Zueignung
Marie Knobl, geb. Matzig
* 8. 9. 1897 in Grottau,
Kreis Reichenberg,
Österreich-Ungarn,
† 11. 7. 1971 in Deutschland. |
Karl Knobl
* 5. 11. 1890 in Altwasser,
Kreis Marienbad,
Österreich-Ungarn,
† 3. 10. 1972 in Deutschland. |
75 Jahre nach Erscheinen dieses Buches,
knapp ein Jahrhundert nach den hier geschilderten Ereignissen,
widme ich unseren
online-Nachdruck meinen Großeltern mütterlicherseits,
die diesen Zeitabschnitt der sudetendeutschen Geschichte
von Anfang bis Ende durchlebten und durchlitten.
H. C. S. / Scriptorium - Kanada, im April 2011.
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[7]
Vorwort
Als in Versailles und St. Germain der Krieg der Waffen der
Ententemächte gegen Deutschland und Österreich beendet
wurde, konstruierte man aus den großen
mittel- und osteuropäischen Mächten eine Vielzahl kleiner
Staatengebilde.
Für die Freiheit der kleinen Völker, im Namen der westlichen
Demokratie, im Glauben an Menschenrechte und Menschenwürde, so hat
die Ententepropaganda im Kriege verbreitet, kämpften die Heere des
Westens gegen den Absolutismus, gegen die Unterdrückung und die
Nationalitätenstaaten der Mitte. Um die kleinen Völker zu
befreien, zerschlug man den für Wilson mittelalterlich anmutenden
Vielvölkerstaat Österreich. Um jedem Volke seinen eigenen
Staat zu geben, ging man über das Selbstbestimmungsrecht der
Völker hinweg und schuf ohne jegliche Volksbefragung u. a. den
neuen Nationalitätenstaat Tschechoslowakei. Selbst in Versailles hat man
gezögert, dieses Staatsgebilde entstehen zu lassen, und tat es
widerstrebend erst dann, nachdem führende tschechische Politiker
versichert hatten, die Rechte der einzelnen Völker der jungen Republik
nicht anzutasten.
[16]
Am 1. und 9. Juni 1920 gaben die Abgeordneten und Senatoren des Deutschen
Parlamentarischen Verbandes (Deutschbürgerliche Parteien und Deutsche Nationalsoz.
Arbeiterpartei) durch die Abg. Dr. Lodgman (D. N. P.) und Ing. Jung
(NSDAP.) und durch Senator Vetter-Lilie (Christl. soz.) ihren Willen kund, niemals die
durch das Friedensdiktat von St. Germain ausgesprochene Zwangseinverleibung von
3½ Millionen Sudetendeutschen in den tschechoslowakischen Staat als
Rechtszustand anzuerkennen.. [Vergrößern]
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Heute will die Tschechoslowakei ein Nationalstaat sein. Die westliche Ideologie,
die, entsprechend ihrem allein bestimmenden Vorbild Frankreich, nur
Einvölkerstaaten kennt, soll nicht nur Vorbild sein, sondern sie gilt
schlechterdings für die Mehrheit des tschechischen Volkes als die
moderne, einzig lebensberechtigte Staatsform.
Unter dem Vorwand, dem Staat wirtschaftlich die notwendigen Mittel an die
Hand zu geben, um seine Existenz zu sichern, begannen die tschechischen
Behörden mit dem Aufbau eines Staatskapitalismus, eines Etatismus
krassester Form. Aber nicht die wirtschaftliche Sicherung und
Verselbständigung der Republik, sondern die Ausrottung der
nichttschechischen, besonders der deutschen Volksgruppe, war das einzige Ziel.
Da es für die Tschechen nur ein Staatsvolk in einem Staate geben kann,
müssen alle anderen zu Staatsfeinden gestempelt werden, also illoyal
sein. Es war verhältnismäßig leicht, der hochentwickelten,
auf Export eingestellten sudetendeutschen Industrie, die durch den Krieg und
seine Folgen, durch die Zerstückelung ehemals einheitlicher
Ansatzräume, schwer darniederlag, den Todesstoß zu versetzen oder
sie in die Hand der Zivnostenska Banka zu bringen. Durch die
Bodenreform schloß man das sudetendeutsche Volk vom Neuerwerb von
Land aus. Bei der Vergebung von [8] staatlichen Beamtenstellen wurde das Deutschtum
weitestgehend ausgeschaltet und so zu einem Volkstum minderen Rechtes
herabgedrückt.
In diesem Staat der notorischen Rechtsungleichheit der Völker greift man
sowohl die kulturellen Belange des verhaßten deutschen Volkes an, wie
man auch seine Existenzgrundlagen zerstört. Die Methode ist jedenfalls
raffiniert. Greift dieses gequälte und hungernde Volk zur Selbsthilfe und
organisiert sich eine eigene Winterhilfe, so erschwert oder verbietet man diese
und tritt damit nicht nur die Menschenrechte und Menschenwürde mit
Füßen, sondern leugnet auch ganz allgemein sämtliche
Grundlagen der Kultur unserer Zeit.
Die Tschechoslowakei steht aber weder in ihrer Theologie, noch in ihren
Maßnahmen allein da in Europa, sondern es gibt viele Staaten, die
Nationalstaaten sein wollen und Nationalstaaten sind. Wohl sind je nach der
kulturellen Höhe der Völker die Maßnahmen verschieden; das
Ziel der Staatsvölker ist in allen Ländern dasselbe, die Ausrottung der
anderen Volksgruppen.
Damit sind die Vorgänge in der Tschechoslowakei nur ein Ausschnitt aus
der Qual der Völker, die unterdrückt in solchen Staaten leben
müssen. Die Not der Sudetendeutschen erhebt mit für alle diese
Völker die Anklage gegen die liberale Idee des westlichen, demokratischen
Nationalstaates.
Königsberg i. Pr., Ende 1936.
Dr. Th. Oberländer.
[9]
Zur Einführung
Fünfzehnhundertfünfzig Kilometer deutscher Reichsgrenze vom
Laufe der Oder über die waldreichen und zerklüfteten
Höhen und Kämme der Sudeten, des Erzgebirges und des
Böhmerwaldes bis zum sogenannten Dreimarkenstein am
Dreisesselberg trennen deutsches Staatsgebiet von dem der
Tschechoslowakei. Sie trennen aber nicht nur den Bodenraum zweier
Staaten, sondern sie sind durch uraltes deutsches
Siedlungs- und Kulturland und mitten durch das lebendige Fleisch eines
Volkes gezogen und machen Brüder und Schwestern gleichen Blutes,
gleichen Stammes und gleicher Sprache zu Bürgern zweier Staaten.
Grenzlandschicksal!
[Frontispiz]
Im alten deutschen Prag.
Theynkirche und astronomische Rathausuhr.
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Jenseits dieses Abschnittes der deutschen Reichsgrenze also verläuft
ein deutscher Siedlungsgürtel, der stellenweise 100 Kilometer breit
landeinwärts sich ausdehnt und in der
Elbe-Moldau-Niederung bis 30 Kilometer an das Herz
Böhmens - an Prag - heranreicht: der Lebensraum der
dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen. In einem mächtigen Boden
umklammert er das Siedlungsgebiet des tschechischen Volkes innerhalb
der Grenzen seines Staates.
Dieses deutsche Grenzland ist nicht nur ausgezeichnet durch seine
landschaftliche Schönheit und hochstehende kulturelle Entwicklung,
sondern vor allem durch seinen natürlichen Reichtum. Von den
Höhen und Hängen der Grenzgebirge grüßen
dichte Laub- und Nadelholzwälder weit hinein in das fruchtbare
Wiesen- und Ackerland. Die Gewässer, die von den
Gebirgskämmen zu Tale eilen und zu Flüssen werden, sind
natürliche Kraftquellen und Verkehrswege. Das Vorland der Gebirge
aber birgt Kohle, Erze und Mineralquellen in unerschöpflichen
Ausmaßen. Kurz, es ist ein gottgesegnetes, fruchtbares Land,
das alle Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung
zum Wohlstand seiner Bewohner und weit darüber hinaus in sich
einschließt.
In jahrhundertelanger mühevoller und unbeirrbarer Kulturarbeit
haben die deutschen Siedler den natürlichen Reichtum des Landes
erschlossen und verwertet.
[17]
Das Wahrzeichen Prags, der alten Königsstadt an der Moldau, ist der
Hradschin mit dem Veitsdom, der Burg und den Adelspalästen mit ihren
prächtigen Gärten. Deutsche Baumeister schufen hier, machten Prag zur
hunderttürmigen Stadt; schon 1255 erhielten die deutschen Bürger deutsches
Stadtrecht. 1348 gründete Karl IV. in Prag die erste deutsche
Reichsuniversität. Heute ist Prag das Symbol tschechischer Unterdrückungspolitik
geworden.
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Deutsche Bauern, von den böhmischen Königen ins Land
gerufen, befruchteten und erweiterten die Kulturleistung des
bodenständigen Deutschtums im Lande, trockneten Sümpfe
und rodeten den Urwald. Sie legten Musterhöfe an und wurden dem
primitiven tschechischen Bauer zum Vorbild. Und mit den deutschen Bauern
waren Handwerker und Kaufleute ins Land gekommen. Nach den
Hussitenstürmen, die die deutsche Wirtschaftsblüte im
Sudetenraum brach, wurden deutsche Bergknappen nach Kuttenberg
zurückgerufen, um den Bergbau wieder in Gang zu bringen. Aus dem
Sächsischen und Meißnischen kamen Bergknappen [10] über den Kamm des Erzgebirges und
erschlossen die Schätze des Bodens. 1518 entstand St. Joachimsthal,
von hier nahmen die "Thaler" ihren Ausgang, ihm folgten weitere
Bergstädte wie Gottesgab, Kupferberg, Weipert, Sebastiansberg,
Sonnenberg, Zinnwald, Klostergrab usw.; Schmelzwerke,
Pechhütten, Drahtzüge boten reichen Verdienst.
In Nordböhmen entwickelte sich die Leinenwarenerzeugung, die
meißnische Familie der Schürer von Waldheim
begründete die nordböhmische Glasmacherkunst. Der deutsche
Kaspar Lehmann erfand die Kristallschleiferei, der Brüxer
Bürger Hans Weidlich heizte bereits 1605 sein
Alaun- und Vitriolwerk mit Braunkohle. Und die
Haus- und Fabriksgewerbe, besonders die Textilgewerbe, pflanzten sich nach
Nordmähren und Schlesien fort. Langsam, aber trotz aller
Rückschläge unaufhaltsam, entwickelte sich diese
sudetendeutsche Wirtschaft zu jenem Hochstand der sudetendeutschen
Großindustrie, die um die Jahrhundertwende bis zum
Kriegsausbruch die hauptsächliche Industrie der alten
Donaumonarchie bildete und für die Industrialisierung des
tschechischen Siedlungsraumes vorbildlich wurde. Georg Weidlich bahnte
den Steinschönauer Gläsern den Weg in die weite Welt, die
Reichenberger und Ascher Tuche kamen oft als "Englischer Loden" in
den Handel, die Graslitzer Musikinstrumente und die Thunschen
Porzellane wurden weltbekannt.
Fabrik reihte sich an Fabrik. Aus den Werkshallen tönte das Lied der
Arbeit, die Eisenhämmer pochten im Rhythmus, die Spindeln
surrten und die Räder der Förderstühle drehten sich
flink und munter und förderten unermüdlich die Kohle aus
den Tiefen.
Und zwischen den Industriestädten und Kohlenbergwerken und in
den fruchtbaren Getreidelandschaften an der Eger, Elbe und im
mährisch-schlesischen Lande zogen die Bauern ihren Pflug durch
fruchtbares, deutsches Land. Die netten, sauberen Dörfer verrieten
Wohlstand und Zufriedenheit.
Die Gebirgler auf den Höhen der Berge, wo der erste Schnee oft schon
in der Erntezeit fällt und der letzte schmilzt, wenn im Tale und im
Lande das erste Gras gemäht wird, und die Bewohner in den
schattigen Gebirgstälern klöppelten und drechselten, schufen
sich in unermüdlicher Arbeit das Lebensnotwendige zu den
kärglichen Erträgnissen des Gebirgsackerbodens.
Solange sich das sudetendeutsche Wirtschafts- und Industrieleben frei und
ungehindert entwickeln und entfalten konnte, herrschten
unbeeinflußt von den natürlichen
Konjunkturschwankungen, der jede Wirtschaftsentwicklung
unterworfen ist, Wohlstand und ausreichende
Lebensmöglichkeiten im sudetendeutschen Grenzgebiet. Die
unermeßlichen Bodenschätze und die Fruchtbarkeit des
Ackerbodens bildeten eine sichere Grundlage, auf der die arbeitsfreudige
und regsame Bevölkerung ihre Wirtschaft aufbaute. Die
sudetendeutschen Unternehmer und Industriebesitzer waren in ihrer
Mehrheit in ihrem Wirtschaftsaubau wohl [11] überlegend und berechnend, aber
nicht spekulativ, so daß eine gleichmäßige
Aufwärtsentwicklung gesichert war. Der Wohlstand des
Sudetendeutschtums in der Vorkriegszeit, der, wie immer wieder festzuhalten ist,
durch den natürlichen Reichtum seines Siedlungsgebietes und den
Fleiß und die Regsamkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit aller seiner
Berufsstände bedingt war, spiegelte sich z. B. recht deutlich in
den Zahlen der Erwerbssteuer, die von Deutschen und Tschechen gezahlt
wurde: von den 6,7 Millionen Einwohnern Böhmens zahlten im Jahre
1911:
2,5 Millionen Deutsche |
5,7 Millionen Kronen |
und 4,2 Millionen Tschechen |
3,1 Millionen Kronen.* |
Auf dieses fruchtbare deutsche Grenzland, das eine größere
Fläche einnimmt als Sachsen und Thüringen zusammen, und das
durch eine jahrhundertelange Kulturarbeit wirtschaftlich erschlossen worden ist,
richtete sich der tschechische Angriff. Es ist nicht mehr ein Kampf um die
Vorherrschaft in den Sudetenländern, der sich wie ein roter Faden durch
die Geschichte der Sudetendeutschen und Tschechen zieht, sondern ein Kampf
um den sudetendeutschen Lebensraum schlechthin. Die Tschechen
haben Ziel und Zweck ihres Kampfes offen kundgetan: das sudetendeutsche
Gebiet mit all seinen Reichtümern und Einrichtungen in tschechischen
Volksbesitz überzuführen. Und sie verfolgen dieses Ziel durch
mehr als ein halbes Jahrhundert mit aller Folgerichtigkeit und
[114]
In den verarmten deutschen Gebirgsorten verwahrlost die deutsche Schule. Die
Gemeindeangehörigen sind nicht mehr imstande, die Gemeindeumlagen aufzubringen, der
Staat bewilligt keine Mittel. In überfüllten nassen Räumen erhält die
Jugend der eingesessenen deutschen Bevölkerung den Unterricht.
[115]
Die Masarykschule im deutschen Winterberg. Für wenige
tschechische Kinder errichtet der Staat modene große Schulbauten. Tschechische
kinderreiche Beamte werden ins deutsche Sprachgebiet versetzt, um mit ihren Kindern die
tschechischen Trutzschulen aufzufüllen.
|
Planmäßigkeit. Die Abwanderung tschechischer Arbeiter in die
sudetendeutsche Industriegebiete, die durch die industrielle Entwicklung
angelockt oder von nationalpflichtvergessenen Unternehmern als billige
Arbeitskräfte angeworben wurden, wurde gefördert und
unterstützt, tschechische Gewerbetreibende und Kaufleute, die ihnen
folgten, erhielten finanzielle Beihilfen, und wo es in einem Ort eine
größere Anzahl von tschechischen Kindern gab, errichteten die
tschechischen Kampfverbände aus eigenen Mitteln Schulen und
Kindergärten. An der Sprachgrenze, die nach den Stürmen der
Hussitenzeit und des Dreißigjährigen Krieges seit Beginn des 18.
Jahrhunderts ungefähr in der gleichen Weise verläuft wie heute,
spielte sich ein erbitterter Kampf um jeden Baum und Stein ab. Kurz, das
Streben der Tschechen, den deutschen
Kultur- und Siedlungsraum mit tschechischem Volkstum zu durchsetzen und das
Sudetendeutschtum zu verdrängen, um allmählich das ganze Gebiet
zu tschechischem Volksbesitz zu machen, war schon damals ganz
offenkundig.
Dieser Kampf ist mit Ausgang des Weltkrieges in ein neues, entscheidendes
Stadium getreten. War es bisher ein Volkstumskampf im wahrsten Sinne des
Wortes, in dem keinem Teil, weder den Deutschen noch den Tschechen, staatliche
Hilfe zuteil wurde, so stehen heute den Tschechen die Machtmittel ihres
Staates im Kampf gegen die
wehr- und rechtlos gemachte sudetendeutsche Volksgruppe [12] zur Verfügung.
Der Volkstumskampf von gestern ist heute zum Vernichtungsfeldzug des
Staates gegen das Deutschtum geworden, das innerhalb seiner Grenzen zu
leben gezwungen wurde. Es ist also ein Kampf mit ungleichen Waffen.
Das ungleiche Kräfteverhältnis allein erklärt die Erfolge, die
die Tschechen bisher erringen konnten. Es ist daher nur ein Beweis für
die ungeheuren Lebensenergien und die Zähigkeit des Sudetendeutschtums,
daß seine nationale Lebenskraft und seine Wirtschaftspositionen trotz aller
staatlichen Machtmittel und Gewaltakte noch nicht gebrochen und vernichtet
sind. Diese Tatsache allein, die zu den Hoffnungen berechtigt, daß das
Sudetendeutschtum den Stürmen trotzen wird, die es aus seinem uralten,
[6]
Ein Blick in die sudetendeutsche
und tschechische Presse! [Vergrößern]
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mit dem Pflug und durch seine Kulturleistungen eroberten Heimatboden
entwurzeln sollen, darf aber über den Ernst der Lage des
Sudetendeutschtums nicht hinwegtäuschen, das hart an den Rand einer
völkischen Katastrophe gelangt ist.
Heute ist aus dem einst blühenden Industriegebiet ein großer
Industriefriedhof geworden. Die Fabriken stehen still, verfallen, der Wind streicht
heulend durch die Arbeitssäle, die Maschinen verrosten. Vor den
geschlossenen Toren der Fabriken stehen hungernd und krank hunderttausende
Erwerbslose ohne jede Hoffnung, daß sie sich ihnen jemals wieder
öffnen werden. Und die Bauern ziehen mit sorgenvoller Stirn den Pflug
durch ihren Acker, und wie eine Zentnerlast drückt sie die bange Frage:
"Werde ich den Hof erhalten können?" Die Gebirgsdörfer, in
denen schon stets Schmalhans Küchenmeister war, sind zu
Stätten des Grauens geworden! Die Armut schwingt das Szepter. Und
wo Armut herrscht, finden Krankheiten leicht Zugang. Sie aber schwächen
die natürliche Lebenskraft eines Volkes, für das es bedenkliche
Zeichen für seine Entwicklung sind, wenn es mehr Särge als
Wiegen zimmert!
Man ist heute tschechischerseits bemüht, die katastrophalen
Verfallserscheinungen im sudetendeutschen Wirtschaftsleben mit seinen
unausbleiblichen sozialen und volksbiologischen Auswirkungen einerseits als eine
Folge der staats- und wirtschaftspolitischen Strukturveränderung seit 1918 in Europa
und andererseits als eine Folge der Fehlspekulationen in Neubauten und
Investitionen der sudetendeutschen Unternehmer hinzustellen.
Gewiß, die Tschechoslowakei hatte bei ihrem Entstehen rund 80 Prozent
der industriellen Produktion der alten
österreichisch-ungarischen Monarchie übernommen. In den
Sudetenländern hatte sich, gefördert durch den Reichtum der
Länder an Kohle, Erz, Kaolin u. a.
Bodenschätzen und Bodenprodukten organisch aus der Notwendigkeit des
Bedarfes an Industrieprodukten im
österreichisch-ungarischen Wirtschaftsraum eine blühende
Textil-, Glas-, Holz-, Leder-, Papier- und Porzellanindustrie entwickelt.
Sie beherrschte nicht nur den alten
österreichisch-ungarischen Binnenmarkt, sondern hatte sich auch auf dem
Weltmarkt einen sicheren Platz erobert. Die Auf- [13] triebskraft der sudetendeutschen Wirtschaft
beruhte daher nicht "auf Meinen und Wollen", sondern auf dem elementaren
Kulturaufstieg des Südostens Europas. Hier lag ihr natürliches
Aufnahmegebiet - zu einem Großteil innerhalb der eigenen
Staatsgrenzen. Diese Auftriebskraft hat durch den Zusammenbruch der alten
Donaumonarchie und die Aufteilung dieses innerlich ausgeglichenen
Wirtschaftsraumes in neue Staats- und Zollgebiete eine natürliche
Schwächung erhalten.
Die sudetendeutsche Wirtschaft hat - man kann sagen über
Nacht - drei Viertel ihres binnenländischen Absatzmarktes verloren.
Das zum Auslandsmarkt gewordene Absatzgebiet riegelt sich durch hohe
Zollmauern ab oder durfte aus politischen Gründen nicht beliefert
werden, der neue Binnenmarkt aber war zu klein, die Produktion seiner Industrie
aufzunehmen. Dazu kommt noch die Neugründung von Industrien in
den österreichischen Nachfolgestaaten und die Errichtung
doppelseitiger Zollmauern. Das politische Streben der Tschechoslowakei, Ungarn
und Österreich wirtschaftlich niederzuhalten und das politische
Bündnis mit den ehemaligen Ententestaaten wirtschaftlich auszubauen,
mußte die Schwungkraft der sudetendeutschen Industrie lähmen.
Ausschlaggebend aber für die rückläufige sudetendeutsche
Wirtschaftsentwicklung war die tschechische Regierungspolitik dem
Sudetendeutschtum gegenüber. Auf allen Lebensgebieten des
Sudetendeutschtums setzte seit 1918 mit den Machtmitteln des Staates der
tschechische Angriff ein. Der alte Kampfgeist hussitischer Zerstörung war
erwacht. Deutsche Schulen wurden gesperrt, deutsche Arbeiter und Beamte von
den staatlichen Arbeitsplätzen vertrieben, der Gebrauch der deutschen
Sprache eingeengt, deutsche Eisenbahnen enteignet und deutscher
Wald- und Ackerboden tschechischen Siedlern oder dem Staatsbesitz
überantwortet. Rücksichtslos wurde an der Schwächung und
Zerstörung des wichtigsten Lebensnerves einer jeden Volksgruppe
gearbeitet - an der sudetendeutschen Wirtschaft. "Das (tschechische)
Grenzlerproblem", so schreibt einmal die tschechische Zeitschrift Obrana
narodna, "ist die Rückgewinnung mehr als eines Drittels unseres
Vaterlandes in die Hände und den Besitz des eigenen (tschechischen)
Volkes. Das Grenzlerproblem ist die Besiedlung dieses Drittels aus unserem
Volke, ist die Hinausschiebung der heutigen Sprachgrenze bis an die
tatsächlichen Landesgrenzen, ist die Erbauung eines vollkommen
starken, unüberwindlichen und verläßlichen Grenzgebietes,
einer Festungslinie aus Menschen unseres Geschlechtes und unseres
Blutes."
Es ist das offen zugegebene Ziel der Prager Regierung, die tschechoslowakische
Volkswirtschaft von der sudetendeutschen Privatwirtschaft unabhängig
zu machen, was man ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen
Gegebenheiten dadurch anstrebt, daß man
[14] a) |
innerhalb des tschechischen Siedlungsraumes eine eigene tschechische
Industrie aufzieht, ihren Absatz im
In- und Ausland staatlich fördert und die gleichgeartete sudetendeutsche
Industrie zum Abbruch zwingt; |
b) |
in der sudetendeutschen Industrie unter staatlichem Druck tschechisches
Kapital investiert. |
Es versteht sich von selbst, daß eine derartige Revolutionierung im
Wirtschaftsleben auf die gesamte Wirtschaftslage des Staates und damit auf die
sozialen Verhältnisse besonders des Sudetendeutschtums, das vornehmlich
industrialisiert ist, von entscheidendem und nachhaltigem Einfluß sein
mußte, der sich mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zur
sozialen Katastrophe verschärfte.
Diese national- und wirtschaftspolitische Zielsetzung der Tschechen
erklärt die Tatsache, daß zur gleichen Zeit, in der im
sudetendeutschen Grenzland das große Industriesterben einsetzte, im
tschechischen Siedlungsgebiete neue Fabriken entstanden und bereits bestehende
vergrößert und erweitert wurden. Die Wirtschaftskrise hat
wohl auch da und dort zu Produktionseinschränkungen geführt,
aber Fabrikschlote sind hier keine niedergelegt worden, es sei denn, man
benötigte noch höhere!
Die Arbeitslosigkeit hat in keinem tschechischen Bezirke die Stärke
erreicht, wie in den grenzdeutschen, die Not und das Elend haben in keinem
tschechischen Orte solche Formen angenommen, wie in den grenzdeutschen, wo
die Menschen Hunde und Katzen schlachteten und Rinde von den
Bäumen und Wurzeln kochen, um ihren Hunger zu stillen.
Diese Gegensätzlichkeit der Wirtschaftslage zweier Völker eines
Staates, der Regierenden und Regierten, läßt sich mit
Strukturunterschieden in der Berufsschichtung der beiden Völker nicht
mehr rechtfertigen, sie läßt sich auch nicht mit dem Hinweis auf die
staats- und wirtschaftspolitischen Veränderungen des Jahres 1918
hinreichend erklären oder als Folge der "Fehlspekulationen" der deutschen
Industrieführer hinstellen. Sie ist der sichere und unwiderlegbare Ausdruck
eines staatlichen Vernichtungswillens!
"200 000 Erwerbslose werden auf ihren Arbeitsplatz, den sie verlassen
mußten, nicht mehr zurückkehren können", stellte bereits im
Jahre 1934 die Prager Staatsführung kalt und nüchtern fest. Und
es werden Sudetendeutsche sein! Dieser furchtbaren Eröffnung
dürfen wir uns nicht verschließen. Sie bedeutet nicht allein das
Schicksal von zweihunderttausend Menschen mit seinen grauenhaften Begleitern
Hunger, Not, Elend, Krankheit, Verzweiflung, sie bedeutet das Schicksal der
dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen überhaupt, die an 1550 km
deutscher Reichsgrenze einen lebendigen Wall gegen ein
expansionslüsternes, imperialistisches Volk bilden.
[15-17=Illustrationen] [18] Als auf der
Diktatkonferenz in Versailles auch über das Schicksal der
sudetendeutschen Gebiete gesprochen und von den Tschechen ihre Einverleibung
in die junge tschechoslowakische Republik verlangt wurde, erhoben sich gegen
die tschechischen Wünsche ernsthafte Bedenken. Da legte die
tschechische Delegation das berüchtigte Memoire III. vor, in dem
sie darstellte, daß es überhaupt kein geschlossenes deutsches
Siedlungsgebiet in den Sudetenländern gäbe, die
österreichische Statistik über den Bevölkerungsstand
gefälscht und die Angliederung der "sogenannten deutschen Gebiete" eine
wirtschaftliche und strategische Notwendigkeit für den neuen Staat sei.1 Zum Schlusse aber hieß es:
"Es ist absolut notwendig, genau zu wissen, wie die
Deutschen in dem tschechoslowakischen Staat werden behandelt werden. Die
tschechoslowakische Republik ist, eintretenden Falles, nicht nur bereit, das
gesamte, durch die Friedenskonferenz zugunsten der Minderheiten
eingeführte internationale Recht anzunehmen, sondern sie ist auch noch
bereit, über ein solches Recht hinauszugehen (à devancer
une telle loi) und den Deutschen alle Rechte zu geben, die ihnen
zukommen.
Die tschechoslowakische Republik wird ein absolut
demokratischer Staat sein: alle Wahlen werden nach dem allgemeinen, gleichen
und direkten Wahlrecht vor sich gehen; alle Ämter werden allen
Staatsbürgern zugänglich sein; die Sprache der Minderheiten wird
überall zugelassen sein (la langue des minorités y sera admise
partout); das Recht, ihre eigenen Schulen, ihre Richter und ihre
Gerichtshöfe zu haben, wird niemals irgendeiner Minderheit bestritten
werden (le droit d'avoir ses propres écoles, ses juges et ses tribonaux
ne sera jamais contesté à n'importe quelle
minorité).
Um zusammenzufassen: Die Deutschen
würden in Böhmen dieselben Rechte haben wie die
Tschechoslowaken. Die deutsche Sprache würde die zweite Landessprache
werden (la langue allemande serait la seconde langue du pays),
und man würde sich niemals irgendeiner vexatorischen
Maßnahme gegen den deutschen Bevölkerungsteil bedienen
(et on ne servirait jamais d'aucune mesure vexative contre la partie allemande
de la population). Das Regime würde ähnlich sein wie in der
Schweiz (le régime serait semblable à celui de la
Suisse).
Dieses Regime wird in Böhmen nicht nur deshalb
eingeführt werden, weil die Tschechen immer ein tiefes Empfinden
für Demokratie, Recht und Gerechtigkeit hatten, und diese Rechte selbst
ihren Gegnern loyal zuerkennen, sondern auch weil die Tschechen der
Ansicht sind, daß diese den Deutschen günstige Lösung
auch den politischen Interessen ihres eigenen Landes und ihres eigenen
Volkes günstig ist (... que cette solution favorable aux
Allemands est favorable aux intérêts politiques de leur propre pays
et de leur propre nation)."
[15]
(In genauer deutscher Übersetzung des französischen
Untertextes - nach einer Veröffentlichung des "Montagsblattes"):
Der gemeinsame tschechisch-slowakische Nationalausschuß zu Paris, der sich bereits
1917, ohne die Macht in Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei zu besitzen,
als "Tschechoslowakische Regierung" bezeichnete, veröffentlichte am 18. Oktober 1918
die auf Seite 15 [Scriptorium merkt an: obenstehendes Faksimile] wiedergegebene
Erklärung, in welcher den millionenstarken "Minderheiten" im künftigen Staate die
gleichen Rechte verbürgt wurden. S. Punkte 2, 6, 7, u. 12. Der erste
Präsident Masaryk setzte 1919 nach der Machtübernahme in Verleugnung der
Erklärung mit der brutalsten Unterdrückung der deutschen und ungarischen
Volksgruppe
ein. [Vergrößern]
|
Als der Inhalt des Memoire III durch die Veröffentlichung der Prager
Zeitung Bohemia2 bekannt wurde, brachten die deutschen
Abgeordneten im Prager Senat eine Interpellation3 an den damaligen Außenminister
[19] Dr. Eduard Benesch ein, in der sie Auskunft
über die Echtheit dieses Dokumentes erbaten. In seiner Antwort vom 13.
Mai 1921 gab Dr. Benesch bekannt, daß das Dokument echt und
richtig wiedergegeben sei.
Die im Memoire III niedergelegten und ähnlichen Versprechen wurden von
tschechischer Seite seit Bestand des Staates bei vielen Gelegenheiten wiederholt.
Vor internationalem Forum in Genf erklärte der tschechische
Außenminister, "daß in der Tschechoslowakei das
Nationalitätenproblem mustergültig gelöst worden sei".
Im Zeichen der humanitären Demokratie gäbe es keine
Unterdrückung, sondern nur Gleichberechtigung.
Die rauhe Wirklichkeit im Staate spricht eine andere Sprache!
Von den gemachten Versprechungen ist keine erfüllt und gehalten worden.
Die in den Friedensverträgen garantierten Minderheitenrechte werden
täglich verletzt und vergewaltigt, die in Aussicht gestellten
demokratischen "Freiheiten" erfahren nur eine einseitige Anwendung und die
vielgepriesene tschechische Humanität entpuppt sich als das System eines
rücksichtslosen Vernichtungswillens. Die Hilferufe aus den
sudetendeutschen Notstandsgebieten, die sich im Auslande nicht mehr
unterdrücken lassen, haben die Aufmerksamkeit auf die inneren
Verhältnisse in der Tschechoslowakei gelenkt, die von den tschechischen
Stellen im Auslande stets im Lichte strahlender demokratischer Ordnung
geschildert wurden. Eine Fahrt durch die sudetendeutschen Grenzgebiete entrollt
ein schreckliches Bild der Zerstörung und zeigt zugleich die
tschechoslowakische Demokratie ohne Maske in ihrer ganzen Brutalität.
Im vorliegenden Buch soll nun aufgezeigt werden, über welchen
wirtschaftlichen Besitzstand das Sudetendeutschtum bei seiner Einverleibung in
den tschechoslowakischen Staatsverband verfügte, wie
planmäßig die Tschechen an seiner Zerstörung arbeiteten und
wie sich der tschechische Wirtschaftskrieg im Sudetendeutschtum auswirkt.
Es soll gezeigt werden, daß die wirtschaftliche Not des
Sudetendeutschtums einzig und allein eine Folge seiner unverschuldeten
nationalen Not ist. Bei der Fülle und Vielgestaltigkeit des behandelten
Stoffes ergibt es sich von selbst, daß das Buch keinen Anspruch auf
Vollständigkeit in der Darstellung erheben kann. Die Unterlagen
hierfür bilden, sofern es nicht notwendig war, wissenschaftliche
Abhandlungen heranzuziehen und zu verwerten, Veröffentlichungen des
Statistischen Staatsamtes in Prag, Reden deutscher und tschechischer
Regierungsmitglieder und Regierungsabgeordneter, Eingaben und
Situationsberichte wirtschaftlicher Körperschaften und die Tagespresse
aller Parteischattierungen, wobei noch ausdrücklich bemerkt ist, daß
die strenge tschechoslowakische Pressezensur unrichtige oder
übertriebene Angaben nicht duldet, wodurch also vollste
Objektivität in der Darstellung gewährleistet ist!
Berlin, Ende 1936.
Kurt Vorbach.
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