrochen, sondern fielen ab. Es gab keine Vorbereitung, keine revolutionäre Theorie. Nur eine zweite Revolution kann uns retten, die Revolution der Gesinnung." Die Bewegung von 1919 sei aus dem Haß entsprungen, "was unser unwürdig ist"; sie sei entsprungen aus dem Verlangen nach Wohlfahrt durch Ausgleich des Besitzes, das habe sich aber als Illusion erwiesen; sie sei hervorgegangen aus dem Verlangen nach Verantwortlichkeit, und das sei das Rühmlichste und Fruchtbarste an ihr.
"Unser politisches Programm ist fast erfüllt, aber das große Arbeitsfeld der Wirtschaft ist noch von keiner Partei in Angriff genommen. Wir werden weder zum alten System zurückkehren, noch werden wir der Führung von Marx folgen. Keiner von uns glaubt, daß Armeen oder Diplomaten uns retten werden. Die Schicksale der Nation werden auf die Dauer nicht durch Armeen, sondern durch das Volk selber bestimmt werden, je nach den Ideen, die es zu den seinen macht. Der Versailler Vertrag wird verschwinden, denn er baut sich nur auf Haß auf; und nichts wird Bestand haben, das nicht eine Idee verkörpert." [152] Es war eine der Lieblingsideen Rathenaus, daß das Recht des Besitzes sich nur auf Arbeit gründen dürfe. Es war eine kühne und dennoch gesunde, urwüchsige Idee; und er lehnte deshalb sowohl den Kapitalismus wie auch den Sozialismus ab, denn letzten Endes liebten beide den Besitz nur um des Genusses willen. Diesen Gedanken des Arbeitsbesitzes machte er zur Grundlage seines Gesellschaftssystems. "Es handelt sich nicht länger um den Ruf nach Sozialisierung, die niemand versteht, sondern um einen eingehenden Organisationsplan unserer Wirtschaft auf sozialer Basis." Nicht Enteignung der Industrie durch den Staat, sondern Beaufsichtigung sei der Mittelweg zwischen den sich bekämpfenden Strömungen des Individualismus und Sozialismus. In einer Vorlesung in der Hochschule für Politik zu Berlin sagte er 1921:
"Wir fühlen, daß die Epoche des reinen Kapitalismus beendet ist, dennoch verlangt keine maßgebende Stimme nach einer grundlegenden Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung." Der Kapitalismus sei allein dazu in der Lage gewesen, für Nahrung, Kleider, Häuser, Transporte und andere Bedürfnisse einer riesig angewachsenen Bevölkerung zu sorgen, und es sei auch nötig, die Produktion noch zu steigern. Kein guter oder auch nur erträglicher Lebensstandard könne erreicht werden, wenn unsere Produktion nicht gesteigert werden könne. Aber dadurch, daß der Kapitalismus den notwendigen Bedarf decke, habe er zuviel Macht über das Leben der Gesamtheit gewonnen und sich einen unverhältnismäßig großen Anteil am Nutzen daraus gesichert. Es solle keine einzelne Klasse herrschen dürfen. Politik und Wirtschaft verlange Zusammenarbeit. An Stelle von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit solle Freiheit, Verantwortlichkeit und Solidarität gesetzt werden. Als sein reifstes Werk seiner sozialen und politischen Gedanken wird sein Buch Die neue Gesellschaft, 1921, bezeichnet. Er gibt den Sozialdemokraten recht, daß die Gesellschaft sozialisiert werden müsse, indem jeder seinen Lebensunterhalt selbst verdienen solle. Aber das Ziel sei nicht eine Verteilung des Besitzes oder gleicher Lohn. Es sei die Abschaffung des proletarischen Zustandes lebenslanger und [153] erblicher Knechtschaft, der zweifachen Schichtung der Gesellschaft, der skandalösen Versklavung des Bruders durch den Bruder, die all unsere Handlungen, all unsere Schöpfungen, all unsere Freuden schände. Auch dies sei nicht das letzte Ziel. Der letzte Zweck alles Strebens sei die Entwicklung der menschlichen Seele. Wirtschaftlicher Sozialismus sei nicht nötig, aber ein ethischer. Die Sozialisten hätten eine Zukunft im Auge, in der es keine Reichen mehr gäbe, und glaubten, infolgedessen werde es auch keine Armen mehr geben. Sie seien Sklaven von Papageienphrasen. Logischer Sozialismus bedeute proletarischen Zustand für uns alle. Eine echte Demokratisierung des Staates und der Erziehung müßte erreicht werden. Nur dann werde das Monopol der Klasse und der Kultur gebrochen werden. Das Aufhören des unverdienten Einkommens werde den Fall des letzten Klassenmonopols, nämlich desjenigen der Plutokratie anzeigen. In dem Rettungsplan sei kein Platz für Parasiten. –
Das Wiesbadener Abkommen könnte man eigentlich weniger als ein politisches, als vielmehr als ein kaufmännisches Ereignis bezeichnen. Trotzdem aber war es staatsmännisch. Rathenau wollte an Stelle der Gold- und Geldprogramme ein Leistungsprogramm setzen. Deswegen versuchte er, das verantwortungsvolle Reparationsproblem nicht nach dem starren, buchstabengläubigen Schema des Verwaltungsbeamten, sondern nach der wägenden, aber intuitiven Methode des Kaufmannes zu lösen. Es wurde bestimmt, daß die Durchführung der Sachlieferungen nicht mehr unmittelbar durch die beiden beteiligten Staaten Deutschland und Frankreich, sondern durch privatrechtliche kaufmännische Organisationen erledigt werden sollte, wobei die deutsche [155] Organisation als Produzent, die französische als Händler zu wirken hatte. Das bedeutete ohne Zweifel eine Vereinfachung. Jedoch sollte die deutsche Organisation zu den Lieferungen nur insoweit verpflichtet sein, als sie mit den Produktionsmöglichkeiten Deutschlands, den Bedingungen seiner Rohstoffversorgung und den inneren Bedürfnissen seines sozialen und wirtschaftlichen Lebens vereinbar sein würden. Die deutsche Lieferungsorganisation sollte durch die deutsche Regierung bezahlt werden, und dieser wiederum sollte der Wert der Lieferungen auf Reparationskonto gutgeschrieben werden. Es wurden drei Zeitabschnitte für die Lieferungen festgesetzt; der erste sollte bis zum 1. Mai 1926 reichen, und bis dahin sollte der Sachwert der Lieferungen sieben Milliarden Goldmark nicht übersteigen. Der zweite Abschnitt sollte das Jahrzehnt vom 1. Mai 1926 bis zum 1. Mai 1936, der dritte die Folgezeit umfassen. Die Rücklieferung von französischem Industriematerial sollte am 6. Dezember 1921 aufhören, danach sollten lediglich noch die vorher abgerufenen Maschinen zurückgeliefert werden. Das restliche französische Material würde in Deutschland verbleiben, dafür jedoch würde Deutschland innerhalb der nächsten acht Monate 120 000 Tonnen Industriematerial neu oder gebraucht, aber in gutem Zustande, liefern. Ferner sollte Deutschland 62 000 Pferde, 25 000 Rinder, 25 000 Schafe und 40 000 Bienenvölker liefern, ferner noch 13 000 Pferde zur Gutschrift auf das Wiedergutmachungskonto. Damit hätte Deutschland dann aber den Artikel 238 des Versailler Vertrages erfüllt. Schließlich wurde noch ein Kohlenabkommen getroffen. Frankreich würde Deutschland für gelieferte Kohlen die Inlandpreise zuzüglich der Transportkosten zahlen. Deutschland sollte das Recht der freien Kohlenausfuhr haben, wenn es seinen Wiedergutmachungsverpflichtungen nachgekommen sei. Die Alliierten verpflichten sich ihrerseits, die von Deutschland gelieferten Kohlen nur für den eigenen Bedarf und den ihrer Kolonien und Protektorate zu verwenden. Deutschland darf bei etwaiger Ausführung der unter Artikel 299 [156] aufrechterhaltenen Vorkriegsverträge bis zu 150 000 Tonnen monatlich der so gelieferten Mengen auf die anderen Pflichtlieferungen an Frankreich anrechnen. Der Erlös solcher Lieferungen sollte auf Wiedergutmachungskonto eingezahlt werden.
"In der Erwägung, daß die Vereinigten Staaten gemeinschaftlich mit ihren Mitkriegführenden am 11. November 1918 einen Waffenstillstand vereinbart haben, damit ein Friedensvertrag abgeschlossen werden könne; in der Erwägung, daß der Vertrag von Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde und gemäß den Bestimmungen des Artikels 440 in Kraft getreten, aber von den Vereinigten Staaten nicht ratifiziert worden ist, in der Erwägung, daß der Kongreß der Vereinigten Staaten einstimmig den Beschluß gefaßt hat, der vom Präsidenten am 2. Juli 1921 genehmigt worden ist und im Auszug folgendermaßen lautet: Beschlossen vom Senat und Repräsidentenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika, die zum Kongreß versammelt sind, daß der durch den am 6. April 1917 genehmigten einstimmigen Beschluß des Kongresses erklärte Kriegszustand zwischen der kaiserlich deutschen Regierung und den Vereinigten Staaten von Amerika hiermit für beendet erklärt wird." Im Vertrage sicherten die Vereinigten Staaten sich und ihren Angehörigen alle Rechte, Privilegien, Entschädigungen, Reparationen oder Vorteile einschließlich des Rechts, sie zwangsweise durchzuführen, soweit ihnen solche nach dem Vertrage von Versailles, den Ansprüchen aus dem Kriege usw. zustünden. Als Sicherheit für die Ersatz- und Entschädigungsleistungen durch Deutschland sollte sämtliches deutsches und österreichisch-ungarisches Staats- und Privateigentum beschlagnahmt werden, das am 7. Dezember 1917 im Bereiche der Vereinigten Staaten war. Amerika beanspruchte also aus dem Versailler Vertrage die Rechte und Vorteile für sich, soweit sie sich auf folgende Punkte erstrecken: deutsche Kolonien, die Abrüstung zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die Kriegsgefangenen und Grabstätten, die Wiedergutmachungen, die finanziellen Bestimmungen, die wirtschaftlichen Bestimmungen, die Luftschiffahrt, die Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen, die Sicherheiten für die Ausführung und die Klauseln.
"Wenn die Vereinigten Staaten die in den Bestimmungen jenes Vertrages festgesetzten und in diesen Paragraphen erwähnten Rechte und Vor- [158] teile für sich in Anspruch nehmen, werden sie dies in einer Weise tun, die mit den Deutschlands nach diesen Bestimmungen zustehenden Rechten in Einklang steht." Kategorisch abgelehnt wurde von Amerika der erste Teil des Versailler Vertrages: die Völkerbundsakte. Außerdem übernahm die Union keine Verpflichtungen aus den Teilen des Vertrages, die sich beschäftigten mit den Grenzen Deutschlands, den politischen Klauseln für Europa, mit China, Siam, Liberia, Marokko, Ägypten, Türkei, Bulgarien, Schantung, und mit den Arbeitsbestimmungen, die in Verbindung mit dem Völkerbundsstatut gebracht waren. Schließlich erklärten die Vereinigten Staaten, daß sie wohl berechtigt, aber nicht verpflichtet seien, sich an der Wiedergutmachungskommission und anderen Ausschüssen zu beteiligen.
So wurde, nach der Dauer eines Kriegszustandes von 4½ Jahren, nun auch formell zwischen Deutschland und Amerika der Friede wiederhergestellt. Amerika, das mit dem Versailler Vertrag von Anfang an unzufrieden war, beanspruchte für sich in der Hauptsache, außer den militärischen, die
international-wirtschaftlichen Bestimmungen. Dafür hatte es zwei gewichtige Gründe: erstens war es selbst aktiv am Kriege gegen Deutschland beteiligt gewesen, zweitens aber war es zum Hauptgläubiger seiner alliierten Verbündeten geworden. Jedoch eine Einmischung in alle politischen Angelegenheiten Europas, und als solche betrachtete es auch den nicht nach seinem Willen geschaffenen Völkerbund, wies es zurück. |